Meistgelesene Artikel 2016 - „Wir waren geradezu beseelt von der historischen Aufgabe“

Am 4. September 2016 jährte sich die folgenschwere Grenzöffnung in der Flüchtlingskrise zum ersten Mal. Als „Zeit“-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo im Nachhinein einräumte, die Medien hätten zu positiv über das Ereignis berichtet, wurde das so oft gelesen wie kein anderer Text in jenem Monat

„Ohne Not haben wir uns dem Verdacht ausgesetzt, wir würden mit den Mächtigen unter einer Decke stecken“ / picture alliance
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Giovanni di Lorenzo ist Chefredakteur der Wochenzeitung Die Zeit.

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Ich bin tief beeindruckt und bewegt von der überwältigenden Hilfsbereitschaft, die es für Flüchtlinge gegeben hat. Ich bin auch nicht der Meinung, dass die Staaten des Westens sich abschotten dürfen oder so tun sollen, als hätten die großen Migrationsbewegungen auf der Welt nichts mit ihnen zu tun. Ich habe selber eine Vergangenheit als Aktivist und bin passives Mitglied einer Initiative, die sich um Flüchtlinge kümmert; ich habe sie vor 24 Jahren mitgegründet.

Eine historische Panne

Dieser Hintergrund ist mir wichtig, weil mich im zurückliegenden Jahr so sehr gestört hat, dass eine von der Politik der Bundesregierung abweichende Meinung, manchmal auch schon kritische Fragen, unter den Generalverdacht gestellt wurden, man habe etwas gegen Flüchtlinge oder betreibe das Geschäft der Populisten.

Es gab in den vergangenen zwölf Monaten aber einiges zu kritisieren. Nicht alles, was am 4. und 5. September 2015 geschah, konnte sofort recherchiert und verifiziert werden. Aber gerade weil dem so war, ist die anfängliche Euphorie unter Journalisten so schwer zu verstehen. Wir wissen heute: Die Öffnung der Grenzen erfolgte unter denkbar größtem Zeitdruck, dramatische Fernsehbilder spielten dabei eine wichtige Rolle. Aber sie war eben auch die Folge einer Fehleinschätzung, man kann auch sagen, eine historische Panne.

Eine Ausnahme, die keine war

Durch Viktor Orban geschickt eingefädelt, glaubte die Regierung, sie würde nur 3000 bis 7000 Flüchtlinge aufnehmen. Man erklärte erstens, der Grund für die Grenzöffnung sei die akute Not der Flüchtlinge gewesen. Aber akut gefährdet waren sie in Ungarn, so wissen wir heute, keineswegs. Und zweitens hat die Kanzlerin damals gesagt, es werde sich um eine „Ausnahme“ handeln. Schon eine Woche später hatte der Innenminister den Plan fertig, die Grenzen wieder zu schließen.

Die Umsetzung scheiterte offenbar am Veto der Kanzlerin und an dem Sog, den die Nachrichten und Bilder aus Deutschland ausgeübt hatten. Es war vor der Grenzöffnung ein Tweet aus dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das ankündigte, unregistrierte syrische Flüchtlinge würden ab sofort in Deutschland anerkannt und nicht nach Ungarn zurückgeschickt. Es waren danach auch die Selfies der Flüchtlinge und die Fernsehbilder applaudierender Bürgerinnen und Bürger am Hauptbahnhof von München.

Missachtung der Ängste in der Bevölkerung

All das hätten wir von Anfang an beschreiben und analysieren können. Wir waren aber zumindest in der Anfangszeit geradezu beseelt von der historischen Aufgabe, die es nun zu bewältigen galt. Von der Bild-Zeitung, die sogar die Parole der Autonomen übernahm („Refugees welcome“), bis – jedenfalls anfänglich – zur Zeit, die noch vor dem 4. September eine Titelgeschichte mit der Zeile „Willkommen“ brachte.

Damit einher ging die Missachtung der Ängste in der Bevölkerung. Noch problematischer war die kritiklose Übernahme der Erklärungen einer Bundesregierung, der nun jedes Wort recht war, sich etwas nachträglich schönzureden, was in Wirklichkeit ungeplant passiert war. Dazu gehörte insbesondere der Satz, dass man Grenzen nicht schützen könne, es sei denn, man würde den Schießbefehl wieder einführen, und dass in unserer veralteten Gesellschaft nahezu jeder Flüchtling schon bald eine Bereicherung sein werde.

Die Fähigkeit zur Differenzierung ist verkümmert

Die Folgen sind bis heute zu spüren: Es gab eine beispiellose Vergiftung der Gesellschaft und einen Vertrauensverlust gegenüber den Eliten und den im Bundestag vertretenen Parteien. Es gibt das Erstarken einer rechtspopulistischen Bewegung. Ganz nebenbei ist im Diskurs über die Flüchtlingsfrage auch die Fähigkeit zur Differenzierung verkümmert.

Und ohne Not haben wir uns wieder dem Verdacht ausgesetzt, wir würden mit den Mächtigen unter einer Decke stecken, wir würden so uniform berichten, als seien wir gesteuert; wir würden die Sorgen und Ängste der Menschen ignorieren, die nicht selbst zur Flüchtlingshilfe oder zur politischen Klasse gehören. Das ärgert mich, weil ich der Meinung bin, dass unsere Medien zu den besten und freiesten auf der Welt gehören. Der Komplexität der Probleme, der zunehmenden Macht von Desinformation und Verschwörungstheorien, von Dummköpfen oder von Propagandisten können wir nur Genauigkeit, Distanz und Glaubwürdigkeit entgegensetzen.

 

Dieser Text ist eine kostenlose Leseprobe aus der Cicero-Ausgabe vom September 2016 „Merkels Marschbefehl. Sie erhalten das Magazin im Onlineshop oder am Kiosk.

Lesen Sie hier den Beitrag der Frauenrechtlerin Alice Schwarzer.

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