Nach der Bundestagswahl - „Da hat sich Unmut aufgestaut“

Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff plädiert für eine gesteuerte Migration, die konsequente Durchsetzung des Rechtsstaates sowie dafür, der AfD nicht die Themen zu überlassen, und steht damit ziemlich allein in der CDU. Ein Gespräch mit Cicero-Chefredakteur Christoph Schwennicke

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„Wir im Osten leben für die Demokratie und wir reagieren sehr sensibel, wenn wir diese Errungenschaft in Gefahr sehen“ / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Herr Haseloff, was macht die CDU zu Ihrer politischen Heimat?
Ich bin über das „C“ zur CDU gekommen, über das christliche Menschenbild dieser Partei, das hat mir als Katholiken in der Diaspora im lutherischen Wittenberg immer Halt gegeben. 

Ist das „C“ noch groß genug in der CDU?
Das ist eine Frage an die gesamte Gesellschaft. Der Säkularisierungsprozess, der sich in der DDR unter dem Druck einer Diktatur, die atheistisch geprägt war, vollzog, setzt sich nun auch in der Bundesrepublik fort.

Können Sie nachvollziehen, dass sich Menschen, denen das Konservative wichtig ist, zunehmend weniger heimisch fühlen in der CDU?
Ich komme ja eher vom sozialen Flügel der Partei. Trotzdem würde ich mich als wertkonservativ bezeichnen. Was zum Beispiel konkret heißt, dass ich bei den Themen Ehe, Familie und eheliche Treue traditionelle Wertvorstellungen habe.

Dann hat Ihnen sicher nicht gefallen, dass Ihre Parteivorsitzende die „Ehe für alle“ kurz vor der Bundestagswahl im Schnelldurchgang eingeführt hat, nur um ein Thema abzuräumen?
Ich stehe ganz klar auf der Basis des Bundesverfassungsgerichts und seines Urteils von 2012. Demnach ist die Ehe gemäß Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz der Verbindung zwischen Mann und Frau vorbehalten. Ich muss aber zur Kenntnis nehmen, dass nunmehr ein zweiter Ehebegriff eingeführt wurde, der über das Bürgerliche Gesetzbuch definiert ist. Da steht in der Gesellschaft ein Widerspruch im Raum, der nach meinem Dafürhalten deutlicher aufgelöst werden muss. Wahrscheinlich vom Bundesverfassungsgericht. 

Halten Sie das Gesetz für verfassungsfest?
Gesellschaftliche Entwicklungen spiegeln sich immer auch im Wertefundament des Verfassungsgerichts wider. Deshalb wage ich da keine Prognose. Ich kann dem allerdings meine eigenen Wertvorstellungen gegenüberstellen und sie in meiner Familie und in meiner Ehe mit Freude praktizieren. Nur über das Gelingen des Lebens in dieser Form wird es möglich sein, dafür zu werben.

Sie hätten aber nichts dagegen, wenn die Frage, ob die Einführung der „Ehe für alle“ nicht mit einer Grundgesetzänderung einhergehen müsste, noch einmal geprüft wird in Karlsruhe?
Nach meinem Verfassungsverständnis ist es so, dass dieses neue Gesetz als ein Widerspruch im gesellschaftlichen Raum steht. Aufgrund der gesellschaftlichen Bedeutung des Themas muss dieser Widerspruch aufgelöst werden. Also: ja. 

Viele konservative Christdemokraten hadern mit ihrer Partei. Sie sagen: „Ich will meine CDU wiederhaben“, und sie meinen damit die CDU vor Angela Merkel. Können Sie das nachvollziehen?
Die Frage ist doch, warum haben diese Parteimitglieder nicht versucht, den Kurs der Partei zu prägen. Es reicht nicht, am Rande zu stehen und sich etwas nur zu wünschen. Ich muss die Partei selber gestalten. Wir haben bei uns in der Landes-CDU auch einen konservativen Kreis. Das sind Leute, die muss man ernst nehmen. Denn die CDU lebt von der Vielfalt der Meinungen und Standpunkte.

Gibt es denn in Ihrer Partei noch diese Vielfalt?
Ja. Ich bin immer der Gleiche geblieben und viele andere auch.

Politiker wie Sie gibt es in der CDU immer weniger. 
Das liegt nicht an Angela Merkel. Jeder kann schließlich seine Meinung artikulieren und für sie kämpfen. Präsidiumssitzungen sind intern, da dringt nichts konkret nach draußen. Ich vertrete dort immer meine Grundsätze, und zwar nie wetterwendisch. Ich bin deshalb noch nie unfair behandelt worden. Das gebietet der gegenseitige Respekt. Diesen Respekt gegenüber Andersdenkenden bringt auch Angela Merkel auf. Deshalb sage ich ganz klar: Es ist gut, dass wir sie haben. Und es liegt an jedem selber, sich mit seiner abweichenden Meinung ausreichend Gehör zu verschaffen. Eine Wettbewerbsgesellschaft macht vor einer Partei nicht Halt.

Wettbewerb setzt Chancengleichheit voraus. Gibt es diese noch, wenn Merkel die CDU nach links ausrichtet und die alte Doktrin von Franz Josef Strauß, rechts der Union dürfe es keine demokratisch legitimierte Partei geben, auf Anraten ihres Hausdemoskopen aufgibt? 
Sie spielen auf den Wahlforscher Matthias Jung an. Mit ihm haben wir im Präsidium nach den drei Landtagswahlen im Frühjahr diskutiert. Ich habe mich dabei ganz dezidiert gegen seine These gewandt. Ich kann doch nicht 12,6 Prozent der Wähler im Bund, in einigen Bundesländern sogar deutlich mehr, schlicht und einfach einer Rechtsaußenpartei überlassen. Die meisten Wähler von denen gehören eigentlich nicht zur AfD. Diese Wähler dürfen wir nicht aufgeben und dieser Partei überlassen. 

Ihr Widerspruch hat aber keinen Erfolg gehabt. Denn genau das ist die Folge der Jung-Doktrin.
Ich werde weiter gegen diesen Ansatz kämpfen. Sicher, es gibt da ein europäisches Phänomen, das in anderen Ländern noch viel stärker ausgeprägt ist. Aber gerade aufgrund unserer Geschichte kann uns das nicht ruhen lassen. Die Leute müssen wieder zurückgeholt werden. Dazu müssten wir übrigens nicht einen, nicht einen einzigen Millimeter irgendwohin rücken, sondern wir müssen einfach die zwei Lungenflügel, die der Organismus einer Volkspartei hat, vollpumpen, wieder abbilden in den Gremien und im Personal. 

Heißt das, die CDU sollte mehr Sebastian Kurz wagen?
Österreich ist nicht vergleichbar mit Deutschland. Aber wir müssen die Themen, die viele Wähler umtreiben, aufnehmen, ernst nehmen. Und da steht die Migration ganz oben. Wir brauchen keinen Rechtsruck, wir brauchen den Rechtsstaat, wir brauchen eine klare Umsetzung des geltenden Rechts. Das ist verfassungsrechtlich alles sehr sauber im Artikel 16 a Grundgesetz geregelt. Und weil wir mit dem Schengen-Abkommen die Grenzen innerhalb Europas abgebaut haben, müssen wir logischerweise die Ressourcen nach außen geben, um Europas Grenzen zu schützen. Nur so können wir verhindern, dass in nicht unerheblichem Umfang eben auch Migration ins Sozialsystem stattfindet.

Wie vertritt man solche Positionen, ohne sich den Vorwurf einzufangen, der AfD das Wort zu reden?
Ich empfehle zunächst, auf die Wortwahl zu achten und keine ressentimentgeladenen Untertöne anzuschlagen. So können wir als Demokraten glaubwürdig bleiben. Zugleich dürfen wir die Lage nicht schönreden und Probleme nicht bagatellisieren. Wir müssen sie als große Volkspartei angehen. Dazu gehört gerade auch die innere Sicherheit. Die Kriminalstatistik zeigt da klare Befunde. 

Ist Merkels Flüchtlingspolitik bei der Bundestagswahl abgewählt worden?
Das ist mir schon deshalb zu pauschal, weil sich ihre Politik 2015 und danach deutlich unterschieden.

Das sage nicht ich, sondern die sächsische CDU.
Noch einmal ganz in Ruhe und unmissverständlich: Ohne CDU und CSU kann keine Regierung gebildet werden, das ist ein Erfolg von Angela Merkel. 

Die Union hat so schlecht abgeschnitten wie zuletzt 1949 …
Aber die Deutschen trauen es ihr weiterhin am ehesten zu, die Dinge zu lösen, die anstehen. 

Das macht das Ergebnis der Bundestagswahl nicht besser.
Ich räume selbstkritisch ein: Wir hätten im Wahlkampf deutlicher Position beziehen müssen, etwa in der Frage des Familiennachzugs von Flüchtlingen. Da haben sich zu viele potenzielle Wähler der CDU gedacht: Wenn das nicht klar ist, seid ihr für mich keine Option. Dazu hat es nach 2015 Zweifel gegeben an der Funktionsfähigkeit des Staates. Die Deutschen müssen darauf vertrauen können, dass der Staat Kontrollverluste vermeidet, dass er die Migration steuert, die Verfassungsgrundsätze exekutiert und die Integrität seines Staatsgebiets sichert. Für alle diese Dinge ist die Bundesregierung zuständig, und da hat sich in den vergangenen zwei Jahren berechtigterweise mancher Unmut aufgestaut. 

Nach der Bundestagswahl gab es ein gängiges Erklärungsmuster: Die Bevölkerung im Osten hat das mit der Demokratie noch nicht richtig begriffen und deswegen so viel AfD gewählt.
Es ist genau umgedreht. Wir Ostdeutschen haben uns die Demokratie selber erkämpft. Wenn die Bedingungen anders gewesen wären, wäre die Demokratiebewegung in der DDR von den Kommunisten als Konterrevolution niedergeschlagen worden. Wir im Osten leben für diese Demokratie und wir reagieren sehr sensibel, wenn wir diese Errungenschaft in Gefahr sehen. Für mich ist viel alarmierender, dass es auch im reichen Westen hohe Zustimmungswerte für die AfD gegeben hat. Das zeigt, wie fragil auch dort die Demokratie trotz eines enormen Wohlstands ist. Aber jenseits aller Ost-West-Diskussionen muss die Union zur Kenntnis nehmen, dass bestimmte Entscheidungen der Bundesregierung in der Flüchtlingspolitik als illegitim, als nicht gewollt und nicht rückgekoppelt mit den Wählern wahrgenommen wurden. Gegen eine Ausnahmesituation von 48 Stunden am 4. und 5. September 2015 hätte niemand etwas gesagt. Aber der lange Zeitraum danach war definitiv problematisch. 

Sie sind Ministerpräsident eines Bundeslands. Können Sie mir erklären, warum der Ministerpräsident eines anderen Bundeslands für ein Bundestagswahlergebnis zurückgetreten ist?
Das ist eher unüblich. 

Ist es ein Stellvertreterrücktritt?
Über seine Motive kann nur Stanislaw Tillich selber Auskunft geben. Er hat 27 Jahre lang die Transformation in Ostdeutschland miterlebt und mitgesteuert. Bei ihm wird auch die Überlegung eine Rolle gespielt haben, den Staffelstab in Sachsen autonom und im richtigen Moment weiterzureichen. 

Apropos Staffelstab, viele in Ihrer Partei wünschen sich, dass allmählich klar wird, wer Angela Merkel nachfolgen soll.
Jeder Politiker in unserem Alter weiß um seine Verantwortung für die Sicherung der politischen Kontinuität in Amt und Partei. Sie können davon ausgehen, dass gerade die Bundeskanzlerin dies voll im Blick hat. 

Wen wünschen Sie sich? 
Die CDU ist eine große Volkspartei und hat ein gutes Reservoir an Leuten, die da infrage kommen. 

Der Christdemokrat Reiner Haseloff (63) ist seit 2011 Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt. Seit 2016 regiert er in einer Kenia-Koalition zusammen mit SPD und Grünen. Der promovierte Physiker arbeitete in der DDR von 1978 bis 1990 am Institut für Umweltschutz in Witten­berg. Bevor er in die Politik wechselte, war er von 1992 bis 2002 Direktor des dortigen Arbeitsamts.

 

 

Dies ist ein Artikel aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Onlineshop finden.

 

 

 

 

 

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