Kritik an Corona-Politik - Es geht auch ohne Lockdown!

Die Bekämpfung der Corona-Pandemie ist in vielen europäischen Ländern gescheitert, und die Bundesrepublik macht da keine Ausnahme. Kein Wunder, wenn man auf Methoden aus dem 17. Jahrhundert vertraut. In einem Gastbeitrag schreibt die Biomedizinerin Christiane Wetzel, was versäumt wurde – und wie es besser laufen würde.

Ein elektronischer Impfpass würde schon sehr weiterhelfen / dpa
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Autoreninfo

Christiane Wetzel habilitierte sich auf dem Gebiet Biomaterialien. Sie war Leiterin einer biomedizinischen Laboreinheit am Fraunhofer Institut für Organische Elektronik, Elektronenstrahl- und Plasmatechnik in Dresden.

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Demokratische Verhältnisse kann man nur erhalten, wenn die Grundrechte jedes einzelnen Bürgers gewahrt bleiben. Sobald sich Verordnungen als widersprüchlich, unlogisch und damit für den Einzelnen als nicht nachvollziehbar darstellen, entsteht eine Diskrepanz, ein Glaubwürdigkeitsproblem. Mangelnde Objektivität spaltet zunehmend die Gesellschaft.

Das Coronavirus Sars-CoV-2 ist allgegenwärtig, die Covid-19-Erkrankung kann schlimme Auswirkungen für den Einzelnen haben. Das Virus und seine Mutanten werden uns Jahre begleiten. Ohne die Bereitschaft des Staates und der Bevölkerung, ohne ihre Kooperation, bleiben Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung wirkungslos. Voraussetzung dafür sind eine ehrliche, objektive Kommunikation durch die politischen Entscheidungsträger und die Möglichkeit, Maßnahmen zu hinterfragen, ohne diffamiert zu werden. Und es bedarf auf allen Seiten viel Kreativität.

Pragmatische, unbürokratische Lösungen sind erforderlich. Das Krisenmanagement lässt bisher jedoch keine langfristige Strategie erkennen. Doch es kann durchaus eine tragfähige Lösung für ein Leben ohne Lockdown geben, denn das Virus ist gekommen, um zu bleiben.

Wie läuft das mit den Viren?

Coronaviren sind nur wenige hundert Nanometer kleine Pathogene, die lediglich aus Erbmaterial (Nukleinsäure: DNA oder RNA) und der umgebenden Eiweißhülle bestehen. Auf dieser Hülle befinden sich spezielle Zucker-Eiweiß-Moleküle, die wie ein Schlüssel ins Schloss zu Strukturen auf einer bestimmten Zellart unseres Körpers passen und das Eindringen des Virus in die Wirtszelle ermöglichen. Denn ohne Wirtszelle können Viren weder existieren, noch sich vermehren. Im Inneren der Wirtszelle gibt der Erreger seine Erbsubstanz aus der Eiweißhülle frei und nutzt die Maschinerie der Wirtszelle aus, um massenhaft Kopien der Erbsubstanz des Virus und der viralen Hüllenproteine herzustellen. Hülle und Erbsubstanz fügen sich zu neuen Viren zusammen, so dass am Ende Tausende davon entstehen und die Wirtszelle verlassen, um Nachbarzellen zu befallen.

Coronaviren (CoV) sind RNA-Erkältungsviren, die uns schon seit langer Zeit begleiten. Der derzeitige Typ Sars-CoV-2 benutzt wie der Sars-Erreger aus der Epidemie der Jahre 2002/2003 das Rezeptormolekül ACE2 (Angiotensin Converting Enzyme 2) als Pforte. ACE2 ist ein Enzym auf der Oberfläche von Epithel- und Endothelzellen in der Lunge, aber auch von Herzmuskelzellen, in den Nieren und im Darm. ACE2 hat eigentlich eine Schutzfunktion. Es spaltet Angiotensin II und reguliert dadurch das Gleichgewicht des Wasserhaushaltes und die Aufrechterhaltung des Blutdruckes. Bindet das Virus nun an ACE2, gelangt es in die Zellen. Fatalerweise verschwindet ACE2 dadurch von der Zelloberfläche und kann dann Angiotensin II nicht mehr spalten. Die Folge in der Lunge: schwere akute Lungenschäden, die Symptomatik der Covid-19 Erkrankung. 

Die Expression des ACE2 in der Niere, im Herzen und im Darm könnte das multiple Organversagen bei Covid-19 erklären.

Was der Körper dagegen tun kann

Unser Immunsystem kann Viruserkrankungen erkennen und schnell und effizient abwehren – oft ohne, dass wir schwere Erkrankungssymptome zeigen. Die Nukleinsäure der Viren unterscheiden sich strukturell von unserem Erbgut. Dadurch, oder durch den plötzlichen Anstieg der Menge an Nukleinsäure, spüren die befallenen Zellen die Infektion und melden die Gefahr an die Zellen des Immunsystems. Dieses reagiert zunächst schnell durch natürliche Killerzellen (NK-Zellen), nachfolgend durch die Bildung und massive Vermehrung von Virus-spezifischen T-Zellen und B-Zellen. B-Zellen sind verantwortlich für die Bildung von Virus-neutralisierenden Antikörpern, die so die Bindung des Virus an neue Wirtszellen verhindern können. 

Für die komplette Beseitigung der Virusinfektion müssen jedoch die befallenen Zellen abgetötet werden, damit sie die Viren nicht weiter vermehren und freilassen. Das ist die Aufgabe der NK-Zellen und T-Zellen. Sind viele Zellen in einem Gewebeverband, wie der Lunge, befallen, dann geht das jedoch mit massiven Gewebeschäden einher. Bei schweren Verläufen von Covid-19 zeigt sich also diese Kehrseite der Immunabwehr: Es kommt zu einer überschießenden Aktivierung der angeborenen Immunantwort (neben NK-Zellen vor allem Makrophagen und neutrophile Granulozyten) und der erworbenen Immunantwort (T-Zellen und B-Zellen).

Der resultierende Zytokinsturm und die massive Anreicherung der Zellen in den Lungengeweben und in anderen Organen kann zu Schädigungen und Verstopfungen der Blutgefäße führen und dadurch ebenfalls zum multiplen Organversagen beitragen. Dadurch werden gegenwärtig bei schweren Verläufen Therapieansätze geprüft, die die Immunantwort unterdrücken.

Während bei Sars-CoV-2 Antikörpertests bereits routinemäßig durchgeführt werden, ist über die spezifische T-Zellantwort bislang wenig bekannt. Vorerfahrungen mit zwei anderen Coronaviren (Sars-CoV-1 und Mers-CoV-2) sowie erste Berichte über Genesene legen nahe, dass die T-Zellantwort auch hier, wie bei den anderen Virusinfektionen, eine bedeutende Rolle bei der Abwehr spielt. Es gibt noch keine einheitliche wissenschaftliche Expertise; weltweit wird auf allen entsprechenden Fachgebieten fieberhaft geforscht.

Wie kann man das Geschehen statistisch bewerten?

Kenngrößen, die eine Epidemie beschreiben, werden vom Robert-Koch-Institut (RKI) im Epidemologischen Steckbrief zu Sars-CoV-2 und Covid-19 beschrieben. Aktuelle Zahlen für Deutschland finden sich im Lage-/Situationsbericht zu Covid-19. Die genannten Daten bezieht sich auf den 31.01.2021.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Der 7-Tage-R-Wert, ist jedoch nicht zu verwechseln mit dem sogenannten 7-Tage-Inzidenzwert, der von der Bundesregierung festgelegt wurde und in den Medien kommuniziert wird. Sondern er ist der Quotient aus den Neuinfektionen innerhalb einer bestimmten Personengruppe einer Stadt oder Region während einer bestimmten Zeiteinheit (7 Tage) und der Gesamtbevölkerung dieser Stadt oder Region.

Um eine Vergleichbarkeit zwischen Städten und Region zu ermöglichen wurde festgelegt, den Wert auf 100.000 Einwohner zu beziehen. Die politischen Entscheidungsträger haben als „Maß“ für die Bekämpfung der Pandemie einen Grenzwert kleiner oder gleich 50 Neuinfektionen festgelegt. Doch dazu fehlt jegliche wissenschaftliche Evidenz. Der 7-Tage-Inzidenzwert bekommt eine überhöhte politische Bedeutung. Auf seiner Basis werden Maßnahmen veranlasst, die in die Grundrechte der Bürger eingreifen. So bereits geschehen am 18.11.2020, als Bundestag und Bundesrat (gegen den Rat der Bundestagsjuristen) das „Dritte Bevölkerungsschutzgesetz“ im Eilverfahren verabschiedeten und damit den Grenzwert 50 zum Gesetz erhoben. 

Von den meisten Bürgern wird der 7-Tage Inzidenzwert als wissenschaftlich getragen und als alleinige Kenngröße für die Dynamik einer Pandemie wahrgenommen. Drei Argumente jedoch sprechen dagegen.

Erstens ist es in der Wissenschaft weder üblich noch akzeptabel, eine These oder Behauptung mit nur einer Kenngröße zu untermauern.

Zweitens: Eine bundesweite Demarkationslinie von 50 Neuinfektionen ist wissenschaftlich nicht determiniert; sie entstand vielmehr während einer Ministerpräsidentenrunde im Mai 2020. Die Bundeskanzlerin hatte argumentiert, dass der Grenzwert ein Maß sein sollte, ab welcher die Gesundheitsämter Kontakte von Infizierten nicht mehr nachverfolgen könnten und deswegen das Infektionsgeschehen außer Kontrolle gerät. Doch die Kapazität der Gesundheitsämter ist weder bundesweit, noch zwischen ländlichem Raum und Ballungsgebieten vergleichbar. Wenn überhaupt eine gesellschaftspolitisch tragfähige Größe als Grenzwert akzeptabel wäre, dann die Auslastung der Krankenhäuser und Intensivstationen, insbesondere die Kapazität an Personal. Dieser Ansatz ist übrigens nicht neu. Es steht bereits im Nationalen Pandemieplan (Teil 2, Punkt 5.3), dass sich bei einer pandemischen Situation die erforderlichen Maßnahmen nach Krankenhausbetten, medizinischem Personal, intensivmedizinischen Betten und Beatmungsplätzen richten müssen.

Drittens: Die Bezugsgröße von 100.000 Einwohnern ist ein politisches Argument. In der praktischen Anwendung kann sich bei kleinen Orten ein völlig falsches Bild ergeben. Der Nenner des Bruchs wird dann zu klein und damit der Wert des Bruches zu groß. Mathematisch ist das nicht falsch, aber scheitert in der Praxis beziehungsweise  führt zu Horrorszenarien. Beispiel: Im Dezember 2020 war in der Presse (mit Berufung auf die Landesregierung) zu lesen, dass in 19 ostsächsischen kleinen Städten und Gemeinden die Inzidenzwerte deutlich über 1000 lägen, teilweise an der 3000er-Marke kratzten und es in Bayern nicht viel anders aussähe.

Schaut man genau hin, so kommt man zu folgender unseriösen Zahlenspielerei: Nach der angewiesenen Berechnung kommt die sächsische Gemeinde Jonsdorf mit 33 Covid-19-Erkrankten auf einen Inzidenzwert von 2.131 (ohne Maßeinheit). Das ist jedoch völlig unrealistisch und irreführend, denn der Kurort Jonsdorf hat nur 1.548 Einwohner. Da stellt sich die Frage: Wieso bezieht man die Berechnung überhaupt auf 100.000 Einwohner? Die angestrebte Vergleichbarkeit zwischen kleinen und großen Kommunen wäre auch mit einer schlichten Prozentrechnung gegeben. Das entspräche dann einer unspektakulären Pressemitteilung wie etwa: „Im Kurort Jonsdorf sind 2,13 % der Einwohner an Covid-19 erkrankt .“ 

Tatsächlich ist es schwierig, auswertbare Datenreihen zu generieren. Bei ständig wechselnden Bestimmungen ändern sich die Randbedingungen, Einflussfaktoren, dynamischen Größen und biologische Varianzen. Die Vergleichbarkeit ist dadurch äußerst begrenzt.

Eines der wenigen Beispiele, das die Kriterien zur Berechnung des aussagekräftigen „Manifestationsindex“ erfüllt, fand sich am Beispiel der Fleischfabriken Tönnies in Gütersloh. Die Betroffenen kann man als eine Kohorte bezeichnen (gleicher Zeitraum und Ort, arbeitsfähiges Alter, sehr ähnliche Arbeits- und Lebensbedingungen). Insgesamt wurden 1.600 Personen positiv auf Sars-CoV-2 getestet, aber nur 20 Getestete erkrankten an Covid-19. Das entspricht einem Manifestationsindex von 1,25 %. Also bei weitem geringer als der Wert vom RKI im Epidemologischen Steckbrief mit 55 - 85 %.

Der Wert vom RKI ist nicht anzuzweifeln. Doch bei einer Kohorte in Alten- und Pflegeheimen sieht der Manifestationsindex eben ganz anders aus. Dieses Beispiel verdeutlicht, dass eine Gesamtbevölkerung nicht aus einer einzigen Kohorte besteht. Es ist daher Aufgabe der politischen Entscheidungsträger und ihres Krisenmanagements, für unterschiedliche Bevölkerungsgruppen unterschiedliche Lösungsansätze zu wählen. Im Klartext: Alle in den Lockdown zu schicken ist keine Lösung.

Die Pandemie mit und ohne Lockdown

Anhand der Datenlage ist die Letalitätsrate die zuverlässigste Größe für einen weltweiten Vergleich. Nach einem Jahr „Erfahrung“ mit Covid-19 ist das Datenvolumen groß genug, um die statistischen Fehler klein zu halten. Die Daten für Deutschland stammen vom Robert-Koch-Institut aus dem Lage-/Situationsbericht zu Covid-19 vom 31.01.2021. Die weltweiten Daten finden sich unter www.worldometers.info/coronavirus.

Die 100 bevölkerungsreichsten Länder der Welt werden vollständig dargestellt und zeitnah aktualisiert. Die Rangordnung erfolgt nach der Anzahl an Covid-19 Verstorbenen pro 1 Million Einwohner. Die Quellen bilden die Basis für Tabelle 2. Aufgelistet sind die 39 Staaten mit der höchsten Anzahl an Todesfällen sowie Taiwan und Thailand. Bei fast allen afrikanischen Ländern ist die Anzahl der an Covid-19 Erkrankten (z. B. Tansania 8, Burundi 95) und an Todesfällen sehr gering, obwohl die dysfunktionalen Gesundheitssysteme, Korruption und schlechte Regierungsführung den Erfolg konterkarieren. Ursache für die geringe Sterblichkeit ist neben spezifischen Einzelfaktoren (Klima, Gene, Immunsystem) das geringe Durchschnittsalter. Es liegt für Afrika zwischen 17 und 18 Jahren. Zudem kann die Zuverlässigkeit der statistischen Erhebungen nicht signifikant eingeschätzt werden. Afrika wird in den weiteren Ausführung nicht berücksichtigt.

Letalitätsraten zur Covid-19 Pandemie bezogen auf die 100 bevölkerungsreichsten Länder. Das Ranking erfolgt nach den höchsten Zahlen an Covid-19 Verstorbenen pro 1 Mill. Einwohnern (Stand 31.01.2021).

Tabelle 2:

 

Die Länder verfügen über völlig unterschiedliche Bedingungen: Klima, Umwelt, Bildung, Kultur, Bevölkerungsdichte sowie gesellschaftliche und wirtschaftlich Verhältnisse. Würden alle Faktoren einbezogen, müsste man eine partielle Integration bemühen. Aber bereits auf den ersten Blick zeichnen sich drei Bereiche ab, die Schlussfolgerungen zulassen.

Die Übersicht zeigt: geringe Letalitätsraten unter 1,0 % (grün), das große Mittelfeld (schwarz) und hohe Werte über 4,0 % (rot). Länder mit einer Letalitätsrate über 4,0 % sind die Verlierer in der Pandemie, sie haben oft große politische Probleme. Es trifft überwiegend die lateinamerikanischen Staaten. Obwohl der Altersdurchschnitt z. B. in Mexiko bei 26,6 Jahren liegt, hat das Land die höchste Letalitätsrate von 8,49 %. Nur 10 % der mexikanischen Bevölkerung sind ausreichend versichert; Dienstleistungen des Gesundheitssystems werden komplett auf dem freien Markt gehandelt. Die mexikanische Regierung verfolgt zwar einen ambitionierten Reformplan, ist aber im Kampf gegen Korruption und wegen der schwierigen Sicherheitslage völlig überfordert.

Länder mit einer Letalitätsrate unter 1,0 % beweisen, dass sie in der Pandemie bisher fast alles richtig gemacht haben. Gesundheitssystem und Regierung sind der Situation gewachsen. Die Herangehensweise ist völlig unterschiedlich, aber die Bevölkerung trägt die Entscheidungen mit. Das trifft insbesondere auf den Asien-Pazifik-Raum zu.

Diese Länder haben unterschiedliche Herangehensweisen, um die Pandemie zu bewältigen. Bemerkenswert ist, dass Länder mit strengen Einreisebedingungen und einem hoher Grad an Digitalisierung einen Lockdown für ihre Bevölkerung verhindert konnten. Ein überzeugendes Beispiel ist Taiwan. Es hat aus den bitteren Erfahrungen der Sars-Pandemie 2002/2003 (Sterbefälle für über 60-Jährige oberhalb von 48 %) die richtigen Schlussfolgerungen gezogen und strikt umgesetzt. Die Regierung investierte intensiv in das Gesundheitssystem sowie in Fachpersonal. Mit einer nationalen Gesundheitsversicherungsdatenbank werden im Ernstfall die Risikogruppen identifiziert.

Obwohl Taiwan wie schon bei der Sars-Pandemie keinen Zugriff auf WHO-Ressourcen hat (Blockade durch China), gab es bereits am 20. Januar 2020 einen Vorrat von 44 Millionen OP-Masken und 1,9 Millionen N95-Masken Für Einreisende gibt es jedoch sehr harte Quarantäneregeln. Für sie stehen 1.100 Isolationszimmer mit Unterdrucksystem sowie Quarantäne-Taxen und -Hotels zur Verfügung. Trotz sehr hoher Bevölkerungsdichte kommt Taiwan ohne Lockdown aus.

Das gilt auch für Island, der Primus in der europäischen Pandemiebekämpfung. Island arbeitet von Anfang an mit einem erfahrenen US-Pharmaunternehmen zusammen. Es gelang, größere Ausbrüche zu verhindern, obwohl es seine Grenzen auch für Touristen offen hält. Im September 2020 drohte eine zweite Infektionswelle. Zur Vorsorge hat man vor allem auf ein umfangreiches Covid-19-Screening gesetzt. Die Einreisebestimmungen sind allerdings sehr streng. Einreisende müssen entweder 14 Tage nach der Ankunft in Quarantäne (Hotels) oder an zwei Screening-Tests teilnehmen. Die Strategie Islands ist konsequent, kommt aber ohne Lockdown aus.

Im Gegensatz zu Island ist Israel keine Insel. Das Land steuert ständig auf einen Lockdown zu, was aber in erster Linie auf das kontraproduktive Verhalten der ultraorthodoxen Juden und vieler Moslems zurückzuführen ist. Die Regierung versucht gegenzusteuern; bereits im Juni 2020 wurden Maßnahmen ergriffen, um einer zweiten Welle vorzugreifen (Impfstoff-Akquise). Jeder Bürger ist per Gesetz verpflichtet, Mitglied in einer der vier Gesundheitspflegeorganisationen (Health Maintenance Organizations, HMO) mit einer elektronischen Patientenakte zu sein.

Diese Vernetzung spart kostbare Zeit. Die Gesundheitsorganisationen besitzen eigene Kliniken, Institute und Apotheken. Das Durchschnittsalter der Israelis von 30,1 Jahren und ein niedriger Anteil an über 65 Jährigen mit 11,8 % ist ebenfalls ein Grund für eine Letalitätsrate von 0,70 %.

In Weißrussland hingegen war es eine der politischen Entscheidungen, keinen Lockdown anzuordnen. Begründet wurde das regierungsseitig mit der wirtschaftlichen Lage. Bereits am 28. Februar 2020 wurde der erste Covid-19-Fall bestätigt. Obwohl die WHO mehrmals Maßnahmen zur räumlichen Distanzierung empfahl, blieben die Schulen, Universitäten, Geschäfte, Restaurants und Flughäfen offen. Es gab lediglich Distanzempfehlungen für Großveranstaltungen, Gottesdienste und Demonstrationen. Im November 2020 wurde für Weißrussland ein neuer Höchstwert gemeldet, die wöchentlichen Todesfälle blieben jedoch konstant.

Die Reisefreudigkeit, die offenen Grenzen und die immensen Warenströme machen die Pandemiebekämpfung für Europa, speziell für Mitteleuropa, besonders problematisch. Wie gut die Länder gerüstet waren, zeigt der Globel-Health-Security-Index (GHS-Index) von 2019. In der Rubrik Vernetzung bzw. „Schnelles Reagieren“ wurde die Verknüpfung von Gesundheits- und Sicherheitsbehörden, Einsatz im Notfall, Handels- und Reisebeschränkungen und Risikokommunikation mit maximal 100 Punkten bewertet. In dieser Tabelle ist der GHS-Index für die Rubrik Vernetzung in Zusammenhang mit der Letalitätsrate und dem prozentualen Anteil an über 65 jähriger für Deutschland und seine unmittelbaren Nachbarländer (außer Luxemburg) aufgelistet.

Während in einigen Ländern, insbesondere die Niederlande und die Schweiz gut auf eine Pandemie vorbereitet waren, haben andere eklatante Schwierigkeiten. Derzeit läuft es auf Aktionismus in vielen Ländern Mitteleuropas hinaus, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht haben. Ein Beispiel ist Belgien. Die Befugnisse liegen nicht beim Föderalstaat, sondern bei den Regionen. Erschwerend kommt hinzu, dass sich in Belgien neun Minister und Staatssekretäre die Verantwortung und Zuständigkeiten für Gesundheitspolitik teilen. Von den bis zum 28. Mai 2020 registrierten Todesfälle entfielen rund 47 % auf Krankenhäuser und 51 % auf Alters- und Wohnheime.

Die Summe der weltweit bestätigten Infektionen an Covid-19 beläuft sich zum 31.01.2021 auf über 108 Millionen. Wie schwer die Menschen erkranken, ob sie genesen oder sterben ist abhängig:

- vom individuellen Gesundheitszustand der einzelnen Bürger, einschließlich Alter.
- vom Gesundheitssystem, einschließlich Krankenhauskapazität.
- von gesellschaftspolitischen Verhältnissen und Strategien zur Bekämpfung der Pandemie.
- vom Grad der Digitalisierung zur effizienten Datenübermittlung.

Weltweit belief sich die Letalitätsrate zum 31.01.2021 auf ca. 2,1 %. Das ist schlimm und nicht zu leugnen, die Zahl sollte aber auch realistisch betrachtet und im Kontext zur allgemeinen Fallsterblichkeit von Viruserkrankungen gestellt werden. Dazu muss man gar nicht ins Mittelalter gehen und die Lungenpest mit eine Letalitätsrate von 100 % bemühen. Die in der folgenden Tabelle dargestellten Virusausbrüche im Zeitraum von 1967 bis 2020 überzeugen ebenso.

 

 

 

 

 

 

 

 

Warum wir trotz Lockdown scheitern

Aufgrund der Datenlage für Deutschland ist die Letalitätsrate gegenwärtig mit 2,56 % etwas über dem weltweiten Durchschnitt. Bei einem hohen Altersdurchschnitt von 45,7 Jahren, einem Anteil von 9,5 % Schwerbehinderten und 4,5 Mill. über 80-Jährigen ist das ein begründbarer Wert im Mittelfeld. Von den an/mit Covid-19-Verstorbenen waren 75 % der Betroffenen älter als 80 Jahre.

Natürlich sterben in einer Pandemie mehr Menschen als zu normalen Zeiten. Die vollen Krematorien im Dezember führten es vor Augen. Dazu muss aber die Übersterblichkeit differenzierter betrachtet werden. Die Letalitätsrate kann jedenfalls nicht als Begründung herhalten, um die Bürger in den Lockdown zu schicken und diesen ständig zu verlängern.

Der Global-Health-Security-Index (GHS-Index) liefert umfangreiche Daten in sechs Kategorien mit Unterkategorien. Deutschland belegte im Gesamtranking von 195 Ländern einen guten 13. Platz. Doch diese Platzierung ist nicht so wichtig; im Ernstfall zählen die entscheidenden Positionen. Der Gesamtwirkungsgrad eines Systems wird immer durch sein schwächstes Glied bestimmt. Das heißt, wenn das deutsche Gesundheitssystem in einzelnen Unterkategorien null Punkte bekommt, gibt es im Ernstfall gravierende Probleme – so wie jetzt.

In den Bereichen Bereitstellung relevanter Daten durch das Robert-Koch-Institut erhielt Deutschland sehr gute Werte. Etwas kritisch gesehen wird die Forschung. Hier wurden zu wenig Kooperation und keine vernetzte Bestandsaufnahme vorgefunden. Bei der Kapazität an Intensivbetten liegt Deutschland weltweit pro 100.000 Einwohner sowie Menschen über 65 Jahren auf dem 3. Platz. Die Bettenkapazität außerhalb der Intensivstationen ist durch ökonomische Zwänge rückläufig.

Noch schlimmer wirkt sich die Personalsituation aus. Während im Gesundheitssektor in Helsinki 520 Ärzten eine stattliche Zahl von 5400 Krankenschwestern zur Seite stehen, sind die Zustände in deutschen Kliniken und Pflegeeinrichtungen teilweise sehr schlecht.

Im GHS-Index bekam Deutschland null Punkte für die Kommunikation und Kooperation mit Beschäftigten im Gesundheitssystem. Ebenfalls mit null Punkten wurde das Zulassungsgeschehen bewertet. In Deutschland gibt es keine Pläne für eine beschleunigte Zulassung von Medikamenten in einer Pandemie. Vielmehr lehnte das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen die Pläne der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) zur Beschleunigung der Zulassung neuer Medikamente ab.

In Summe hat Deutschland als hochentwickelte Industrienation in der Kategorie „Gesundheitssystem“ mit 48,2 Punkte nicht einmal die Hälfte der 100 möglichen Punkte erreicht.

Das Virus ist gekommen um zu bleiben. Der Ausbreitung eines so kontagiösen Virus muss man auf vielen Wegen begegnen – auch digital. Der Faktor Zeit spielt dabei die entscheidende Rolle. Wenn z. B. in Island ein Test positiv ausfällt, löst das zwei Aktionsketten aus: eine im Krankenhaus und eine im Labor. Im Krankenhaus wird die Person in einer zentralen Datenbank registriert und für eine 14-tägige Isolation in einer Covid-Ambulanz eingeschrieben sowie in einem nationalen elektronischen Patientendatensystem erfasst. Im Labor wird jede Probe auf die in ihr enthaltene Viruslast getestet. Sie ist der Indikator für die Ansteckungsgefahr, den Schweregrad der Krankheit und die sofortige Therapie – bevor der Mensch in Atemnot gerät.

Je besser ein Land digital aufgestellt und vernetzt ist, desto weniger Menschen müssen isoliert werden. Wenn man das nicht schafft, muss man alle isolieren: Das nennt man Lockdown. Der Lockdown ist eine Methode aus dem 17. Jahrhundert, als Papst Alexander VII. damit die Pest eindämmen wollte. Es ist eine Tragik, dass Deutschland in der Digitalisierung den Anschluss verpasst hat – und es ist ganz sicher nicht die Schuld der Bürger. In Deutschland braucht es überhaupt erst einmal einen funktionierenden Datenfluss. Es gibt nur einen (zum Teil mit Fax-Geräten betriebenen) Flickenteppich; dabei braucht es ein effizientes Netzwerk, von den Quellen (Arzt, Krankenhaus, Apotheke, Test- und Impfstelle) zu denjenigen, die die Informationen verarbeiten und weiter bis zu den Kommunen und Entscheidungsträgern.

Die jetzige Datensituation ist inkompatibel, zeitverzögert, unvollständig, schlecht erhoben und mit unklarer Zuständigkeit. Deshalb bekam Deutschland bereits im Vorfeld der Pandemie im GHS-Index für die Kategorie „Vernetzung“ null Punkte. Selbst Kanzleramtschef Helge Braun ist inzwischen aufgefallen, dass 90 % der verfügbaren Daten nicht genutzt werden.

Für die Umsetzung einer neuen Datenstrategie (beschlossen übrigens erst Ende Januar 2021!), als Teil der Digitalisierungsstrategie, fehlt Deutschland jeglicher Pragmatismus. Bevor alle Empfehlungen der verschiedenen Expertengremien (Digitalisierungsrat, Datenethikkommission, Kommission Wettbewerbsrecht 4.0) eingearbeitet sind, hat sich das Virus nach dem Schneeballprinzip heftig vermehrt.

Im Nationalen Pandemieplan von 2016 ist festgehalten, dass die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung im Vordergrund steht. „Darüber hinaus sind weitere öffentliche Dienstleistungen von Bedeutung. Ressourcenplanung und das Ressourcenmanagement sind Aufgaben der Länder.“ Diese Entscheidungshoheit der Bundesländer wurde und wird nicht gewährleistet. Das Krisenmanagement der Bundesregierung hat von Anfang an versagt. Erst am 25. März 2020 stellte der Bundestag eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ fest.

Auch da war Island wesentlich schneller. Bereits Anfang Januar 2020, also zwei Monate vor der Ankunft des Virus in Reykjavik, wurde ein Frühwarnsystem mit einem nationalen Bereitschaftsplan verabschiedete. Mit dem ersten Fall (28. Februar 2020) griffen in Island die Maßnahmen: Quarantäne, Kontaktverfolgung und Abstand halten. Es gelang, Ausbrüche zu verhindern, obwohl Island seine Grenzen offen hielt und seit Mitte Juni 2020 wieder Touristen einreisen dürfen.

Das Virus kennt keine Grenzen, und das ist ein weiteres Problem, insbesondere für Deutschland:

- Die Bundesrepublik liegt mitten in Europa und mit 3.635 km Außengrenze zu neun Staaten.
- Es herrscht eine sehr hohe Affinität zu Mobilität (Flug, Bahn, Bus, Schiff und Auto).
- Die europaweite Vernetzung steigt immer mehr.

Die Datenlage zeigt eindeutig, dass nur jene Länder eine Chance haben, ohne weitere Lockdowns leben zu können, die ihre Grenzen schützen. Wer aber die Meinung vertritt, Deutschland könne seine Grenzen nicht gegen illegale Einwanderung schützen, der bekommt auch ein winziges Virus nicht in den Griff.

Erst am 21. Januar 2021 gingen die politischen Entscheidungsträger der Frage nach: Welche Rolle spielen die Grenzen? Die Kanzlerin warb für einen „kooperativen Ansatz“. Grenzkontrollen oder -schließungen innerhalb der EU lehnte Luxemburgs Außenminister Asselborn strikt ab. Vom 24. Januar 2021 an werden nach Angaben des Bundesinnenministeriums an den Flug- und Seehäfen nur Personen aus Hochrisikoländern auf einen vorhandenen Test kontrolliert. An den Grenzen zu anderen EU-Staaten sollen Einreisende stichprobenartig und verdachtsunabhängig überprüft werden. Das nennt man Schleierfahndung. Da freut sich das Virus, denn die evolutionäre Biologie ist eben nicht nur durch Physik und statistische Modelle determiniert.

Leben ohne Lockdown

Selbst eine vollständige Grenzschließung ist für Deutschland im europäischen Kontext unprofessionell und keine dauerhafte Lösung. Sie bringt nur Chaos und Ärger. Es müssen aber auch gar keine Grenze geschlossen werden – nicht für systemrelevante Pendler und nicht für den Einkauf. Es geht um eine schnelle, effiziente und für lange Zeit (eventuell Jahre) praktikable Kontrolle auf Virusfreiheit.

Das Virus ist gekommen, um zu bleiben. Und wir können dem Virus nur begegnen, wenn bei jeglichem Grenzübertritt zwei aufeinander folgende (innerhalb von fünf Tagen) negative Testergebnisse vorgelegt werden müssen – papierlos, schnell und unbürokratisch mit einer Chipkarte. Dazu muss umgehend eine standardisierte Diagnostik eingeführt und digital verknüpft werden. Wir müssen testen, testen und nochmals testen. Selbst ein falsch positiver Test und eine daraus resultierende Quarantäne sind besser, als ein ganzes Land ständig in den Lockdown zu schicken.

Deutschland kann das. Das dezentrale deutsche Laborsystem erhielt im GHS-Index 100 Punkte und belegt weltweit den ersten Platz. Forschungslabore der Wissenschaftsgesellschaften und Universitäten könnten sofort unterstützen. Was fehlt, ist der politische Wille, eine konsequente Strategie, ein Abbau an bürokratischen Hürden und ein gerüttelt Maß an Pragmatismus.

Und was für die Grenzen gilt, gilt auch im Land: Wir wollen unsere Freiheit zurück, für uns und unsere Kinder. Dazu müssen wir frei vom Virus sein. Ob das durch eine Impfung erreicht wird oder durch das eigene Immunsystem, ist völlig nebensächlich. Aber, und das ist der entscheidende Punkt: Wir müssen einander gegenüber den Nachweis führen können. Ob dies mit einer Chipkarte oder einem schlichten Impfausweis geschieht, ist völlig egal. Bei zwei negativen Tests (innerhalb von 5 Tagen) müssen die Türen offen stehen für den Einzelhandel, für Konzerte, Fitnessstudios, Restaurantbesuche und vor allem für die Schulen. Übrigens: Der Profisport zeigt, wie es geht.

Mit dem Dritten Gesetz zum Schutz der Bevölkerung vom 18. November 2020 und dem neu aufgenommenen Paragraph 28a in das Infektionsschutzgesetzes wurde erstmalig die 7-Tage-Inzidenz der Schwellenwert von 50 Neuerkrankungen je 100.000 Einwohner zum Gesetz erhoben. Seit der Ministerpräsidentenrunde vom 10. Februar 2021 gilt eine 7-Tage-Inzidenz von 35 als Zielmarke für erste Lockerungen.

Da fragt man sich: Wozu wurde dann erst mit brachialer Gewalt das Dritte Gesetz zum Schutz der Bevölkerung durchgedrückt? Selbst wenn ein Inzidenzwert von 3 erreicht wird, der vierte Infizierte aber unerkannt bleibt, reicht das aus, um in einem neuen Wirt munter weiter zu produzieren. Das Virus will nicht unbedingt töten. Es sucht nur einen „schmackhaften“ Wirt, um sich mit dem geringsten Aufwand und dem größten Nutzen zu vermehren.

Zur Bewältigung der Pandemie wurde von Anfang an auf die Kompetenz von Fachleuten gesetzt. Allerdings greift das Krisenmanagement nur fachlich einseitige, gefilterte Informationen isoliert heraus und macht diese zum alleinigen Maßstab für jede erfolgte Intervention. Da nützen die besten Spezialisten nichts. Sie haben oft nicht die erforderliche Weitsicht für die komplexen Rahmenbedingungen eines modernen Gemeinwesens.

Anderseits ist ohne die Mitwirkung der Bürger und die Akzeptanz von Regeln kein Krisenmanagement der Welt in der Lage, eine Pandemie zu bekämpfen. Notwendige Regeln müssen begründet, definiert und zeitlich eingeordnet werden. Sie müssen dem Stand der Wissenschaft entsprechen und bei neuem Kenntnisstand nachjustiert werden. Dazu ist eine Toleranz von allen Beteiligten notwendig. Es geht nicht ohne Kompromisse. Die „AHA-Regeln“ mit Abstand halten, Hygienemaßnahmen und dem Tragen von Alltagsmasken sind ein solcher Kompromiss.

Darüber hinaus muss man die staatlichen Anordnungen und deren Sinnfälligkeit hinterfragen dürfen – erst recht, wenn diese unwissenschaftlich sind und in hinterherlaufendem Aktionismus enden. Das gehört zum Demokratieverständnis und muss eine Gesellschaft aushalten. Wenn jedoch die politischen Entscheidungsträger weiterhin die wirklichen Ursachen nicht sehen wollen und mit weitsichtigen Maßnahmen gegensteuern, besteht die Gefahr, dass aus der Pandemie eine Gesellschaftskrise erwächst.

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