Merkel im Wahlkampf - Sie will sich kümmern

Kisslers Konter: Die Kanzlerin hält alle Politik für Außenpolitik. Darum gibt sie bei Youtube und im Fernsehen die Anwältin Afrikas und verspricht, sich um die Welt zu kümmern. So gedeiht das deutsche Dösen und die Zivilgesellschaft schwindet

Angela Merkel, Youtuber: Plaudern im digitalen Wohnzimmer / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Zweimal ließ sich die Bundeskanzlerin in diesem Wahlkampf, in dem sie nicht kämpfen muss, jüngst befragen: am Montag von zwei Journalisten von Phoenix und Deutschlandfunkam Mittwoch von vier sogenannten Youtubern, jungen Menschen, die sich von anderen dabei zuschauen lassen, wie sie sich schminken, aufregen oder Daseinsdramen erklären. Die Erkenntnis der beiden Kanzlerinneninterviews lauten: Frau Merkel kümmert sich. Sie kümmert sich besonders um Afrika, denn Afrika ist Deutschlands Nachbar. Damit die „Menschen in Deutschland“ gut schlafen können, muss es Afrika gut gehen. Sagt die Kanzlerin, die das auch nach den Wahlen am 24. September bleiben will.

Youtuber zur Audienz bei der Kanzlerin

Natürlich war das einstündige Online-Format bei YouTube nicht nur eine gemähte, sondern eine wurzeltief abgegraste Wiese für den Politprofi. Von zwei braven Mädels, die ihre Karteikartenableserei als Audienz bei der Königin begriffen, war keine der von Merkel gönnerhaft geforderten „frechsten Fragen“ zu erwarten. Die beiden Jungs machten ihre Sache besser, fragten hie und da zurück, fielen dem Gast sogar zweimal ins Wort. Doch dass „die ländlichen Räume unser Sorgenkind“ seien beim Breitbandausbau, machte die Kandidatin ebenso wenig auf neue Weise kenntlich wie ihr von Eigenlob nicht freier Rückblick auf die Grenzöffnungstage vom Herbst 2015: „Deutschland hat damals wirklich (…) ein sehr gutes Gesicht gezeigt“, in einer „wirklichen humanitären Notlage.“

All dies hörte man schon hundertfach aus Merkels Mund, wenn auch selten in entspannterer Atmosphäre und vor bizarrerem Studiohintergrund: vor Katzenfotos, Lippenstiften, Teetassen. Merkel ließ sich ins digitale Wohnzimmer der Generation Konsum einladen. Man plauderte. Man plauderte? Darüber vergesse man nicht, dass Merkel mit einer Agenda ins Studio kam. Sie wollte sich präsentieren als Frau, die hart arbeitet. Kaum eine Antwort kam aus ohne den Zusatz „da müssen wir weiter arbeiten“, „wir müssen immer noch weiter arbeiten“, „noch härter“ zu arbeiten gelte es in der kommenden Legislaturperiode. Die Kanzlerin brachte ihre Botschaft in hämmernder Stringenz an Teen und Twen: Wer mich wählt, der bekommt eine große Schafferin vor dem Herrn. Zu welchem Zweck aber und auf wessen Kosten? Politik ist ein Nullsummenspiel.

Alle Politik ist Außenpolitik

Da gab das Montagsgespräch Auskunft. Dort lieferte sie den anderen Lungenflügel ihres urprotestantischen Arbeitsversprechens. Die Fleißige will eine Kümmernde sein, will schaffen und schuften für andere, in globaler Perspektive aus nationaler Verantwortung. Im 21. Jahrhundert, heißt das, ist alle Politik Außenpolitik, weil die Grenzen zwischen Innen und Außen, Daheim und Draußen gefallen seien. Davon gab sich Merkel überzeugt. Und zwar nicht nur aus wahlkampftaktischen Gründen, um den sozialdemokratischen Mitbewerber als ewigen Würselener ins provinzielle Abseits zu stellen. Nein, da liegt der Wesenskern von Merkels Politikverständnis: Das Weltbürgertum ist das Weltgericht der Spätmoderne.

Darum kann dieser Merkel-Satz nicht überschätzt werden: „Jeder hat ein Recht darauf, von uns gut betrachtet zu werden.“ Betrachten meint nicht Überwachung oder Überprüfung, sondern das prinzipielle Ansehen des Menschen in Hinsicht auf die guten Möglichkeiten, die in ihm schlummern. Der Mensch, lautet die zutiefst protestantische Grundüberzeugung Merkels, ist das Bündel der ihm geschenkten Potenziale. Er sei überall und immer ein Noch-nicht, kein Nicht-mehr und darum Geschenk. Deshalb gab sie beim öffentlich-rechtlichen Montagsgespräch, mitten im deutschen Wahlkampf, die Anwältin Afrikas: „Wir müssen uns kümmern. Wir werden nicht in Ruhe leben können, wenn wir uns nicht auch mit unserer Nachbarschaft befassen – und dazu gehört Afrika.“ Die „armen Menschen“ dort, „die Hilfe brauchen“, seien „dankbar“, wenn sie aufgrund besserer Lebensverhältnisse „im eigenen Kulturbereich“ bleiben könnten.

Wer sich kümmert, der bestimmt

Unsere Ruhe – ein protestantisch aufgeladener Begriff: Seelenruhe, nicht Sicherheit, nicht Friede – hänge am seidenen Faden der afrikanischen Mängel. Ein innerweltliches Tauschgeschäft bahnt sich an. Der ruhige Schlaf der gebenden Hände gegen die Dankbarkeit der Nehmenden. Daraus ergeben sich enorme demokratietheoretische wie -praktische Probleme, jenseits der heiklen Frage, wie sich das Wahlrecht der deutschen Staatsbürger mit einem globalen Mandat verträgt. Wer sich kümmert, der bestimmt. Das Kümmern der Regierenden ist das Dösen der Regierten. Die Exekutive kümmert sich, damit wir apolitisch bleiben können. Die Kanzlerin wacht, weil wir schlafen sollen. Eine wehrhafte Demokratie sieht anders aus, eine lebendige Zivilgesellschaft auch. In Zeiten fallender Ordnungen verheißt die Frau, die sich kümmern will, eine Erweckungspredigerin auf Reisen, nimmermüd: Lasst mich nur machen. Der Rest ergibt sich.

Wer kümmert sich derweil um die Kollateralschäden von Merkels unbedingtem Weltbürgertum? Um Städte und Marktplätze, die neuerdings überwacht werden müssen, und um jene Migranten, die das Gute in sich partout nicht verwirklichen wollen? Um No-Go-Areas, in denen das Recht der Clans gilt, weil Wegschauen bequemer ist als Durchgreifen? Um folgenlos abgelehnte Asylbewerber? Das absehbare vierte Kabinett Merkel wird rascher an das Ende des Plaudertons gelangen, als eine Youtuberin „Cool“ sagen kann.

Anzeige