Migrationsdebatte - Sarrazins unrettbare Neugier

Thilo Sarrazin will die Wahrheit über die „Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart“ gefunden haben. Lesen Sie dieses Buch – aber bitte mit Vorsicht.

Thilo Sarrazin bei der Buchpräsentation in Berlin / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Klären wir zunächst eine grundsätzliche Frage: Muss man über das neue Buch von Thilo Sarrazin berichten? Meine Antwort erschließt sich aus der Tatsache, dass Sie diese Zeilen lesen. Dafür spricht: Für das nun erschienene Buch „Der Staat an seinen Grenzen“ hat der Verlag schon eine sechsstellige Zahl an Vorbestellungen bekommen. Der Bestseller-Autor Sarrazin schreibt zu einem Thema, über das unsere Gesellschaft sich seit Jahren entzweit (Untertitel: „Über Wirkung von Einwanderung in Geschichte und Gegenwart“). Und seine SPD, der er knapp fünf Jahrzehnte angehörte, hat ihn vor einem Monat endgültig aus der Partei geworfen. Nun denn.

Wo ist die Antifa?

Das Überraschendste an der Buchvorstellung des 75-Jährigen ist an diesem Tag, dass es keine pöbelnden Gegendemonstranten gibt – noch im Dezember etwa hatten Protestler einen Auftritt Sarrazins in Bremen verhindert. Hat die Antifa etwa entschieden, ihn durch demonstrative Nichtbeachtung zu bestrafen? Vielleicht keine schlechte Idee. Durch Nichtbeachtung strafen Sarrazin auch die meisten Medien, nur eine Horde alter weißer Männer sitzt da an diesem Montagvormittag in einem schmucklosen Raum der Bundespressekonferenz am Schiffbauerdamm: Die Nachrichten-Agenturen sind da, Bild, die Junge Freiheit und Tichys Einblick.

Auf den Tag genau vor zehn Jahren präsentierte Sarrazin in Berlin sein erstes Buch: „Deutschland schafft sich ab“ hieß es, und nicht wenige sehen den Erfolg des Buches – „das meistverkaufte deutsche Sachbuch seit 1945“ heißt es vom Verlag – als wichtigen Meilenstein einer Dynamik, die drei Jahre später zur Gründung der AfD führte: Euro-Krise, misslungene Integration, Verfall der Bildungsstandards, Sarrazin fasste all die in der Bevölkerung bestehenden Spannungen in einem Buch zusammen, die sich später an der Wahlurne entluden.

In der Tradition Luthers

„Ich möchte wissen, wie es ist“, sagt er an diesem Montag in Berlin. Es sei seine „unrettbare Neugier“, die ihn immer wieder dazu bringe, neue Bücher zu schreiben, so erklärt er seine seit zehn Jahren andauernde Schreibwut. Zu Anfang klingt bei dem Nachfahren eingewanderter Hugenotten gar Luther durch („Hier stehe ich und kann nicht anders“), als er von seinen angeblichen Selbstzweifeln angesichts der vielen Anfeindungen erzählt: „Was könntest du anders machen?“, habe er sich gefragt – und sei doch immer zu dem gleichen Schluss gekommen: „Man muss dazu stehen.“

Nun wollte Thilo Sarrazin also wissen, wie das mit der Einwanderung ist. Anders als jene, die einem „Geschichtsdeterminismus verfallen, der häufig auch moralisch gefärbt ist“, hat er aufgrund seiner tiefgehenden Analyse „wichtige systematische Erkenntnisse“ gesammelt. Wenig überraschend gehört dazu die folgende Feststellung: „Die drei Aussagen: 1. Einwanderung habe es immer schon gegeben. 2. Einwanderung sei wertvoll oder gar segensreich. 3. Einwanderung sei unvermeidlich und Widerstand zwecklos, sind falsch.“

Rebel with a cause

Sarrazins wichtigste Erkenntnis nach dem eingehenden Studium der Geschichte der Einwanderung, weltweit, seit Bestehen der Menschheit, lautet dagegen: „Einwanderung in besiedelte Räume bedeutet für die einheimische Bevölkerung sinkende Lebensstandards, erhöhte Sterblichkeit, oft auch Gewalt, Unterdrückung und Blutvergießen. Das geht bis zum Völkermord.“ Klare Ausnahmen, sagt er, seien die Hugenotten und die jüdischen Einwanderer aus Osteuropa. Wäre auch schwierig, etwas anderes zu behaupten, vor dem Hintergrund seiner eigenen Geschichte und jener von Henryk M. Broder, der neben ihm sitzt, weil er als Stargast in seiner Vorrede warme Worte über Sarrazin gesagt hat.

Sarrazins Thesen locken seit einem Jahrzehnt Hunderttausende, weil er sie mit Zahlen und Fakten unterfüttert, weil er sie ohne Schaum vor dem Mund niederschreibt, und weil ihn als Wirtschaftswissenschaftler und ehemaligen Finanzsenator eine Aura der Wissenschaftlichkeit umgibt – auch wenn echte Fachleute bei jedem neuen Buch Sarrazins einseitigen Blickwinkel auf die Themen und klare Fehlschlüsse kritisiert haben. Nun ja, und dann hat er sich über das letzte Jahrzehnt, freundlich gefördert vom Ausschlussverfahren seiner SPD, auch den Ruf eines „rebel with a cause“ erarbeitet. Das alles macht für viele, auch wenn das Wort in diesem Fall womöglich deplatziert ist, seine Sexiness aus.

Ein Pessimist zieht Pessimisten an

Aber das, was er den anderen vorwirft („moralisch gefärbter Geschichtsdeterminisus“) ist letztendlich auch das, was seine Arbeit prägt: Wo er auch hinblickt, sieht Sarrazin Verfall und Abwärtstrend. „Es ist schon schlimm, wird aber noch schlimmer“, so lässt sich in etwa seine Grundannahme beschreiben, die sich durch all seine Bücher zieht.

Dazu gehört seine Feststellung am heutigen Tage, die Einwanderung nach Europa seit den 60er Jahren sei „für die politische Stabilität eher negativ“ gewesen. Ist das wirklich der Fall? Blickt man auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, in der Europa das Problem der „kulturfremden Migranten“ noch nicht kannte, muss dessen zweite Hälfte doch wie eine Ära des Friedens und der Harmonie erscheinen– trotz der Migrationswellen. Waren also vielleicht die 50er das goldene Jahrzehnt – ohne Krieg, aber noch ohne Migranten, fragt der Herr vom Cicero? „Das Europa der 50er Jahre war ein Ort weitgehend ohne kulturfremde Einwanderung und hatte gute Voraussetzungen für eine stabile innere Entwicklung“, antwortet Sarrazin, Jahrgang 1945, über die Zeit, als er ein kleiner Junge war.

„Misslungene Ethnogenese“

Sarrazins neuer Lieblingsbegriff ist die Ethnogenese, also die Theorie von der Entstehung der Völker. „Ethnogenese dauert lang und misslingt häufig“, sagt er an diesem Tag. Der Herr vom Cicero hätte da gerne ein Beispiel für „misslungene Ethnogenese“, weil er sich das Produkt einer solchen schwer vorstellen kann. Als Antwort erhält er das Osmanische Reich und Ungarn-Österreich, in dem die Tschechen eben Tschechen geblieben seien. Was hat denn die Existenz dieser beiden Vielvölkerreiche, die bis zu ihrem Ende – anders als der entstehende Nationalismus es forderte - gerade nicht auf der Schaffung einer homogenen Ethnie als Staatsvolk bestanden, mit der heutigen Einwanderung zu tun, will man ausrufen. Aber da kommt schon die nächste Frage.

Kurzum: Man erlaube sich kein Urteil über dieses Buch, ohne es gelesen zu haben. Aber das kritische Hinterfragen jeder einzelnen Sarrazin-Behauptung, gerade dort, wo sie zahlen- und faktengesättigt erscheinen mögen, ist geboten.

Anzeige