Missbrauch und Misshandlung - „Wir dürfen Kinder nicht einfach so in Obhut nehmen“

Tausende Kinder werden Opfer von Gewalt. Längst nicht nur im Missbrauchsfall in Lügde fragen viele, ob Jugendämter genug tun. Was fehlt an Prävention? Warum misshandeln Eltern ihre Kinder? Wann sollte man einen Verdacht melden? Antworten von der stellvertretenden Leiterin des Jugendamts Neukölln

Lernmaterial in einer Grundschule: Auch Kinder sollten ihre Rechte kennen / picture alliance
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Autoreninfo

Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Katrin Dettmer ist stellvertretende Jugendamtsleiterin und Kinderschutzkoordinatorin im Jugendamt Neukölln in Berlin.

Frau Dettmer, laut polizeilicher Kriminalstatistik zu kindlichen Gewaltopfern sind in Deutschland letztes Jahr 136 Kinder getötet worden, mehr als 4.100 wurden misshandelt und mehr als 14.000 sexuell missbraucht. Scheitert die Prävention?
Zahlen sind schwierig. Das sind nur die Fälle, die verurteilt worden sind. Wir müssen mit einer weitaus höheren Anzahl von Kindern rechnen, die Misshandlung, Missbrauch, Vernachlässigung erfahren. Und ich halte „scheitern“ für einen harten Begriff, denn wir wissen nicht, wie viele Kinder gerettet worden sind. Wir wissen nicht, wie viele Kinder wir in Beratung haben, wo wir zumindest verhindern konnten, dass es zu weiterem Missbrauch, Misshandlung oder Vernachlässigung kommt. Bei den Todesfällen müssen wir auch sehr genau unterscheiden. Es gibt deutlich weniger Todesfälle von Kindern, bei denen das Jugendamt involviert war. Aber es kommt natürlich auch vor. Und es ist jedes Mal hochtragisch.

Die Pädagogik-Professorin Kathinka Beckmann sagt, die Zahlen seien auch deswegen so hoch, weil die Jugendämter personell und finanziell nicht gut genug ausgestattet werden. Wie sehen Sie das?
Die Zahl der Kinder unter 15 Jahren, die durch einen tätlichen Angriff zu Tode gekommen sind, ist in den letzten 20 Jahren bundesweit um zwei Drittel gesunken. Das ist zunächst eine gute Entwicklung. Frau Beckmann hat sicherlich eine sehr interessante Untersuchung unternommen und man sollte nie vergessen, dass das Jugendamt noch weitaus mehr Aufgaben hat. Wir haben nicht nur den Schutzauftrag für Kinder vor Kindeswohlgefährdung. Wir haben den ganzen großen Bereich der Erziehungsberatung, der Einleitung von Jugendhilfemaßnahmen, der familiengerichtlichen Mitwirkung. Ich glaube, dass der Fachkräftemangel ein großes Problem in allen Bereichen darstellt. Inhaltlich versuchen wir den Kinderschutz immer noch vorne anzustellen, er hat bei uns Priorität. Natürlich machen wir auch Fehler und wir machen sie erst recht, wenn wir schlecht ausgestattet sind oder wenn wir zu wenig Kollegen haben. Aber andere Aufgabengebiete im Jugendamt leiden deutlich mehr.

Worauf ist dieser Fachkräftemangel zurückzuführen?
Ich glaube, dass es da mehrere Faktoren gibt. Zum einen vollzieht sich im Moment ein gewaltiger Generationswechsel. Sodass wir für die ganzen Mitarbeiter, die in Rente gehen oder gegangen sind, jetzt gar nicht so schnell wieder neue Leute einstellen können. Insgesamt ist die Nachfrage nach Sozialarbeiterinnen im Moment höher als wir ausgebildete Kolleginnen haben. Das hat sicher auch etwas mit der Flüchtlingswelle zu tun, die noch einen großen zusätzlichen Bedarf an Sozialarbeitern geschaffen hat. Viele der Kolleginnen haben das Gefühl, dass die Bezahlung nicht im Einklang steht mit dem, was wir an Verantwortung und gesellschaftlichem Auftrag haben.

Greift Kinderschutz nur in absoluten Krisensituationen?
Wir sind in allen Bereichen tätig und Kinderschutz beginnt nicht erst in der akuten Krise. Unser Ziel ist es, die Krise gar nicht erst entstehen zu lassen. Dieser präventive Kinderschutz ist ein wichtiger Teil der Arbeit im Jugendamt. Es ist grundsätzlich so, dass der regionale sozialpädagogische Dienst des Jugendamtes jeder Meldung nachgeht. Jede Meldung wird von mindestens zwei Kollegen geprüft. Wir schätzen dann ein: Müssen wir sofort los? Müssen wir innerhalb von zwei Stunden los oder können wir vielleicht auch am nächsten Tag losgehen? Wir müssen dann zusammen mit der Familie überprüfen: Was ist dran? Was braucht es, um – falls eine Kindeswohlgefährdung vorliegt – die Familie zu stabilisieren? Wir müssen Hilfen anbieten.

Katrin Dettmer

Warum misshandeln Eltern ihre Kinder?
Wenn Eltern misshandeln, tun sie es in der Regel nicht, weil sie sadistisch sind. Das kommt äußerst selten vor. Meist sind sie überfordert mit der Situation, den Kindern. Dann gibt es ein erstes Schutzkonzept. Wir müssen überlegen, welche Hilfen wir einsetzen und wie wir das begleiten. Wenn man keine guten Vorbilder hatte, was Kindererziehung angeht, wenn die ganze Lebenssituation von Armut, von Verzweiflung, von Trennung, von sozialer Isolation geprägt ist, dann dauert es lange, bis man neue Muster entwickeln kann. Das müssen wir begleiten.

Wie reagieren Eltern, wenn plötzlich das Jugendamt vor der Tür steht?
Die meisten haben schon Angst. Die meisten Eltern haben gehört, dass das Jugendamt Kinder wegnimmt. Sie wissen aber nicht, dass das Jugendamt eigentlich kein Interesse hat, Kinder wegzunehmen, sondern nur ein Interesse daran hat, dass die Kindeswohlgefährdung aufhört. Es ist uns deutlich lieber, wenn wir das gemeinsam mit den Eltern schaffen und die Kinder zu Hause bleiben können. Aber es geht immer erst mal darum, aus der ersten Angst, aus der ersten Abwehr eine Arbeitsbeziehung aufzubauen. Es braucht auch Vertrauen in Eltern, damit sie sich ändern können. Wir müssen verstehen, wie die Situation ist. Wir müssen mit jeder Familie erarbeiten, was die Risikofaktoren, was die Gründe sind. Und was sie tun können, damit es künftig nicht mehr dazu kommt.

Ein paar blaue Flecken sind gerade bei wilderen Kindern nicht unbedingt etwas Ungewöhnliches. Ab wann ist es geboten, einen Verdacht zu melden?
Ich glaube schon, dass Sie als Nachbar, als Freund oder als Bekannter ein Gefühl dafür kriegen, ob das die Stellen sind, an denen sich Kinder oft verletzten. Knie, Stirn, Hand sind so die üblichen Verletzungsgeschichten. Po, Rücken, Oberarme sind eher unwahrscheinlich. Und ganz oft geben die Kinder auch Signale. Sie bekommen ja mit, wie die Eltern reagieren, wenn Sie sie zum Beispiel ansprechen: „Was ist das denn für ein blauer Fleck?“ Viele melden sich, wenn in der Nachbarwohnung ständig geschrien wird und es ein Schreien ist, das Kindern Angst macht. Oder bei häuslicher Gewalt,  was auch ganz massive Auswirkungen auf Kinder hat. Also da gibt es schon einiges, was Nachbarn und Bekannte melden sollten. Grundsätzlich gilt: lieber einmal zu viel melden, als zu wenig. Wir haben in Neukölln viele Meldungen, die sich letztlich als unbegründet herausstellen. Das nehmen wir aber gerne in Kauf und fahren lieber drei Mal zu einer Fehlmeldung, als dass wir eine Familie nicht unterstützen können.

Wie schlimm muss ein Kind gefährdet sein, damit es aus der Familie genommen wird?
Oft gibt es einen sehr langen Vorlauf. In der Regel sprechen wir natürlich mit den Eltern. Wir sprechen auch mit den Kindern, wenn wir das können. Wenn es Misshandlungsspuren gibt, kann es auch sein, dass wir Ärzte einschalten, weil auch wir nicht immer abschätzen können, welche Art von blauer Fleck das ist. Ist das eine Bisswunde von einem anderen Kind oder ist das eine Bisswunde von einem Erwachsenen? Wir haben in Neukölln dafür eine Kinderschutzambulanz am Klinikum, mit der wir sehr eng zusammen arbeiten.  Unser Ziel ist es, dass wir Kinder nicht aus der Familie nehmen müssen. Wenn wir es dann doch tun, dann sind wir oft überzeugt, dass eine Misshandlung, Vernachlässigung oder Missbrauch vorliegt und die Eltern überhaupt nicht bereit sind, mit uns zusammenzuarbeiten. Dann müssen wir das beim Familiengericht auch sehr gut begründen können.

Wie läuft das in so einem Fall dann ab?
Wir dürfen Kinder nicht einfach so in Obhut nehmen und dann sind sie weg. Das dürfen wir nur in einer ganz akuten Gefährdung. Dann müssen wir davon ausgehen, dass am gleichen oder am nächsten Tag eine weitere Misshandlung oder ein Missbrauch stattfindet. Wenn die Eltern nicht einverstanden sind, müssen wir sofort ans Familiengericht gehen. Wenn die Gefährdung eher chronisch und nicht akut ist, dann würden wir zuerst einen Antrag ans Familiengericht stellen. Das Familiengericht wird auch noch mal mit uns gemeinsam und mit der Familie prüfen: Haben wir ausreichend Verdachtsmomente? Wie können wir uns sicher sein? Und ein Kind wird erst dann herausgenommen, wenn zweifelsfrei feststeht, dass eine Misshandlung vorgelegen hat und auch weiter passieren wird. Das ist immer das letzte Mittel.

Mit Blick auf eine bessere Prävention: Was würden Sie sich von Politikern für eine Unterstützung wünschen oder sind sie mit dieser zufrieden?
Wir können nie zufrieden sein. Wir tun gut daran, die Aufklärungsarbeit weiter zu machen. Kinder müssen wissen, welche Rechte sie haben, damit sie auch ein Sprachrohr haben. Wir tun gut daran, uns weiter zu vernetzen mit Schulen, mit Kitas, mit allen möglichen Partnern. Wir brauchen Ressourcen, um immer wieder miteinander ins Gespräch zu kommen. Damit wir alle achtsam sind und auch die Signale von Kindern gut wahrnehmen können. Wir müssen immer wieder Fortbildungen machen, wir müssen immer wieder neu ansetzen. Und dann brauchen wir natürlich eine grundsätzlich bessere personelle Ausstattung, damit wir allen Aufgaben gerecht werden, die wir haben.

„Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Und sie kritisieren, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden.

Wir nehmen diesen Vorwurf sehr ernst. Deswegen gibt es auf Cicero Online eine Serie, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird.

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