Leitkultur-Debatte - Er hat das L-Wort gesagt!

Lange war sie weg, nun hat der Psychologe Ahmad Mansour sie wieder ins Spiel gebracht: die Leitkultur. Braucht Deutschland vor der Bundestagswahl eine neue Debatte über die Regeln, die unsere Gesellschaft zusammenhalten?

„Ohne Leitkultur macht Willkommenskultur keinen Sinn", schreibt Hamed Abdel-Samad in seinem neuen Buch / dpa
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Leitkultur ist das Grundgesetz, die Meinungsfreiheit und Gleichberechtigung,“ so sprach Ahmad Mansour am Tag nach dem jüngsten Integrationsgipfel im Deutschlandfunk, angesprochen auf seine einstige Rede von der „zweifelnden deutschen Seele“. „Wir müssen uns darauf einigen, dass diese Werte unverhandelbar sind. Nur eine Gemeinsamkeit von Werten schafft eine Gesellschaft. Ansonsten ist Willkommenskultur nur Augenwischerei von Menschen, die moralischer sein wollen, aber letztendlich leben sie in ihrer heilen Welt, und die anderen bleiben woanders mit ihren Werten in ihrer Parallelgesellschaft.“

Hugh, Mansour hat gesprochen, und da ist es wieder, das L-Wort.

Ende der 90er Jahre vom konservativen Christdemokraten Jörg Schönbohm in den Ring geworfen und zwei Jahre später von Friedrich Merz aufgenommen, geistert es seitdem durch die deutsche Politik. Immer mal wieder wagt es ein konservativer Politiker, den Begriff vorsichtig in die Debatte zu bringen, wird dann regelmäßig von den Leitartiklern der Republik verdammt. Dann ist es wieder ruhig.

Dauerbrenner Leitkultur

Der langjährige Bundestagspräsident Norbert Lammert versuchte es 2005 und 2006, damals explizit ohne den Zusatz einer „deutschen“ Leitkultur. Das Wort – man glaubt es kaum – steht sogar im aktuell gültigen Programm der CDU, weniger verwunderlich ist, dass es im Programm der CSU steht, und überhaupt nicht verwunderlich, dass die AfD es sich auf die Fahnen schreibt. In den anderen Parteien wird exkommuniziert, wer das Wort auch nur erwähnt.

Der letzte Politiker von Rang und Namen, der das L-Wort aussprach, war 2017 der damalige Innenminister Lothar de Maizière. Er versuchte sogar, die Debatte mit zehn Punkten zu bereichern, die seiner Meinung nach zu unserer Leitkultur gehörten: Das Händeschütteln war darunter, die Allgemeinbildung, die Nicht-Verschleierung, der Leistungsgedanke. Aber auch de Maizière wurde souverän weggeprantlt.

Nun fordern Einwanderer die Debatte

Nun also Mansour, eingewandert 2004 aus Israel. Und obendrauf noch der 1995 aus Ägypten eingewanderte Publizist Hamed Abdel-Samad, der in seinem gerade erschienenen Buch „Aus Liebe zu Deutschland“ sekundiert: „Ohne Leitkultur macht Willkommenskultur keinen Sinn.“ Wird womöglich etwas aus der Debatte, wenn sie von Zuwanderern gefordert wird, die erkannt haben, dass eine unsichere Identität Zuwanderer nicht einlädt, sondern sie dazu ermutigt, sich abzugrenzen, wie Abdel-Samad schreibt?

Es ist nur wenige Tage her, da fällte das Mannheimer Verwaltungsgericht ein Urteil, das Mansour und Abdel-Samad aus der Seele sprechen dürfte: Ein Libanese, der seit 2002 (!) in Deutschland lebt und als Oberarzt in einer Klinik arbeitet, wollte deutscher Staatsbürger werden, absolvierte den Einwanderungstest und wollte sich nun seine Einbürgerungsurkunde abholen. Auf dem Landratsamt weigerte er sich aber, der Sachbearbeiterin bei der Übergabe die Hand zu geben – mit der Begründung, er habe seiner Frau geschworen, nie einer anderen Frau die Hand zu geben. Daraufhin weigerte sich wiederum die Staatsdienerin, ihm die Urkunde zu überreichen.

Eine Sachbearbeiterin beweist Chuzpe

Das Mannheimer Gericht gab ihr nun Recht: Der Kläger lehnt laut Gericht das Händeschütteln mit jeder Frau ab, weil sie ein anderes Geschlecht hat und damit per se als eine dem Mann drohende Gefahr sexueller Versuchung beziehungsweise unmoralischen Handelns gilt. Staatsbürger zu sein setze nach dem Staatsangehörigkeitsgesetz „eine tätige Einordnung in die elementaren Grundsätze des gesellschaftlich-kulturellen Gemeinschaftslebens voraus“, so die Begründung. Es wäre ein klassischer Fall falsch verstandener Toleranz gewesen, wenn die Sachbearbeiterin über die Sache hinweg gegangen wäre, dem Motto folgend: „Nun ja, andere Länder, andere Sitten.“ Es ist wichtig, dass das Gericht dieser Frau den Rücken gestärkt hat. Ihre Chuzpe und das Gerichtsurteil dienen damit anderen als Beispiel.

Mit der Debatte hängt auch der fürchterliche Mord an einem Geschichtslehrer bei Paris zusammen, der seinen Schülern Mohammed-Karikaturen gezeigt hatte. Die Tat schlägt auch in Deutschland Wellen. Denn wer den Verdacht hegt, dass es an bestimmten deutschen Schulen ebenfalls riskant ist, mit den Schülern am Beispiel der Mohammed-Karikaturen über Meinungsfreiheit zu diskutieren, der darf sich durch die Aussagen von Hans-Peter Meidinger, Chef des Deutschen Lehrerverbands, bestätigt fühlen: „Der Druck ist vor allem in Brennpunktschulen mit einem hohen Anteil von Schülern mit einem entsprechenden Migrationshintergrund sehr hoch", sagte er der Passauer Neuen Presse.

Nicht drücken vor der Debatte

Lehrer würden aufgefordert, Themen wie den Nahostkonflikt oder Israel nicht im Unterricht zu behandeln. Viele hätten wohl auch in Deutschland Angst, in einer Unterrichtsstunde über Meinungs- und Kunstfreiheit auf die Mohammed-Karikaturen zu verweisen. „Davon lassen diese dann lieber die Finger“, so Meidinger.

Um ein derartiges Klima an Schulen und außerhalb von Schulen wieder zurückzudrängen, ja um ein friedliches Zusammenleben in einer freiheitlichen Gesellschaft zu ermöglichen, muss die Öffentlichkeit sich immer wieder und in größtmöglicher Breite darüber vergewissern, nach welchen Regeln wir zusammen leben wollen. Nicht alle diese Regeln stehen sind im Grundgesetz festgeschrieben. Ob man dieses Werte-Gerüst, das unsere Gesellschaft trägt, am Ende Leitkultur nennt, ist nebensächlich. Die Debatte muss sein.

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