Ministerpräsidentenkonferenz - Booster-Pflicht durch die Hintertür

Beim heutigen Treffen der Ministerpräsidenten mit Bundeskanzler Olaf Scholz wurden die ohnehin komplexen und unübersichtlichen Corona-Regeln noch ein bisschen komplexer und unübersichtlicher gemacht. Wissenschaftliche Evidenz für die neuen Maßnahmen gibt es kaum.

Immer auf den Abstand achten: Bundeskanzler Olaf Scholz und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey heute in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Wer sich einmal die Mühe macht, bei Google die Phrase „Alle Corona-Regeln auf einen Blick“ einzugeben, der wird früher oder später auf einer Seite des Landes Baden-Württemberg landen. Dort wird er eine PDF-Datei öffnen können und sich hernach verdutzt die Augen reiben. „Auf einen Blick“, das bedeutet mittlerweile elf bedruckte Seiten Papier mit unzähligen Tabellen, Symbolen, farbigen Erklärtexten, Fußnoten und Einteilungen in Basisstufen, Warnstufen, Alarmstufen sowie Alarmstufen zweiten Grades. 

Und damit nicht genug. Beginnt man erst, sich wachen Auges durch die einleitenden Sätze zu lesen, wird man bald entnervt aufgeben und sich eingestehen müssen, dass selbst die Spielanleitungen für „Risiko“ oder „Spiel des Lebens“ weit besser zu verstehen sind als all die kleinen Regeln und Verordnungen, die Bund und Länder sehr emsig und in mittlerweile kaum noch zu zählenden Diskussionsrunden hinter verschlossenen Türen zu Papier gebracht haben. 

Witze über die Staatliche Plankommission im Ministerrat der DDR

Beispiel aus Baden-Württemberg gefällig? „Die Warnstufe wird ausgerufen, wenn die Hospitalisierungsinzidenz an zwei aufeinanderfolgenden Tagen den Wert von 1,5 erreicht oder überschreitet oder die Auslastung der Intensivbetten in Baden-Württemberg den Wert von 250 erreicht oder überschreitet. Für nicht geimpfte oder nicht genesene Personen gelten in einigen Bereichen bei 3G eine PCR-Testpflicht sowie Kontaktbeschränkungen von 1 Haushalt + 5 weitere Personen (siehe Ausnahmen).“ 

So oder ähnlich begannen früher Witze über die einstige Staatliche Plankommission im Ministerrat der DDR; zur effektiven Bekämpfung einer Pandemie am Übergang zur endemischen Situation sind diese kryptischen Wortketten vermutlich weniger geeignet. Die baden-württembergischen Corona-Regeln sind übrigens vom 27. Dezember 2021, mithin gerade einmal zwei Wochen alt. Sollten Mitarbeiter der Ordnungsämter, der Polizei oder der Gesundheitsbehörden in der Zwischenzeit tatsächlich das Wunder vollbracht haben, die Summe der unzähligen Regeln und ihrer Ausnahmen dechiffriert, ja gar verinnerlicht zu haben, so werden sie mit dem heutigen Tag an eine neue Stufe ihres Könnens geführt. 

Weitere Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen

Denn heute gegen 13 Uhr hatten sich die Ministerpräsidenten der Länder zusammen mit Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) zu einer weiteren Video-Schalte verabredet, um das ohnehin schon vollkommen unübersichtliche Regelchaos in den deutschen Corona-Politik an die aktuelle pandemische Lage im Angesicht von Omikron anzugleichen. Und was das hieß, das war eigentlich schon klar, noch bevor der derzeitige Vorsitzende der Ministerpräsidentenkonferenz, Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU), zur ersten Sprechprobe vor seinem Computer Platz nahm: Auf der Tagesordnung des insgesamt zwei Stunden währenden virtuellen Treffens der Bund- und Länderchefs standen weitere Quarantänemaßnahmen und Einschränkungen – darunter Kontaktbeschränkungen sowie höhere Zutrittsschwellen für Kneipen, Cafés, Restaurants und Gaststätten. 

Willkommen also im neuen Level von „Kampf gegen Corona“! Denn es kam natürlich, wie es kommen musste: Das Regelwerk ist noch einmal partiell verschärft, in jedem Fall aber noch komplexer geworden. So sollen künftig Kontaktpersonen, die einen vollständigen Impfschutz durch die Boosterung vorweisen, von der Quarantäne ausgenommen sein. Für alle Übrigen endet die Quarantäne nach zehn Tagen, es sei denn, sie sind Beschäftigte im Pflegebereich oder in der Eingliederungshilfe. Dann endet sie bereits nach sieben Tagen. 

Gegen den Widerstand der Hoteliers und Wirte

Darüber hinaus müssen jetzt auch Doppeltgeimpfte und Genesene einen tagesaktuellen und negativen Corona-Schnelltest vorweisen, wollen sie fortan noch öffentlich speisen oder Kaffeetrinken gehen. Damit hat sich Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) gegen den Widerstand der Hoteliers und Wirte im Land durchgesetzt, die im Angesicht drohender finanzieller Verluste noch im letzten Moment zu intervenieren versucht hatten. 

Doch alle Gegenrede half nichts: „Die Gastronomie ist ein Problembereich. Da sitzt man ohne Maske oft für Stunden“, hatte Lauterbach schon einen Tag vor der heutigen Sitzung zu Protokoll gegeben und für seine Mahnungen sogar den Beifall von CDU-Ministerpräsidenten eingeheimst: „Für Gastronomie und Kultureinrichtungen halte ich 2G-plus für eine gute Lösung. Und wer geboostert ist, kann auf den Test verzichten“, so meinte etwa Sachsens Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) zu Lauterbachs Vorstoß. 

Impfpflicht eine Entscheidung des Bundestages

Das aber war zunächst auch schon die einzige Einigkeit zwischen CDU und SPD. Denn noch vor dem Bund-Länder-Treffen hatten die unionsgeführten Bundesländer gefordert, man möge zu der bereits im November ausgelaufenen epidemischen Lage von nationaler Tragweite zurückkehren, um bei weiterhin steigenden Infektionszahlen jederzeit handlungsfähig bleiben zu können. Zudem solle ein Zeitplan zur Einführung einer Impfpflicht beschlossen werden. 

Beide Vorstöße indes wurden von Bundeskanzler Scholz abgewiesen. Der machte stattdessen deutlich, dass die Impfpflicht eine Entscheidung des Bundestages und ein Zeitplan somit die Sache des Ältestenrats sei. Blieben also nur die kleinen Verschärfungen im Alltag aller Bürgerinnen und Bürger. Ob die tatsächlich das Infektionsgeschehen wesentlich senken und die Situation in den Kliniken ein Stück weiter entschärfen können? Evidenz für diese Hypothese gibt es kaum. Vielleicht geht es aber auch gar nicht nur um Zugangskontrollen in zwielichtigen Eckkneipen und dunklen Kellerbars, sondern um die Booster-Pflicht durch die Hintertür. Eines zumindest ist mit den heutigen Entschlüssen klar geworden: Die Ungeboosterten von heute sind nun wohl endgültig die Ungeimpften von morgen. 

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