Krisenkommunikation in der Pandemie - Strömungsabriss

Die Instrumente für eine ordentliche Bewältigung der Pandemie stehen längst zur Verfügung. Was fehlt, sind Überzeugungskraft und der Wille zur Wiederherstellung des demokratischen Feedbacks. Regierungssprecher Steffen Seibert brilliert derweil mit einer bizarren Kombination aus Genialität und Unvermögen.

Ein ins Trudeln geratenes und abgestürztes Kleinflugzeug / dpa
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Autoreninfo

Jens Peter Paul war Zeitungsredakteur, Politischer Korrespondent für den Hessischen Rundfunk in Bonn und Berlin, und ist seit 2004 TV-Produzent in Berlin. Er promovierte zur Entstehungsgeschichte des Euro: Bilanz einer gescheiterten Kommunikation.

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Unserer Bundesregierung ergeht es in diesen Tagen wie einem Flugzeug in Notlage: Sinkt das Tempo unter eine physikalisch gegebene Grenze, ist der Druckunterschied zwischen Ober- und Unterseite der Flügel nicht mehr groß genug, kommt es von einer Sekunde zur anderen zum Strömungsabriss. Das Teil gerät schlagartig außer Kontrolle und ins Trudeln. Die Schwerkraft siegt über den Auftrieb. Ist noch genug Platz bis zum Boden, können die Piloten die Segeleigenschaften der Konstruktion nutzen oder die Triebwerke wieder in Gang bringen und es noch abfangen. Wenn nicht, dann nicht. Etwa, weil der Treibstoff alle ist und der natürliche Auftrieb zu gering.

Beide Rettungsfaktoren stehen dem Kabinett Merkel und den von ihm abhängigen Ministerpräsidenten nicht mehr zu Gebote. Dazu hatten sie von Anfang an zu wenig Überzeugungsenergie im Tank und agierten zu plump und widersprüchlich. Hinzu kommt: Eisansatz am Flügel verändert das Profil und lässt den Auftrieb schon einbrechen bei einem Tempo, das normalerweise noch unproblematisch wäre. Es ist einfach zu viel schiefgelaufen in den vergangenen 20 Monaten seit dem Auftreten der ersten Masseninfektionen. In der Sache, vor allem aber in der Kommunikation. Die Kommunikation ist eisig; sie bildet in unserem Gleichnis der Eisansatz, der die Absturzgefahr erhöht.

Widersprüchliche Informationen

Die Entscheidungen von Bund und Ländern werden von immer weniger Menschen auch nur halbwegs überzeugt mitgetragen. Sie fühlen sich in einem Informationschaos auf sich allein gestellt und gegen ihren Willen gezwungen, sich auf 1.000 widersprüchliche Informationen einen eigenen Reim zu machen, was ihre Medienkompetenz auf eine harte Probe stellt. Je bildungsferner, desto härter, wobei auch hier längst kein einheitliches Bild mehr existiert.

Schlagzeilen wie „Spahn schockt mit Corona-Aussage“ oder „Wir verlangen Einigkeit und Recht und Freiheit“, die das links-grüne Lager in der vergangenen Woche unter dem Hashtag „Haltdiefressebild“ ausrasten ließen, sind allerdings nicht etwa Ursache dieser Katastrophenkommunikation, sondern ihre Folge. Sie füllen ein Vakuum, wo eigentlich Deutungshoheit vorliegen sollte. Anfangs erzeugte die Politik dieses Vakuum eher aus Unerfahrenheit und per Trial and Error. Inzwischen ist aber Vorsatz zu unterstellen.

Ratlose Staatsbürger

Festlegungen werden umso häufiger vermieden, je näher der Wahltag rückt. Zurück bleiben ratlose Staatsbürger, ratlose Ärzte, ratlose Gesundheitsämter, ratlose Apotheker, ratlose Betreiber von Testzentren. Gestern noch hochbegehrt, heute mit einem Tritt der Insolvenz überantwortet. Sollen sehen, wo sie bleiben. Der Regierung ist es wurscht, und am wurschtigsten von allen ist auch diesmal wieder die Bundeskanzlerin.

Und ihr Regierungssprecher. Steffen Seibert ist eine bizarre Kombination aus Genialität und Unvermögen. Genial, weil er es mit seiner Inselbegabung für Inszenierungen und Bildsprache geschafft hat, eine ungelenke und uncharismatische Frau zur Ikone zu machen, der Eigenschaften wie Rationalität, Altruismus und Klugheit zugeschrieben werden, die meilenweit von den Tatsachen entfernt sind. Unvermögen, weil es Staatssekretär Seibert nicht gelungen ist, er es meist nicht einmal versucht hat, die -zig krassen Über-Nacht-Kehrtwenden seit Anfang 2020 halbwegs plausibel zu erklären, ja sie wenigstens mit Begriffen auszustatten, sodass man über sie vernünftig streiten könnte.

Objekt der Begierde

Masken: erst gesundheitsschädlich und überflüssig (weil sie fehlten) über Nacht bei Strafandrohung unverzichtbar und Pandemiebekämpfungskernstück. Schnelltests: erst dubios, weil unzuverlässig und durch falsche Sicherheit zu Leichtsinn verleitend (weil sie fehlten) über Nacht plötzlich bei Ausschlussandrohung unverzichtbar und weiteres Kernstück, um Unheil (Merkel) abzuwenden.

Vektor-Impfstoffe: erst Objekt der Begierde, mehr noch aber der Geduld, weil die Bundesregierung großherzig sein wollte und die Beschaffung der Busenfreundin von der Leyen überließ, gefolgt von undurchschaubaren Exporten, was die Versorgung der einheimischen Bevölkerung um ein Vierteljahr verzögerte und einen Verlust an Menschenleben (vor allem in Alten- und Pflegeheimen), Existenzen und Wertschöpfung zur Folge hatte, was längst in einem Untersuchungsausschuss aufgearbeitet werden müsste.

Ab in die Tonne

Doch kaum war Astrazeneca endlich da, war es über Nacht auch schon wieder out: ab in die Tonne. Nebenwirkungen? Irgendwie ja, andererseits auch wieder nicht. Wirksamkeit? Sehr anständig, aber vielleicht doch nicht; genaues weiß man nicht. Vielleicht nur noch für Ü60? Vier Wochen lang galt das, bis die Ü60 sagten: Nö, mit B-Ware lassen wir uns nicht abspeisen. Den Rest erledigte das Verfallsdatum. Ob das Zeug wirklich gefährlich oder minderwertig ist? Die einen sagen so, die anderen sagen so, und jeder kann Quellen nennen, die mindestens nicht von vornherein unglaubwürdig sind.

Intensivbetten: Gab es hier einen groß angelegten Beschiss aller möglichen Kliniken, eine sagenhafte Milliarden-Abgreife mit Stationen, die nur für Staatsknete behauptet, eingerichtet worden zu sein, aber nie eingerichtet wurden? Die einen sagen so, die anderen sagen so. Jeder glaubt, was er will, und zieht entsprechende Schlüsse, selten freundliche.

Interessengeleitete Antworten

Die Apps: Taugen sie nun etwas oder handelt es sich doch um Spielerei? Wie viele Infektionen haben sie nachweislich verhindert? Es sind, wenn überhaupt, nur interessengeleitete Antworten zu erwarten.

Europameisterschaft: Eieieieiei Mega-Spreader-Events mit Kamikazeansatz! England. Ungarn. Massen auf engem Raum. Die Uefa aus deutscher Sicht von der Fackel des Wahnsinns beleuchtet. Ein Menschenversuch, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. Und heute? Wahrscheinlich viel Lärm um nichts. Aber beschwören möchten das auch nicht alle Experten. Ihre Antwort danach hängt ab von ihrer Prognose davor. Gigantischer Aufwand, geringe Erkenntnis. Lauter eigene Wahrheiten, also genau das, was man den USA der Trump-Zeit immer vorgeworfen hatte, wovon sich Europa wohltuend unterscheide.

Nicht das, was die Politik hören will

Schließlich die Abmeierung der Stiko, der Ständigen Impfkommission. Beliebt war sie bei Minister Jens Spahn nie, aber doch wenigstens respektiert. Vorbei. Vorletzte Woche scheint es hinter den Kulissen im Streit um den Umgang mit Schülern zu einem Eklat gekommen zu sein. Die Stiko sprach nicht das, was die Politik hören wollte. Also wurde sie gedimmt, wie man einen nervigen Radiosender leise dreht. Zurück bleiben wütende, traurige, ratlose Eltern und Alleinerziehende, die nun jeder für sich eine Kosten-Nutzen-Analyse auf unzureichender Datenbasis anstellen müssen: Was spricht dafür, mein Kind impfen zu lassen, was dagegen, welche Risiken stehen welchen Chancen gegenüber? Der Grüne Boris Palmer hat genau das völlig vernünftig öffentlich gemacht und wurde natürlich von der Fraktion der Impfdrängler dafür verhauen.

Die jüngsten Kapriolen tragen das Etikett Impfstatus. Mit offenem Mund erfuhr die interessierte Öffentlichkeit, dass noch nicht einmal der Impfstatus der Gesamtbevölkerung halbwegs verlässlich genannt werden kann. Die Angaben schwanken in einem haarsträubenden Ausmaß.

Prügeln und knutschen

Oder Berlin: Querdenker werden zusammengeprügelt, wo Schwule und Lesben wenige Tage zuvor unbehelligt knutschen durften. Es sei letzteren gegönnt, aber es geht beim besten Willen nur eines von beiden. Ein Staat, ein Innensenator, eine Polizei, die nach ihren persönlichen Vorlieben agieren, sind Gift für das Land. Unterschiedliche Maßstäbe bei identischer Viruslast essen Gerechtigkeit auf.

Derweil wütet Bild sinngemäß: Gedrängel im Zug, aber Stehzwang in der Bibliothek Wie irre ist das denn? Der moderate Beobachter möchte das Blatt mahnen, aber, verdammt: Chefredakteur Julian Reichelt hat auch hier recht.

Glücksfälle in der Menschheitsgeschichte

Wundert es also noch wen, wenn inzwischen Appelle der Kanzlerin bei denen nur noch ein müdes Arschrunzeln erzeugen, weil sie sich längst haben impfen lassen, während die anderen weiter eskalieren, zu irrwitzigen Analogien greifen und sich Judensterne anheften? Wenn selbst mRNA-Impfstoffe wie Moderna und Biontech nach allem, was man heute wissen kann, Glücksfälle in der Menschheitsgeschichte wie Sauerbier angeboten und schließlich nach Afrika verschenkt werden?

Strömungsabriss. Eisklumpen an den Tragflächen durch gefühlskalte, desinteressierte, maximal inkompetente Kommunikation. Die Politik ist im Alltag alles andere als durchweg überzeugend, aber ihre Kommunikation toppt an Grottigkeit sogar noch das.

Unregierbarkeit des Landes

Die Ursache für alles, was in Zukunft noch schief geht, und sei es bis hin zum Absturz in einen neuen Lockdown, in eine winterliche Pleitewelle, in ein Wahlergebnis, das zu einjähriger Unregierbarkeit des Landes führt sie wäre hier zu suchen.

Die Instrumente für eine ordentliche Bewältigung der Pandemie stehen längst in ausreichender Zahl und Qualität zur Verfügung. Was fehlt, sind Überzeugungskraft und der Wille zur Wiederherstellung des demokratischen Feedbacks, zum Geben und Nehmen von Information und Meinung zwischen Wahlvolk und Gewählten.

Nur dieses Feedback kann neuen Auftrieb erzeugen. Allein: Mit dieser Kanzlerin und diesem Regierungssprecher wird das nicht mehr stattfinden. Es ist ihnen schlicht wurscht.

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