Was plant die Ministerpräsidentenkonferenz? - „Lockerungen wären ein unlogischer Strategiewechsel“

Viele erwarten von der MPK am Mittwoch Lockerungen. Der Epidemiologe Markus Scholz erklärt im Interview, warum diese ein unlogischer Strategiewechsel wären und was wir bei der Pandemie-Bewältigung von anderen Ländern lernen könnten.

In einigen Bundesländern dürfen Gartenbaumärkte wieder öffnen – ein Schritt in die richtige Richtung? /dpa
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Jakob Arnold hospitierte bei Cicero. Er ist freier Journalist und studiert an der Universität Erfurt Internationale Beziehungen und Wirtschaftswissenschaften. 

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Prof. Dr. Markus Scholz arbeitet an der Universität Leipzig am Institut für Medizinische Informatik, Statistik und Epidemiologie.

Herr Scholz, wir sehen aktuell wieder einen langsamen Anstieg der Inzidenzzahlen. Wie ist das beim bisher unveränderten Lockdown überhaupt möglich?

Das liegt an der britischen Variante. Die bisherige Variante geht unter dem Lockdown zurück, die britische Mutation hingegen steigt an. Wir rechnen damit, dass sich dieser Anstieg weiter beschleunigt. Das ist auch in anderen europäischen Ländern so zu beobachten

In Großbritannien selbst gehen die Zahlen nach unten. 

Dort war der Lockdown, etwa mit Ausgangsbeschränkungen bis in den Arbeitsbereich, auch strikter. Wir sprechen in Deutschland immer vom harten Lockdown, aber es geht noch deutlich härter. 

Erleben wir aktuell die dritte Welle?

Wir befürchten es. Es kommt jetzt auf die Gegenmaßnahmen an. Leider kommen die Impfungen zu spät. Auch die Schnelltests werden nicht rechtzeitig implementiert. Sie müssten in die Gesamtstrategie eingebaut werden. Das ist aktuell nicht zu erkennen.

Was meinen Sie damit?

Es reicht nicht, die Tests überall verfügbar zu machen. Positive Fälle müssen dann auch nachverfolgt und in Quarantäne geschickt werden. Ob sich die Leute diesen Maßnahmen dann auch wirklich unterwerfen, ist nicht klar.

Was ist unter diesen Gesichtspunkten von der Ministerpräsidentenkonferenz am Mittwoch zu erwarten?

Die Politik ist derzeit stark getrieben von einem Meinungsumschwung. Die Rufe nach Öffnungen werden immer lauter. Andererseits ist der Spielraum eigentlich nicht sehr groß. Es werden bestimmt einzelne Lockerungen kommen, die wären jedoch ein unlogischer Strategiewechsel. Erst hat man die 35 als Inzidenzwert ausgegeben. Und jetzt, wo wir uns immer weiter von ihr entfernen, korrigieren wir die Ziele. Dass das zu Unverständnis führt, ist klar. Ich denke, am Ende würde sich mehr Ehrlichkeit auszahlen. 

Sie sprechen die 35er Inzidenz an, die Berliner Amtsärzte fordern in diesem Zusammenhang ohnehin, den alleinigen Fokus auf die Inzidenzzahl zu beenden. Haben Sie Recht? 

Die Inzidenz ist nicht das entscheidende Kriterium. Entscheidend ist der R-Wert. Liegt er über längere Zeit 1, sind wir im exponentiellen Wachstum, ist er unter 1, geht die Pandemie zurück. Hohe Inzidenzen können zum Problem werden, wenn die Intensivstationen überlastet werden, aber Aussagen über den Pandemieverlauf liefert nur der R-Wert. Und der ist aktuell deutlich über 1.

Können Sie sich erklären, warum wir dann ständig über die 35er oder 50er Inzidenz reden?

Nein, diese Zahlen waren immer willkürlich. Ein R-Wert über 1 ist auch bei einer 35er Inzidenz beunruhigend. 

Markus Scholz / privat

Sie haben bereits die schleppende Impfkampagne angesprochen. Karl Lauterbach fordert jetzt, weniger Impfdosen für die Zweitimpfung zurück zu halten und mehr Erstimpfungen zu verteilen. Geht das so einfach?

Das ist das Erfolgsrezept von Großbritannien. Sie haben sich über die Herstellerempfehlungen hinweggesetzt und allen erst einmal eine Impfung gegeben und damit hervorragende Ergebnisse erzielt. 

Sie würden diese Strategie unterstützen?

Absolut. Die erste Impfung ist noch kein völliger Schutz, aber es vermeidet viele Infektionen. Bei allen etwas Schutz ist offenbar eine bessere Strategie als wenige mit vollem Schutz.

Reicht der verringerte Schutz aus der ersten Impfung?

Man sollte nicht auf die zweite Dosis verzichten, aber damit Impfungen wirksam sind, muss nicht jede Infektion verhindert werden. Es reicht, die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung so zu reduzieren, dass der R-Wert unter 1 geht. Deswegen geht auch die Diskussion über die Wirksamkeit von AstraZeneca fehl: Eine 70-prozentige Risikoreduktion ist ausreichend, um das Infektionsgeschehen deutlich zurück zu drängen.

Sie haben bereits die Tests und Impfungen angesprochen. Bei der Zahl durchgeführter Tests liegen wir europaweit auf Platz 22. Von den AstraZeneca-Impfdosen liegen hunderttausende ungenutzt herum, während mittlerweile Marokko eine höhere Impfquote hat als wir. Werden wir schlecht regiert?

An der Bewältigung der zweiten Welle gibt es einige Kritikpunkte. Zum einen läuft die Kontaktnachverfolgung in vielen Ländern besser als hier. Die baltischen Staaten sind komplett elektronisch. Hier arbeiten wir teilweise noch mit Stift und Papier. Die Corona-Warn-App hatte auch keinen nachhaltigen Effekt. Und wie Sie sagen: Bei Impfungen und Schnelltests hinken wir im internationalen Vergleich hinterher. 

Sollten wir häufiger den Blick ins Ausland wagen?

Ja, inzwischen können wir uns bei vielen Ländern etwas abschauen. Bei Großbritannien die Impfstrategie, beim Baltikum die elektronische Nachverfolgung. Bei Italien die Teststrategie: Sie führen doppelt so viele Tests wie wir durch, obwohl sie eine geringere Einwohnerzahl haben. Das führt dazu, dass bei uns die Dunkelziffer viel höher ist und präventive Testungen kaum stattfinden.

Schauen Sie sich zum Beispiel die Schulen an: Hier könnten wir bei Österreich lernen. Dort werden die Kinder wöchentlich getestet und hier so gut wie gar nicht. Wir machen hier in Sachsen Präsenzunterricht bei 150er Inzidenzen ohne Masken, ohne Aerosolfilteranlagen, ohne Testungen bei den Kindern und das bei einer immer mehr grassierenden neuen hochansteckenden Variante. Leichter kann man es dem Virus kaum machen. Da kann ich die Politik überhaupt nicht mehr verstehen.

Vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellte Jakob Arnold.

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