Leopoldina-Stellungnahme zu Covid - „Wissenschaft ist keine moralische Instanz“

In der jüngsten Stellungnahme der Nationalen Akademie der Wissenschaften zur Corona-Lage kommen Medizinexperten mit differenzierten Vorschlägen zu Wort. Wahrgenommen wird allerdings meist nur das Vorwort, in dem schärfere Maßnahmen wie eine Impfpflicht für bestimmte Berufe gefordert werden. Warum Medizin und Naturwissenschaften nicht zur Waffe der Politik werden dürfen, erklärt der Philosoph Michael Esfeld.

Die Leopoldina in Halle berät die Bundesregierung in Sachen Corona-Strategie / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Der Wissenschaftsphilosoph Michael Esfeld ist seit 2002 Professor an der Universität Lausanne und seit 2009 Mitglied der Leopoldina, der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Sein Schwerpunkt ist die Philosophie der Physik und des Geistes. Er möchte den Konflikt zwischen der Erfahrung und naturwissenschaftlichen Erkenntnissen wieder in eine zusammenhängende Weltsicht bringen.

Herr Esfeld, die Nationale Akademie der Wissenschaften, deren Mitglied Sie sind, hat in der vergangen Woche erneut eine Ad-hoc-Stellungnahme zur aktuellen Corona-Lage herausgegeben. In dieser empfiehlt sie unter anderem eine Impfpflicht für sogenannte Multiplikatoren sowie die Offenlegung des Impfstatus gegenüber dem Arbeitgeber. Wie kommen derartige Stellungnahmen eigentlich zustande?

Es war auch dieses Mal so wie bei allen anderen Ad-hoc-Stellungnahmen zuvor: Man hat eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die dann einen Text verfasst hat. Die Leopoldina ist eine große Akademie mit mehr als 1.500 Mitgliedern. Da kann man nicht einfach jedes einzelne Mitglied um seine Meinung fragen. Soweit finde ich die aktuelle Vorgehensweise also vollkommen in Ordnung.

Aber?

Im Gegensatz zu Stellungnahmen aus der Vergangenheit gliedert sich der Text jetzt in ein Vorwort von Gerald Haug ...

 … dem aktuellen Präsidenten der Leopoldina …

… sowie den eigentlichen Text der Medizinexperten. Das, was Sie eingangs erwähnt haben, ist eine Empfehlung aus dem Vorwort. Das hat es bei anderen Stellungnahmen zum Thema bis dato so nicht gegeben. Das Vorwort erhält jetzt die Aufmerksamkeit der Medien. Ich bin Philosoph und kein Mediziner. Ich kann also die medizinischen Empfehlungen in dem eigentlichen Text nicht beurteilen. Aber ich finde es gut, dass man diesmal das Augenmerk auf Medikamente richtet, um Covid-19 zu behandeln. Dadurch eröffnet sich eine Möglichkeit zu mehr Freiheit. Es ist immer gut, wenn man in Situationen von Unsicherheit mehrere Strategien zur Verfügung hat.

Das heißt aber, dass das Vorwort den eigentlichen Inhalt zumindest partiell gar nicht wiedergibt?

In dem Vorwort wird ein weiteres Mal versucht, die Wissenschaft sozusagen als Waffe aufzufahren, um gegen Menschenrechte und Menschenwürde vorzugehen. Während der Innenteil betont, dass auch andere Strategien jenseits der Impfung sinnvoll sind, wird im Klappentext wieder der Hammer rausgeholt: Impfpflicht und Aufweichung der Privatsphäre. Das ist nicht nur nicht nachvollziehbar, das ist auch eine verpasste Chance. Auf diese Weise geht die eigentliche medizinische Stellungnahme in der Kontroverse um eine Impfpflicht unter. Dabei wissen wir inzwischen, dass die Impfung gegen das Coronavirus nicht mit Impfungen wie die gegen Pocken, Polio oder Diphterie vergleichbar ist: Wir können das Virus nicht durch eine einmalige Impfung ausrotten. Geimpfte können sich offenbar bereits nach einigen Monaten wieder infizieren und auch das Virus weitergeben. Deshalb ist es so wichtig, auch auf andere Strategien zu setzen. Es führt nicht weiter, neue Konflikte mit der Forderung nach einer Impf- und Auskunftspflicht zu schüren, statt verschiedene Strategien zum Umgang mit dem Virus zu fördern und zu respektieren.

Wird Ihr Einspruch innerhalb der Leopoldina zur Kenntnis genommen?

Nicht auf institutionelle Weise, aber unter den Mitgliedern wird durchaus darüber gesprochen.

Kann es überhaupt Aufgabe der Wissenschaften sein, in dieser Weise ein moralisches oder politisches Sollen zu formulieren, das auf ein letztgültiges Gutes gerichtet ist? War es nicht bis dato immer eher die Aufgabe von Wissenschaften, Wirklichkeit neutral zu beschreiben?

In einem Umfeld von Krisen ist es verständlich, dass die Gesellschaft nach Orientierung sucht. Früher war das die Sternstunde der Religion. Jetzt wird der Stab an die Wissenschaft weitergereicht. Die Wissenschaft aber kann diese Rolle nicht ausfüllen, und zwar aus dem Grund, den sie genannt haben: Sie ist objektiv und liefert Wissen über Tatsachen. Sie ist aber keine moralische Instanz. Natürlich ist Gesundheit ein allgemeines Gut. Aber der Versuch einer technokratischen Steuerung der Gesellschaft durch die Wissenschaft auf Gesundheitsschutz hin scheitert daran, dass die Menschen ganz verschiedene Lebensziele haben, aus denen sie Kraft schöpfen, und Risiken in verschiedener Weise abwägen, wie jetzt die Chancen und Risiken der Impfung. Wissenschaft kann da kein einheitliches Maß für alle vorgeben. Es wäre auch Bescheidenheit auf Seiten der Wissenschaft angebracht: Wir haben kein gesichertes Wissen, das man noch dazu sogleich für alle verbindlich politisch umsetzen könnte. Das sieht man jetzt wieder an der Impfung.

Und dennoch gerieren sich einzelne Wissenschaftler derzeit vermehrt als Gelehrte auf der Medienkanzel: Ist das nicht ein Wissenschaftsbild, das wir eigentlich hinter uns gelassen haben – gerade auch in der Medizin, wo Evidenz eigentlich an die Stelle von Eminenz getreten ist?

Ja, wir hatten hier Aufklärung im besten Sinne. Natürlich gab es immer Experten mit einem speziellen Wissen – der Physiker kennt sich mit der Gravitation aus, der Mediziner mit Viren und Bakterien. Aber wir hatten verstanden, dass es in der Moderne niemanden gibt, der über das absolute Wissen verfügt, mit dem man Gesellschaften steuern kann. Es ist geradezu Ausdruck einer aufgeklärten Gesellschaft, dass innerhalb von ihr verschiedene Lebensweisen friedlich und respektvoll miteinander existieren können – gerade auch in Zeiten der Krisen und Unsicherheiten.

Wenn wir Aufklärung hatten, was haben wir dann jetzt?

Ich nenne es die real existierende Postmoderne. In der Moderne gibt es Werte, die nicht relativierbar sind: die Anerkennung eines jeden als Person, die universellen Menschenrechte, auch die regulative Idee von Wahrheit. Letzteres meint, dass Wahrheit nicht relativ und beliebig ist, dass aber dennoch niemand einen privilegierten Zugang zu ihr hat. Wenn diese kategorischen Werte wegfallen, dann bleibt nur noch die reine Macht. Dann sind wir da, wo wir jetzt sind: Ein Narrativ wird mit verbaler Gewalt allen aufgedrückt. Es wird für unwissenschaftlich und unmoralisch erklärt, dieses Narrativ im Lichte von Vernunft, Verhältnismäßigkeit und Würde der Person auf den Prüfstein stellen zu wollen. Eine Behauptung wird mit verbaler Gewalt als wahr festgesetzt, nämlich einfach dadurch, dass sie von genügend Leuten in Medien verbreitet wird, die eben diese Medien als Experten präsentieren. Gegenteilige Behauptungen werden zu Falschmeldungen erklärt und gelöscht. Ein Wahrheitsanspruch ist kein Erkenntnisanspruch mehr, der Prüfung ausgesetzt und standhalten muss, sondern direkt und unmittelbar ein Autoritäts- und Machtanspruch zur Steuerung der Gesellschaft.

Es hat ja auch in der Vergangenheit immer wieder Versuche gegeben, Wissenschaft in den Dienst von Narrativen zu nehmen – denken Sie an den Marxismus.

In diesen alten Ideologien gab es ein absolutes Gutes – etwa die Utopie der klassenlosen Gesellschaft. Die heutigen postmodernen Narrative aber sind kontingent. Eine in der Tat vorhandene Bedrohung kann so hochstilisiert werden, dass man eine ganze Gesellschaft auf ein bestimmtes, aber austauschbares Ziel hin ausrichtet. Wie wir jetzt erleben, kann sogar der Ausbruch eines Virus dazu benutzt werden, eine Realität aufzubauen, in der die Gesellschaft durch eine gleichgeschaltete Wissenschaft bis in die Privatsphäre hinein umfassend gesteuert wird.

Wie aber kann es überhaupt so weit kommen, dass das Narrativ stärker als die Wirklichkeit wird?

Das liegt an den technischen Möglichkeiten, an den Medien. Auch die Totalitarismen des 20. Jahrhunderts konnten sich ja erst in dem Moment entwickeln, als das Massenmedium Rundfunk aufkam. Zuvor hatte jeder die Möglichkeit, die behauptete Faktenlage mit der eigenen Umgebung und der eigenen Wahrnehmung abzugleichen. Erst dadurch, dass man Medien zentral steuern und eine Botschaft an alle aussenden kann, sind derartige Totalitarismen möglich.

Das heißt, mit den modernen Medien kommt das Postfaktische in die Welt?

Ich will die Medien gar nicht schlechtreden, aber sie laden eben auch zu Missbrauch ein, und am Ende ist dann die Auswahl bestimmter Bilder und Texte stärker als die Realität. In weiten Teilen des alltäglichen Lebens erlebt man die Gefahr, die durch das Coronavirus ausgeht, ja nur über die virtuelle Realität – über die Bilder und über die Texte. Wenn man das statistisch einzufangen versucht, dann zerfließt das Narrativ recht schnell. Ich bin zwar kein Mediziner, aber ich bin in der Lage, Statistiken zu lesen. Beispielsweise wissen wir, dass 2020 in Deutschland im Durchschnitt nur rund 2% der Betten in den Krankenhäusern mit Covid-Patienten belegt waren und auch in den Spitzenzeiten nicht mehr als 5% der Betten. Zudem wurden mitten in der angeblich gefährlichsten Pandemie seit 100 Jahren in Deutschland und der Schweiz in großem Stil Intensivbetten abgebaut. Wenn Sie versuchen, das vorherrschende Narrativ zu überprüfen, merken Sie, dass zumindest eine sehr einseitige Darstellung vorliegt, obwohl natürlich ein Virus grassiert und Menschen ihm zum Opfer fallen. Die Frage ist die der Verhältnismäßigkeit im Vergleich zu anderen Gefahren und Problemen, mit denen wir konfrontiert sind.

Was wäre Ihrer Meinung nach der Ausweg aus dieser real existierenden Postmoderne?

Es muss um die Rückkehr zum Einsatz von Vernunft – und damit um das Fortschreiten auf dem Weg der Moderne – gehen. Das verlangt letztlich nicht mehr, als den Mut, sich wieder seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Der Kategorische Imperativ als Ausweg? Ist denn in der angeblich immer komplexer werdenden Gegenwart für den allgemeinen Küchenverstand überhaupt noch Platz?

Natürlich, denn das mit der Komplexität stimmt so nicht. Es war immer alles komplex. Man muss den Blick für das Wesentliche behalten: Das ist die Orientierung an Wahrheit in Bezug auf die Fakten in der Wissenschaft und die Orientierung an der Würde der Person im Handeln.

Sie plädieren also quasi dafür, den eigenen Intuitionen zu trauen. Wenn in der Postmoderne also alles nur noch Macht ist, dann ist der einzige Ausweg die Selbstermächtigung?

Es kann sich doch jeder ein eigenes Urteil bilden, wenn er sich einfache Fragen stellt. Eine solch einfache Frage könnte zum Beispiel lauten: Aktuell sind gut zwei Drittel der Menschen geimpft, vor einem Jahr war niemand geimpft – wie kann es dann sein, dass wir vor einem Jahr viele Infektionsfälle hatten, jetzt aber sogar noch mehr? Mit einfachen Fragen kann man weit kommen. Das gilt übrigens auch für die Philosophie als Wissenschaft. Ich sage meinen Studenten immer: Es ist letztlich einfach. Es geht um einfache Fragen. Man sollte nie glauben, dass die Welt zu komplex für den eigenen Verstand geworden sei. Denn dann wäre sie ja auch zu komplex für die Experten, die alle nur ein partielles Wissen haben, das man in ein Verhältnis zueinander setzen muss.

Die Fragen stellte Ralf Hanselle.

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