Migrationspolitik - Warum ein Staat nicht empathisch sein darf

Empathie ist eine ehrenwerte Haltung. Sie adelt den Menschen, darf aber nicht zur Norm des Rechtsstaats werden. Wer die Ebenen vermischt, betreibt einen Feudalismus der Gesinnung. Von Alexander Kissler

Flüchtlinge zu retten, ist das eine - aber wer trägt die Folgekosten? / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Horst Seehofer hat eine schlechte Presse. Das ist nichts Neues, das hat er sich in Teilen selbst zuzuschreiben. Unangemessen war seine Bemerkung über den humoristisch gefassten Zufall von 69 Abschiebungen nach Afghanistan an seinem 69. Geburtstag allemal. Da lugte aus dem Politiker ein böser Grantler hervor. CSU-Kritiker und Offene-Grenzen-Aktivisten griffen die bittere Episode auf, um sie ins Grundsätzliche zu weiten: Der Bundesinnenminister sei für seinen Posten ungeeignet, weil es ihm an Empathie mangele. Ein Staat jedoch, der Empathie zur leitenden Handlungsnorm erklärte, wäre keine Demokratie, keine Republik, kein Rechtsstaat. Ein freiheitlicher Staat kann kein empathischer Staat sein.

Die langjährige Grünen-Politikerin Claudia Roth etwa fordert vom „Verfassungsminister“ mehr „Empathie und Taktgefühl“. Der Ratsvorsitzende der EKD, Heinrich Bedford-Strohm (SPD), beklagt den „Auszug der Empathie aus den öffentlichen Diskussionen um die Flüchtlingspolitik“. Roth und Bedford-Strohm gehören dem linken Feld der Politik an und sind insofern erwartbare Kritiker. Ihr Argument taugt jedoch zum Allgemeinplatz quer durch die politischen Lager: Empathie sei gut, und darum sei der empathische ein guter Staat. Die Schlussfolgerung ist falsch und führt in die Unfreiheit, die Günstlingswirtschaft, den Feudalismus der Gesinnung.

Empathie kann man nicht erzwingen

Empathie: das klingt nach Bäume-Umarmen, Feldlerchenretten, Kindertränentrocknen. Ja, der Mensch ist der Empathie fähig und handelt oft empathisch. Er leidet mit, wenn andere Menschen, andere Wesen leiden. Empathie oder Kompassion kann Menschen adeln. Klassischerweise wird Empathie vom Psychotherapeuten im Verhältnis zu seinen Klienten verlangt, und sie wird vom christlichen Gott erhofft. Immer sind es Aktionen im direkten Austausch, unmittelbar und unvermittelt. Eine Firma für Empathie wäre ebenso sinnwidrig wie ein Amt für Empathie oder gar ein Gesetz. Man kann Empathie weder kaufen noch erzwingen.

Unter staatlichen Bedingungen wäre Empathie Rechtsbeugung. Empathie von Amts wegen kann sich nur der absolute Fürst leisten. Er kann Gnade vor Recht walten lassen, weil er das Recht setzt. In einem Rechtsstaat wird der empathische Richter zu einem Dorfrichter Adam aus Kleists Der zerbrochene Krug“. Er spricht frei, auf wen er ein Auge geworfen hat oder von wem er sich einen Vorteil verspricht oder wem er familiär verbunden ist. Wenn heute am Ende eines rechtsstaatlichen Verfahrens kriminell gewordene Ausländer des Landes verwiesen werden, siegt das Recht. Es verliert, wenn der Einzelfall über dem Gesetz steht oder wenn allgemeine Gesetze auf Einzelfällen ruhen.

Empathie darf kein Maßstab für Politik sein 

Ein empathischer Staat wäre ein autokratischer oder ein anarchischer Staat und also ein Selbstwiderspruch. Er könnte heute so, morgen anders entscheiden und entzöge sich so seine allgemeinen Grundlagen. Ob Horst Seehofer als Mensch empathischer ist als Claudia Roth? Wir wissen es nicht, und es darf für seine Arbeit als „Verfassungsminister“ keine Rolle spielen. Er setzt nicht das Recht, er setzt es durch. Damit ist der Unterschied zwischen einem republikanischen Rechtsstaat und einem personengebundenen Unrechtsstaat benannt.

Wenn Empathie immer nur eine unmittelbare Handlungsweise von Personen, nie von Staaten sein kann: Agieren dann jene Menschen besonders empathisch, die sich für institutionalisierte Seebrücken zwischen Mittelmeer und Westeuropa einsetzen oder die Werbetrommel rühren für private Seerettungsschiffe? Nicht unbedingt. So wie Empathie immer nur die unmittelbare Reaktion eines Einzelnen sein kann – unmöglich ist es, dem barmherzigen Samariter Staatspflichten aufzuerlegen –, so dürfen die Folgen empathischen Handelns nicht Dritte binden. Hier gilt für alle Beteiligten der Vorbehalt des freien Willens, an dem nicht zufällig in unserer Gegenwart fester gerüttelt wird denn je. Der Mensch, der ein seeuntüchtiges Schlauchboot besteigt, hat einen freien Willen, der Schlepper, der Gewinne erzielen will, hat einen freien Willen, Fernsehunterhalter Klaas Heufer-Umlauf nicht minder.

Wo sich die Empathie am Recht stößt

Wenn dieser in einem Video erklärt, „niemand setzt sich freiwillig in so‘n Boot“, negiert Heufer-Umlauf den freien Willen der afrikanischen Migranten, um in riskanter Argumentationsbahn an den freien Willen seiner Fans zu appellieren, damit diese Geld spenden, „um Schiffe zu chartern“: „Hier kann man mal konkret helfen.“ Sollten, wonach es bisher nicht aussieht, hinreichend finanzielle Mittel für die Charter zusammenkommen, stellt sich die Frage, die Heufer-Umlauf in keiner Sekunde seines sechsminütigen Videos aufwirft: Muss nicht, wer „konkret helfen“ will, selber Staat werden? Oder will Heufer-Umlauf die auf seine Schiffe verbrachten Menschen in seinen eigenen Berliner Garten bringen und dort verpflegen, ernähren, ausbilden auf Jahre? So stößt sich die Empathie des einzelnen an der Mitwirkungspflicht einer Republik, die zu all dem nicht befragt wurde. Wieder ist es die imperatorische Gebärde, in die öffentlich eingeforderte Empathie mündet.

Auf den Spuren von Rousseau 

Und wer hat uns den ganzen Schlamassel eingebrockt, diese Verwechslung von individueller Einfühlung und kollektivem Rechtsempfinden? Der Philosoph Jean-Jacques Rousseau, wer sonst. Eine Linke, die den freien Willen zu strategischen Zwecken verneint, präsentiert sich als Ensemble von Vulgärrousseauisten. Sie setzen jenen Rousseau fort, der – in den Worten Robert Spaemanns – „im einfachen Selbstgenuss“, „in der total fühlenden Rückbeziehung eines lebendigen Wesens auf sich selbst“ den besseren Staat erblickt. Mehr denn je gilt 2018: Triffst du Rousseau unterwegs, so kehre um.

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