Mögliche Parteienkoalitionen - Wir sollten unsere Schutzräume verteidigen

Zahlenspiele bringen uns bei der nächsten Regierungsbildung nicht weiter. Stattdessen sollten wir fragen, bei welchen Parteien verantwortungsvolle Bereiche am besten aufgehoben sind, schreibt der frühere Regierungssprecher Klaus Vater in seiner Replik auf Alexander Grau

Eine Kita in Düsseldorf: unverzichtbarer Schutzraum / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Klaus Vater (SPD, *1946) war stellvertretender Regierungssprecher der Großen Koalition im Jahr 2009. Zuvor war er Sprecher von Bundesarbeitsminister Walter Riester und Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt. Heute ist er Krimiautor und Beirat der Kommunikationsagentur Advice Partners.

So erreichen Sie Klaus Vater:

Anzeige

Alexander Graus Grauzone mit dem Titel: „Auf dem Weg nach Jamaika“ führt in die Irre. Denn sie bietet weder eine sachliche Begründung für eine sogenannte Jamaika-Konstellation mit CDU/CSU, den Grünen und der FDP – noch eine Erklärung, warum dieser Zusammenschluss eine halbwegs sichere Mehrheit erreichen könnte. Nach heutigen Umfragen sieht es bezogen auf die Jamaika-Mehrheit so aus: 33 Prozent für die CDU/CSU – sofern die bayerische Regionalpartei das mitmachen würde – 10 Prozent für die Grünen und 6 Prozent  für die FDP – macht 49 Prozent. Alles darüber Hinausgehende ist ein reiner Hoffnungswert.

Beliebteste Konstellation in der Wählerschaft ist immer noch mit knapp unter 50 Prozent die zwischen SPD und CDU/CSU, gefolgt von einer Koalition zwischen der Union und den Grünen einige Prozentpunkte darunter. Rot-Rot-Grün ist hingegen abgeschlagen. Ob sich das noch gewaltig ändert, ist unklar. Jedenfalls ist es sehr verwegen, zu sagen, „die große Koalition hat fertig“, wenn die Hälfte der Bevölkerung diese Zusammensetzung immer noch favorisiert.

Vielleicht kommen wir alle der Frage, wer 2017 mit wem koalieren sollte, sehr viel näher, wenn wir uns einer anderen Systematik bedienen. In meiner Systematik nimmt das Wort „Schutzraum“ eine zentrale Rolle ein. So lautet die erste Frage: Wer bewahrt unsere Schutzräume am besten? Und die zweite: Wer bietet mit wem zusammen die größten Chancen, einige Kardinalprobleme zu beheben oder zumindest diese Probleme auf Abstand zu halten?

Die fünf Schutzräume

Ich betrachte die EU immer noch als den großen Schutzraum nach der jahrhundertelangen und kriegerischen, durch Misstrauen und Hass geprägten Geschichte Europas. Und da lautet meine erste Frage heute: Welche Parteien/Fraktionen-Konstellation ist am ehesten in der Lage, einem Rechtsruck in Deutschland und in Europa wirksam entgegen zu treten? Ich will einen kleinen Hinweis geben: Nach aller Erfahrung gelingt das am besten, wenn die stärkste bürgerlich-politische Kraft mitmacht.   

Die zweite Frage bezieht sich auf Kindergarten und Schule, die ich ebenfalls für unverzichtbare Schutzräume halte. Wer kann am besten dafür sorgen, dass diese Schutzräume noch sicherer werden, so dass sie ihre vollen Kräfte aufbauen können, damit Kinder und Jugendliche ein Höchstmaß an exzellenter Unterrichtung und Chancengerechtigkeit haben? Auch hier will ich einen kleinen Hinweis geben: Eine der Jamaika-Parteien ist – jedenfalls in Teilen – für einen Notendurchschnitt von 2 als Voraussetzung dafür, ein Gymnasium besuchen zu dürfen.

Der dritte Schutzraum, das sind für mich die vielen Bildungs-, Ausbildungs- sowie Qualifizierungs- und Arbeitsmöglichkeiten der Menschen mit Behinderung sowie deren Lebensverhältnisse und Integrationsmöglichkeiten. Sechs Millionen Menschen sind davon in Deutschland betroffen. Was ihre Unterstützung angeht, könnten alle Parteien noch zulegen.

Der vierte Schutzraum, das sind die Krankenhäuser und Pflegeheime – also die Orte, an denen sich diejenigen aufhalten müssen, die im Augenblick oder auf Dauer auf die Hilfe anderer angewiesen sind.

Der letzte und auch größte Schutzraum ist der, den wir als Familie bezeichnen. Wo Menschen zusammenleben, die sich versprochen haben, in guten wie in schlechten Zeiten zusammen zu bleiben, gegebenenfalls Kinder groß zu ziehen und diese mit dem Wissen über ihre Fähigkeiten, ihre Rechte und Pflichten in die Welt zu schicken.

Stützen gegen sprachliche Rohheit und Gewalt

Das Wort Schutzraum mag nach den Jahren des Kalten Krieges keine Begeisterung hervorrufen. Damals gab es eine merkwürdige Raumhuberei. Die Menschen sollten glauben, sich mit einfachen Schutzräumen gegen Atombomben schützen zu können. Nichts war in diesem Zusammenhang entlarvender als der Film „When the Wind blows“ von Raymond Briggs mit den Figuren Hilda und Jim Bloggs. Ein Rentnerehepaar, das nach einem Atombombenabwurf über London glaubt, sich durch die Anwendung von Regierungsempfehlungen („Protect and Survive“) schützen zu können, aber elendig zugrunde geht.

Doch heute, in einer Zeit ungeheuren Veränderungstempos, ist das anders. Es ist für den Einzelnen wie für die Gesellschaft überlebenswichtig, sich der Schutzräume bewusst zu sein und diese Räume zu verteidigen. Sie sind unsere wichtigsten Stützen gegen wachsende Rohheit im sprachlichen Umgang, gegen illegitime Gewalt im öffentlichen Raum und gegen jene, die unsere Institutionen durch eine Art Putin-Bonapartismus drängen wollen.

Anzeige