Nach der Bundestagswahl - Niemand übernimmt Verantwortung

Kisslers Konter: Die größten Niederlagen in der Bundestagswahl fuhren die Volksparteien ein. Doch anstatt innezuhalten und zu analysieren, was schief gelaufen ist, machen sie weiter wie zuvor. Um das Prinzip Verantwortung steht es schlecht – nicht nur in der Politik

Das parteiübergreifende Wiegenlied lautet: Mund abputzen, Krönchen richten, weitermachen, immer weiter, nie zurück / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Diese Bundestagswahl war ein Scherbengericht für CDU, CSU und SPD. Zu Bruch ging, was Volkspartei war und so immer noch heißt. Doch statt sich die Überreste anzuschauen und aus deren Unvollkommenheiten zu lernen, werden die Scherben unter den Teppich der Normalität gekehrt. Ganz rasch, ganz professionell geht das. Wo eben noch eine Wahlschlappe war, ist ein Postenbesetzungsverfahren im Gang. Selbstkritik kleidet sich in Selbstgerechtigkeit oder Wählerbeschimpfung, zur Wahlanalyse laden die Gremien in ihren nächsten Sitzungen, irgendwann zwischen Volkstrauertag und Silvester, hinter verschlossenen Türen. Das parteiübergreifende Wiegenlied lautet: Mund abputzen, Krönchen richten, weitermachen, immer weiter, nie zurück.

Vom Sankt Martin zum Zwerg Nase

Angela Merkel, die als CDU-Vorsitzende ein Debakel zu verantworten hat, macht ein Gesicht zwischen Majestätsbeleidigung und Republikflucht, ehe sie sich doch, in maximaler Schmallippigkeit, zur Formulierung herablässt: „Ich übernehme die Verantwortung, in Gottes Namen“ – wenn's denn unbedingt sein muss, heißt das, und ihr diesen abgelutschten Satz unbedingt hören wollt.  So spitzt die Prinzessin auf der Erbse den Mund, wenn man sie fragt, wie sie geschlafen habe. Martin Schulz, der als SPD-Vorsitzender ein historisch schlechtes SPD-Ergebnis zu verantworten hat, ist noch immer berauscht von seinem Wahlkampf und von sich und übersieht vor lauter Kraftmeierei, wie sehr er gescheitert ist. Aus Sankt Martin wurde Zwerg Nase. Horst Seehofer, der als CSU-Vorsitzender einen beispiellosen Absturz seiner Partei zu verantworten hat, mag keine Notwendigkeit zu umgehender personeller oder inhaltlicher Veränderung erkennen. Alles könne bleiben, wie es ist: „Ich habe jetzt keinen Grund, eine Neuorientierung vorzunehmen.“  

Auf der Strecke bleibt bei den Spitzenpolitikern Merkel, Schulz und Seehofer jenes Prinzip, das menschliches Handeln erst vernünftig macht, berechenbar und nachhaltig: das Prinzip Verantwortung. Merkel flüchtet in die Routine, Seehofer in die Drohgebärde, die SPD wird ordinär. Schulz reagiert wie ein Rummelboxer nach dem Knockout um Mitternacht: „Klar haben wir eins auf die Schnauze bekommen. Aber wir können Niederlagen einstecken. Die Sozialdemokratie ackert und kämpft.“ Die neue Fraktionsvorsitzende Andrea Nahles kündigt stilkompatibel an, CDU und CSU bekämen nun ordentlich „in die Fresse“.  SPD-Urgestein Johannes Kahrs beschimpft AfD-Parlamentarier als „rechtsradikale Arschlöcher“. 

Verantwortung ist „die Vorbedingung der Moral“

Es steht nicht gut um die Verantwortung als Praxis und Prinzip. Milliarden Euro Steuergelder werden verbuddelt für einen Hauptstadtflughafen, der offensichtlich nie eröffnet werden kann? Kein Ministerpräsident, kein Minister, kein Bürgermeister, kein Aufsichtsrat übernimmt für dieses Versagen Verantwortung. Es sei halt alles hochkomplex – und, muss man hinzufügen, anderer Leute Geld. Die Fahndung nach einem islamistischen Massenmörder läuft völlig schief? Niemand übernimmt Verantwortung nach dem Attentat vom Breitscheidplatz. Und auch im Kleinen: das Geschäft floppt, die Karriere stockt, der Partner bockt? Das muss an den Umständen liegen, an der Gesellschaft, vielleicht an den Genen. Fast niemand ist bereit, die Verantwortung für sein Tun und Lassen zu tragen.

Insofern nährt derselbe brackige Humus die politische Elite und das gesellschaftliche Bodenpersonal. Ihnen allen, uns allen schrieb der Philosoph Hans Jonas mit seinem Hauptwerk „Das Prinzip Verantwortung“ ins Stammbuch: Verantwortung ist „die Vorbedingung der Moral“. Ein „angerichteter Schaden muss gutgemacht werden, auch wenn die Ursache keine Übeltat war, auch wenn die Folge weder vorausgesehen noch beabsichtigt war.“ Damit wir überhaupt moralisch handeln können, müssen wir uns verantwortlich zeigen. Gerade „der Politiker, der nach der Macht strebt,“ müsse seine Macht für diese Menschen einsetzen, über die er Macht hat. Der gute, der verantwortliche Politiker wisse, dass er drei Instanzen verpflichtet ist: den Ahnen vor ihm, den Zeitgenossen um ihn, den Zukünftigen nach ihm. Wer von diesem Bewusstsein durchdrungen ist, der kann nach keinem Wahldebakel, keiner Baukatastrophe, keinem Ermittlungsskandal seine Hände in Unschuld waschen. Wenn niemand verantwortlich ist, wird alles egal.

Anzeige