Leipzig-Connewitz - Wenn der Stein von links fliegt

In Leipzig-Connewitz wird an Silvester 2019 ein Polizist schwer verletzt. Doch plötzlich stehen nicht mehr Linksautonome im Fokus der Empörung, sondern die Polizei. 2020 wird die Debatte über Gewalt von und gegen Polizisten noch oft geführt. Dieser Artikel hat im Januar besonders viele Leser interessiert.

Polizisten räumen eine Kreuzung im Leipziger Stadtteil Connewitz in der Neujahrsnacht / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Kaum kommt die Umweltsau-Debatte zum Erliegen, dominiert eine neue, von politischen Lagern getriebene Debatte das Nachrichtengeschehen. Die Merkmale sind dabei recht ähnlich: Von Journalisten, Politikern und Aktivsten wird mit Unterstellungen, Vorverurteilungen und Empörung gearbeitet. Versuche zu differenzieren, werden im Keim erstickt. Zu sehr wird erwartet, dass man sich klar auf eine Seite stellt. Wer das nicht will, wird regelrecht zerlegt.

Die Sau wird dieses Mal durch Leipzig getrieben, genauer durch seinen weitgehend gentrifizierten Stadtteil Connewitz, der ganz ähnlich wie das Schanzenviertel in Hamburg zugleich als linksalternativ gilt. Neben hippen Bars, Restaurants und Clubs existiert dort eine linke Szene, die etwa im Jugendkulturzentrum „Conne Island“ zusammenfindet.

Not-OP oder dringend notwendige OP?

In Connewitz kam es in der Silvesternacht zu einem Polizeinsatz auf einer großen Straßenkreuzung, dem „Connewitzer Kreuz“. Polizeibeamte wurden beworfen mit Böllern, mit Steinen, mit Flaschen. Es gab unter den Beamten drei Leichtverletzte. Ein weiterer aber wurde so schwer verletzt, dass er nach Angaben der Polizei bewusstlos wurde, am Boden lag und trotzdem weiter attackiert wurde. In einer späteren Pressemitteilung sprach die Polizei dann von „Not-OP“. Tatsächlich stellte sich nach einem Bericht der taz heraus, dass es sich nicht um eine „Not-OP“, wohl aber um eine dringend notwendige OP gehandelt hatte. Denn dem betroffenen Polizisten soll das Ohr fast abgerissen worden sein. Die Polizei korrigierte daraufhin ihre Wortwahl.

Doch wegen dieses Wortes „Not-OP“ kocht nun eine heftige Debatte, auch weil ein paar ganz Schlaue daraus machten, der Polizist sei in Lebensgefahr gewesen, was die Polizei wörtlich nie behauptet hatte. In Zentrum der Diskussion aber stehen nun nicht etwa jene, die das Polizistenohr fast abgerissen, die Böller, Steine und Flaschen geschmissen und einen brennenden Einkaufswagen auf die Beamten fahren gelassen haben sollen. Die Polizei selbst steht am Pranger sowie der sächsische CDU-Innenminister Roland Wöller und all jene, die das Thema linksradikale Gewalt gerne ernst nehmen möchten. Die Polizei habe wegen ihrer Falschinformation ein echtes Glaubwürdigkeitsproblem, heißt es. Sie haben bewusst dramatisiert und gelogen. Man wolle politisch bewusst das Thema linksradikale Gewalt setzen, um etwa von rechtsradikaler Gewalt abzulenken.

Und dabei würden die Medien den Stadtteil Connewitz zu einer Hochburg der Linksradikalen hochstilisieren.Tatsächlich seien ja die paar 100 vom Verfassungsschutz registrierten Linksradikalen in Leipzig ein Klacks gegen die ansonsten ganz anständigen fast 20.000 Connewitzer. Journalisten, die diese Sicht wiederum kritisieren, wird vorgeworfen, man wolle das tatsächliche Problem, den Rechtsterrorismus, doch nur kleinreden, oder man gehe einer Polizeiagenda auf den Leim.

Esken und die Eskalationsspirale

Es ist ein semantischer Streit, den Sprachwissenschaftler vielleicht spannend finden könnten. Doch es ist ziemlich Ernst. Auch die SPD-Vorsitzende Saskia Esken meldete sich prompt zu Wort. Sie verurteilte die Gewalt, forderte aber Konsequenzen vom Innenminister für die Polizei. Eine falsche Polizeitaktik könne ja dazu geführt haben, dass Beamte unnötig verletzt worden seien. Ein Beleg dafür fehlt bislang. Zahlreiche weitere Politiker zogen nach. Sogar von einer unnötigen Provokation der Polizei ist die Rede. Glaubwürdige Belege dafür gibt es bislang nicht. Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel schoss sogleich scharf zurück. Zwar nannte er Esken nicht wörtlich. Doch er ließ über Twitter wissen: „Angesichts der massiven Silvestergewalt über Polizeitaktik zu diskutieren, wäre es besser, über die Gewalttäter zu reden. Die muss man politisch, medial und mit Polizei und Justiz bekämpfen, statt aus der Ferne über die Strategie der Polizei zu schlaumeiern.“

Die Schlaumeierei ist dann auch jene, die einen an der Debatte verzweifeln lässt. Sicher kann und muss auch über Konzepte gesprochen werden, die deeskalierend anstatt eskalierend wirken. Doch auch bei vielen journalistischen Kollegen gewinnt man den Eindruck, dass hier bewusst Ursache und Wirkung vertauscht werden, weil man irgendwelchen Anfängen wehren möchte, weil die Polizei ohnehin zu wenig kontrolliert werde, weil sie eine politische Agenda hin zu schwarz-blau verfolge. Selbst wenn das alles so zutreffen würde, bräuchte es für eine bewusste Lüge der Polizei in dieser Sache Beweise. Dass ein Mensch verletzt wurde, ob nun behandelt per „Not-OP“ oder „dringend notwendiger OP“, müsste trotzdem weiter im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen.

Wer Polzisten angreift ist ein Demokratiefeind

Man gewinnt den Eindruck, man dürfe linksradikale Gewalt kaum noch thematisieren, ohne sich den Vorwurf einzuhandeln, man wäre polizeihörig, auf dem rechten Auge blind oder schlicht naiv. Ein Debatten-Phänomen, das einen übrigens ebenso ereilt, wenn man rechtsradikale Gewalt thematisiert. Nur dass es dann heißt, nie würde über linksradikale Gewalt gesprochen. Oder: Das eigentliche Problem wären doch die Islamisten.

Ja, die Polizei ist heikles demokratisches Terrain. Mit ihrer Nähe zur Staatsanwaltschaft gibt sie institutionell immer zu denken, gerade wenn es um das Thema Polizeigewalt geht, bei dem sich Betroffene oftmals zurecht komplett allein gelassen fühlen und schikaniert. Es gibt immer Gründe, die zu irgendetwas führen. Aber am Ende trägt derjenige die Verantwortung, der glaubt, Polizisten ohne Not in mutmaßliche Lebensgefahr per Flaschen- Steine- oder Böllerwurf bringen zu können.

Das Zwei-Quellen Prinzip für Polizeimeldungen? 

Wer Polizisten angreift, ist ein Demokratiefeind. Denn die Polizei ist Teil unseres demokratischen Systems. Auch wenn unabhängige Kontrollinstanzen zurecht gefordert werden, auch wenn es dort dringend aufklärungsbedürftige rechtsradikale Umtriebe wie etwa in Hessen gibt. Und auch wenn die Polizei in Leipzig und in ganz Sachsen sich zurecht den Vorwurf gefallen muss, nicht genug gegen solche internen Nester zu tun.

Doch wenn deshalb der Polizei das Vertrauen gänzlich entzogen wird und sei der Anlass noch so semantisch wie beim falschen Wording Not-OP, zerstört das nur noch mehr Vertrauen. Fehler dürfen nicht passieren, aber sie passieren. Das journalistische Zwei-Quellen-Prinzip sollte deshalb auch, wenn immer möglich, bei Polizeimeldungen gelten. Wobei auch jedem klar sein muss, dass diese Forderung einem Realitätscheck kaum standhalten dürfte. Dann dürfte keine Polizeiinformation mehr das Licht der Öffentlichkeit durch die Medien erreichen, solange nicht eine zweite unabhängige Quelle zu Rate gezogen wurde. In Zeiten, wo auch die Polizei weiß, ihre Informationen über Social Media zu verbreiten, wäre das geradezu absurd.

Die „Kiezmiliz“ von Connewitz

So wie jetzt von Vielen beanstandet wird, dass die Polizei in Sachsen ohnehin ein Problem habe mit Rechtsextremismus in den eigenen Reihen und somit naturgemäß ein Problem mit Linksextremen habe. So muss auch beanstandet werden, dass Leipzig womöglich ein Problem mit Linksextremismus hat. Denn immer wieder gibt es hier Brandanschläge, werden Polizisten und andere Menschen angegriffen oder Wohnungsbauprojekte beschädigt und Bagger angezündet.

Erst im November drangen zwei Vermummte in die Privatwohnung der Angestellten einer Immobilienfirma ein, schlugen ihr ins Gesicht und hinterließen ein Drohschreiben, unterschrieben mit „Kiezmiliz“. Zu lesen war darin, dass Eigentumswohnungsprojekte „eine Bedrohung für Connewitz als politischen Raum“ darstellen würden. In einem anderen Schreiben der „Kiezmiliz“ war zu lesen: „Wir hoffen, dass die Bullen irgendwann verstehen, dass sie in Connewitz unerwünscht sind und es auch in Zukunft keine gute Idee ist, die BewohnerInnen des Viertels durch ihre Präsenz zu belästigen“.

„Wir lehnen den Dialog mit ihnen ab“

Auf der von Linksautonomen genutzten Internetplattform „Indymedia“ ist unterdessen ein anonymes Schreiben zur Connewitzer Silvesternacht aufgetaucht. Die Verfasser beklagen darin eine zunehmende Polizeigewalt, Repressalien und Schikanen in Connewitz. Es sei „erfreulich“ gewesen, dass „viele Menschen solidarisch [...] reagiert“ hätten und sich beteiligt hätten an Angriffen gegen die Polizei, heißt es. Mit dieser würde man außerdem nicht sprechen wollen. Es heißt: „Wir lehnen den Dialog mit ihnen ab, solange sie ihre Uniformen tragen und ein System der Ungerechtigkeit mit Brutalität verteidigen.“

Es lässt sich also sehr trefflich über gewaltbereiten Linksextremismus in Leipzig diskutieren und darüber, wie man diesen bekämpfen kann. Zumal hier in diesem Jahr der Gipfel zwischen China und der EU stattfinden soll, ohne ein zweites G20 wie in der Hamburger Schanze erleben zu müssen. Das ist vielleicht tatsächlich wichtiger als über eine teil-missglückte Pressemitteilung der Polizei zu debattieren. Trotzdem muss in den kommenden Wochen sehr genau hingeschaut werden, was der CDU-Innenminister Roland Wöller und die CDU in Leipzig veranstalten. In wenigen Wochen ist dort Oberbürgermeisterwahl, und es tritt ausgerechnet der umstrittene, ehemalige CDU-Justizminister Sebastian Gemkow an, der inzwischen Wissenschaftsminister ist und der zusammen mit Roland Wöller erst im November die Sonderkommission gegen Linksextremismus (Linx) installiert hatte.

Eines sollten dabei aber alle beherzigen, alles notwendige Debattieren über Linksextremismus hindert niemanden daran, auch über Rechtsextremismus in Leipzig oder sonstwo zu diskutieren und darüber, wie man diesen bekämpfen kann. Weder das eine noch das andere darf man unterlassen, wenn die politische Mitte gestärkt werden soll, auch in polarisierten Zeiten. Was wir aber fast noch dringender brauchen ist Entpörung statt Empörung. Zurück zur Sachlichkeit!

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version des Artikel war davon die Rede, Saskia Esken habe Konsequenzen von der Polizei gefordert. Richtig ist: Saskia Esken forderte Konsequenzem vom sächsischen Inneminister für die Polizei. Wir haben dies korrigiert.

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