Was 1989 mit 2015 gemein hat - Merkels „Schabowski-Moment“

Die Parallelen zwischen dem Mauerfall 1989 und der Flüchtlingskrise 2015 springen ins Auge. Doch der Vergleich ist in Deutschland tabu. Dafür gibt es einen guten Grund. Eine Schweizer Sicht auf zwei Ereignisse, die die Welt veränderten.

Angst vor grausamen Bildern: 2015 ließen Österreich und Deutschland tausende Ankömmlinge passieren / dpa
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Autoreninfo

Peter Voegeli ist seit 2015 Deutschlandkorrespondent des Schweizer Radios SRF. Davor hat er als Korrespondent für Zeitungen in Berlin und als Radiokorrespondent in Washington gearbeitet. 

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Fünf Jahre. Schon fünf Jahre ist es her, seit Angela Merkel in einem roten Kostüm vor der knallblauen Wand der Bundespressekonferenz saß und mit einem Lächeln der Zuversicht sagte: „Wir haben so vieles geschafft …. wir schaffen das.“ Und schon über 30 Jahre sind seit dem historischen Moment verstrichen, seit SED-Funktionär Günter Schabowski am 9. November 1989 im Pressezentrum in Ost-Berlin vor einem moosgrünen Vorhang unkonzentriert nach Worten suchte:  „Das tritt…nach meiner Kenntnis ist das sofort, unverzüglich.“

Vor fünf Jahren saß ich an meinem ersten Arbeitstag als Deutschlandkorrespondent des öffentlich-rechtlichen Schweizer Radios SRF in der Bundespressekonferenz. Und fragte die Kanzlerin: „Was passiert mit Schengen?“ Vor über 30 Jahren, im November 1989, als die Mauer fiel, war ich nicht dabei. Ich war auf der Festung Luzisteig in den Bündner Bergen im Militärdienst. Jeden Morgen beim Appell gab der Kommandeur ein fünfminütiges Update über das Neueste aus Berlin, und dann hieß es wieder: „Wir sind blau, der Feind ist rot und kommt aus dem Osten.“ Und ein Oberst sagte bei den Schiessübungen: „Jeder Schuss ein Russ.“ 

Züge, Jubel, Märchen

Im Herbst 2015 dachte ich sofort an den Herbst 1989. War die Grenzöffnung 2015 eine Art anderer Mauerfall? Vor allem die Ähnlichkeit der Bilder ist spektakulär. Da sind die Züge voller Flüchtlinge aus der DDR, die im Herbst 1989 mit Jubel und Tränen der Rührung in Bayern empfangen wurden. Genauso war es im September 2015 am Münchner Hauptbahnhof: „Refugees Welcome“ riefen die einen, „Thank you, Germany“ jubelten die anderen. 

Und beide Male war Ungarn die Initialzündung der sich überstürzenden Ereignisse. Im Frühsommer 1989 wollte der ungarische Ministerpräsident Miklós Németh nicht länger den Türwächter der DDR spielen und für das Regime in Ost-Berlin die Flucht seiner Bürger stoppen. Er öffnete den Eisernen Vorhang. 2015 war es Premierminister Viktor Orbàn Leid, die Flüchtlinge aus Syrien, Afghanistan oder Irak aufzunehmen und ihnen nach den Regeln der EU Asyl zu gewähren.

Die virtuelle Mauer

Und ja, auch 2015 gab es eine Mauer um Deutschland. Nur war sie nicht real, sondern virtuell. Die Dublin-Regeln der EU verlangen, dass Flüchtende ihren Asylantrag in dem EU-Land stellen, in das sie zuerst einreisen. 2015 waren das vor allem Ungarn oder Italien. Dazu kommt: Die deutsche Verfassung gewährt im Prinzip kein individuelles Grundrecht auf Asyl, wenn ein Flüchtling aus einem sicheren Drittstaat die Grenze überquert.

Damit hatte praktisch kein Flüchtling eine Chance auf Asyl in Deutschland, das bekanntlich von sicheren Drittstaaten umgeben ist. Außer er fiel vom Himmel. Natürlich: Die Berliner Mauer sollte einst die Menschen von der Flucht aus der DDR abhalten, während die EU-Außengrenze die Einreise beschränkt. Doch an beiden Grenzen wurde gestorben. An der Mauer und im Mittelmeer.  

Geplante Grenzschliessung

Was 1989 der 9. November war, das war 2015 der 4. September. An diesem Tag brachen tausende Flüchtlinge zu Fuß vom überfüllten Keleti Bahnhof in Budapest auf einer Autobahn Richtung Österreich und Deutschland auf. Um 23 Uhr 30, so beschreibt es der Welt-Journalist Robin Alexander in seiner hervorragenden Rekonstruktion der Ereignisse, beschließen Angela Merkel und der damalige österreichische Bundeskanzler Werner Faymann, die Menschen die Grenze passieren zu lassen. Am Folgetag werden 12.000 Menschen Deutschland erreichen. 

Am 10. November 1989 erwog die DDR-Führung den Einsatz der Armee, um die Grenze wieder zu schließen. Auch die Bundesregierung wollte am Sonntag, dem 13. September 2015, die Grenzen zu Österreich schließen. In der Nacht zuvor waren sämtliche Einheiten der Bundespolizei in Alarmbereitschaft versetzt und tausende Einsatzkräfte an die deutsch-österreichische Grenze gefahren worden. Polizisten, die an einer Nazi-Demonstration in Hamburg im Einsatz waren, wurden sogar mit Helikoptern nach Bayern geflogen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit.

Angst vor Bildern staatlicher Gewalt 

Doch sowohl 1989 als auch 2015 schreckten die Verantwortlichen am Ende zurück. Die Bundesregierung fürchtete 2015 Bilder von Polizisten, die in voller Einsatzmontur Frauen mit Kindern auf den Armen gewaltsam an der Grenze zurückdrängen. Sowohl 1989 als auch 2015 hatte niemand die politische Kraft, die Grenzen wieder zu schließen. 

Auch die Reaktion auf die geöffneten Grenzen war dieselbe. Man gab vor, die Lage unter Kontrolle zu haben. Am 10. November kabelte DDR-Staats- und Parteichef Egon Krenz sinngemäß an Michail Gorbatschow: Öffnung in der Nacht erzwungen, aber Kontrollzustand wiederhergestellt. Am 5. September 2015 lautete die offizielle Sprachregelung in Berlin, dass sich die Kanzlerin und der ungarische Premier einig seien, dass die so genannte Grenzöffnung „eine Ausnahme“ gewesen sei und ab sofort wieder die Dublin-Regeln gälten. Doch der Ausnahmezustand sollte noch sechs Monate andauern.

Selfie mit Merkel

1989 wie 2015 beschleunigten Kommunikationspannen den Gang der Ereignisse. Die DDR-Grenze sollte ab dem 9. November 1989 kontrolliert geöffnet werden, aber Günter Schabowski brachte die Mauer durch sein unüberlegtes Statement noch am selben Abend zu Fall. Genau genommen entspricht Merkels „Wir-schaffen-das“-Medienkonferenz nicht Schabowskis Auftritt. Merkels Statement hatte zwar eine Signalwirkung. Aber was wie ein Lauffeuer um die Welt ging, waren drei Fotos, welche die Kanzlerin zeigen, wie sie Selfies mit Flüchtlingen aufnimmt. Und diese Bilder hatten ihre eigene Botschaft: „Refugees Welcome!“ 

Schliesslich sahen viele im Herbst 2015 eine geradezu sinnstiftende Verbindung zu 1989. Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung war die Strafe für den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust quasi verbüßt. Und mit der so genannten Willkommenskultur von 2015 schien nun auch die historische Schuld vergeben zu sein.

„Weltmeister der Menschenliebe“

In Deutschland lag dieses Gefühl in der Luft, auch wenn es nicht explizit ausgesprochen wurde. „Wir sind Weltmeister der Hilfsbereitschaft und Menschenliebe“, rief die Grüne Co-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckhardt am 9. September im Bundestag. Explizit formulierten es US-Medien. Die Washington Post kommentierte am 10. September 2015, nichts könne zwar den Horror des Zweiten Weltkriegs und Holocaust löschen. Aber das moderne Deutschland sei das eindrücklichste Beispiel dafür, dass Menschen und Gesellschaften sich ändern können und über die Zeit „Vergebung möglich ist“. 

Und der Schweizer Karikaturist Chappatte hatte einen Tag zuvor in der New York Times eine Zeichnung publiziert, die 2015 als Wiederholung von 1989 darstellte: Vor einer durchbrochenen Mauer schüttelt Kanzlerin Merkel Flüchtlingen die Hand. Hinter ihr ist ein Transparent mit der Aufschrift „Welcome to Germany“ zu sehen. Daneben stehen staunende Europäer, von denen einer sagt: „The Fall of the Wall all over again.“

Ein deutsches Tabu

In Deutschland aber ist diese Interpretation ein No-Go. Dieter Romann, der Chef der Bundespolizei und Herr über die deutschen Grenzen bläst im Sommer 2018 den Rauch seiner Zigarette mit Nachdruck in die Luft, schiebt das eckige Kinn vor und sagt mit Nachdruck: Nein, er habe im September 2015 nie an den September 1989 gedacht. 

Januar 2019. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble, der erfahrenste Politiker Berlins, schaut scheinbar rat- und verständnislos in die Runde ausländischer Journalisten, bevor er angeblich überhaupt den Sinn dieser so abwegigen Frage erfasst und den Kopf schüttelt. Und Alexander Gauland, der ungekrönte König der AfD, blickte mit seinen wässrig-blauen Augen über den Rand seiner Lesebrille, und auch er sagt: „Nein“ und ergänzt: „Es kamen doch Deutsche.“ Hinter ihm drängt sich einer der massigen Ecktürme des Reichstags mit einer Deutschlandfahne aufdringlich durchs grosse Eckfenster seines Bundestagsbüros.

Niemand will 1989 mit 2015 „beschmutzen“

Drei ganz unterschiedliche Männer, dieselbe Antwort. In der deutschen Politik findet man heute niemanden, der überhaupt auf die Idee kommt, 1989 und 2015 zu vergleichen. Obwohl es kaum vorstellbar ist, dass in Deutschland 2015 niemand an 1989 dachte. Für die Grenzöffnung 1989 sind die Deutschen Ungarn noch heute dankbar. Aus diesem Grund empfing Helmut Kohl den ungarischen Premier Viktor Orbàn noch auf dem Sterbebett

1989 ist im kollektiven Gedächtnis ein nahezu heiliges Ereignis, zumindest das Beste, was Deutschland in den vergangenen 100 Jahren passierte. Umgekehrt hat die so genannte Willkommenskultur spätestens nach den Übergriffen in der Silvesternacht 2016 in Köln weitherum eine negative Konnotation. Die Flüchtlingskrise gilt in Deutschland heute als ein Versagen, als beschämender Kontrollverlust. Niemand will 1989 mit 2015 „beschmutzen“. Obwohl die Hilfsbereitschaft der Menschen im Herbst 2015 eindrücklich, ja großartig war, ist sie im kollektiven Gedächtnis verblasst. Zu Unrecht.

Zwischenzeile 

Für Dieter Romann ist die Flüchtlingskrise eine fast schon persönliche Niederlage, denn die deutschen Grenzen waren ein halbes Jahr unkontrolliert offen. Dabei hatte er einen Plan: Er hatte die Grenzschließung mit den Polizeichefs der Länder an der so genannten Balkanroute abgesprochen. Wenige Stunde nach der Schließung der deutschen Grenze sollten Österreich, Ungarn, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien nachziehen.

Würden alle Grenzen gleichzeitig geschlossen, wären schätzungsweise 20.000 Flüchtende in Österreich, eine Zahl, der die deutschen Behörden gewachsen wären. Deutschland könne Fußballspiele sichern, Österreich jeden Winter 1,6 Millionen deutsche Touristen aufnehmen. „Das geht“, sagte Romann. In letzter Sekunde wurde das Vorhaben von der Bundesregierung aber abgeblasen. 1989 bekam jeder Ostdeutsche in der Bundesrepublik automatisch einen bundesdeutschen Pass. 2015 durfte jeder einreisen, der an der Grenze um Asyl bat. Dieter Romann war verbittert.

Für Alexander Gauland war die Flüchtlingskrise „ein Glücksfall“, wie er selbst einmal sagte. Sie war auch für die AfD sinnstiftend, genauso wie für Katrin Göring-Eckhardt, nur diesmal völkisch-national, und sie gab der Partei, die 2015 kurz vor der Bedeutungslosigkeit stand, plötzlich wieder Aufwind. Aber anders als von ihm behauptet, zog die AfD im Osten ganz offen und offensiv eine Parallele zwischen 1989 und 2015. 

„Vollende die Wende“

Im Superwahljahr 2019 setzte die AfD in Ostdeutschland das SED-Regime von 1989 mit dem demokratischen Rechtsstaat Bundesrepublik gleich. Wie damals gelte es, erfolgreich gegen ein Unrechtsregime aufzustehen und es in letzter Konsequenz zu stürzen, so die Botschaft. In der Tat: Die Wut, ja der Hass der Pegida-Demonstranten in Dresden richteten sich ganz offensichtlich mehr gegen das „Regime“, gegen Angela Merkel, als gegen die Flüchtlinge. Diese waren der Katalysator.

„Vollende die Wende“ lautete folgerichtig der AfD-Slogan vor den drei so wichtigen Landtagswahlen in Thüringen, Sachsen und Brandenburg im Herbst 2019. Ostdeutschland drohte im Falle eines großen Wahlerfolgs der AfD tatsächlich unregierbar zu werden. Wie volatil die politische Lage war, zeigte sich im Februar 2020, als die AfD mit ihrem Coup bei der Wahl des thüringischen Ministerpräsidenten das Bundesland monatelang politisch lahmlegte. Das war Wolfgang Schäuble bewusst, als er den historischen Vergleich von 1989 und 2015 nicht verstand oder nicht verstehen wollte. Denn dieser Vergleich war 2019 politisch brandgefährlich und wurde von der AfD bewusst polemisch instrumentalisiert. 

Vergleichen oder Gleichsetzen

Die äußerlichen Parallelen von 1989 und 2015 sind frappant. Und die Geschichte hielt 2015 eine Pointe für all jene bereit, die glauben, dass sich Historie wiederholt. Denn die Folgen von 1989 und 2015 waren diametral verschieden.

1989 brachte die deutsche Wiedervereinigung und eine vertiefte europäische Einheit. 2015 ging Deutschland dagegen einen Sonderweg und versuchte der EU seinen Willen aufzudrücken. Anders als 1989 hatte 2015 eine Spaltung Deutschlands und Europas zur Folge. 

Die Krise der EU  

1989 und 2015 sind Zäsuren für Deutschland. 1989 war Weltgeschichte. Die historische Tragweite von 2015 können wir heute noch nicht endgültig abschätzen. Die Flüchtlingskrise hat die Zentrifugalkräfte in der Europäischen Union aber auf einen Schlag gefährlich vergrößert und die Gräben zwischen Ost und West vertieft. Die neue Trennline ist die alte und verläuft – Ironie der Geschichte – ungefähr entlang des einstigen Eisernen Vorhangs, quer durch Europa und Deutschland. 

Fazit: Vergleichen bedeutet nicht gleichsetzen. Aber ein historischer Vergleich schärft den Blick auf die Ereignisse. 1989 hat gezeigt, dass Weltordnungen und Staatsgebilde untergehen können. 1989 traf es die DDR und zwei Jahre später die Sowjetunion und die bipolare Welt. 2020 muss es nicht Deutschland treffen. Nach der Eurokrise, der Flüchtlingskrise und Corona ist es der Zusammenhalt der EU, der ernsthaft gefährdet ist. So sehr, dass Angela Merkel auf dem Roulette-Tisch der Geschichte auf „all in“gesetzt und die deutsche Europapolitik fundamental umgesteuert hat.

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