Krise der CDU - Zerreißprobe für die letzte Volkspartei

Die CDU sucht weit mehr als nur einen neuen Vorsitzenden. Vor allem ist sie auf der Suche nach einer Perspektive, um Volkspartei zu bleiben. Doch die Zeichen dafür stehen schlecht.

Partei im freien Fall / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Ein Donnerstagabend Ende Februar, der Berliner Bundestagsabgeordnete Klaus-Dieter Gröhler hat in sein Wahlkreisbüro geladen. Der 53 Jahre alte CDU-Mann vertritt den westlich-bürgerlichen Stadtteil Charlottenburg-Wilmersdorf im deutschen Parlament, das Publikum ist entsprechend: gut gekleidete Ehepaare in vorgerücktem Alter, einige gepflegte Herren jenseits der 60, kaum junge Leute. Die Stimmung ist locker, es werden Häppchen und Wein gereicht, viele Besucher kennen einander. Stargast des Abends ist der ehemalige Deutsche-Welle-Intendant Dieter Weirich, der vor Kurzem eine Biografie über Alfred Dregger veröffentlicht hat. Weirich diente während der siebziger Jahre als Dreggers Referent; sein Chef war damals als konservativer Hardliner der hessischen CDU bekannt. Viele ältere CDU-Mitglieder verehren ihn bis heute.

Weirich, inzwischen selbst Mitte 70, erzählt von alten Zeiten und davon, dass Alfred Dregger entgegen seinem Ruf als Vertreter des „Stahlhelmflügels“ der CDU in vielerlei Hinsicht tatsächlich ein weltoffener Reformer gewesen sei. Das Publikum hängt an seinen Lippen; später gesellt sich noch Burkard Dregger zu der Runde: Alfred Dreggers Sohn, 55, und seit knapp zwei Jahren Fraktionsvorsitzender der CDU im Berliner Abgeordnetenhaus. Dieter Weirich erinnert daran, wie Dregger senior einst mit konservativer Verve die darniederliegende Hessen-CDU aus dem Tal der Tränen geholt habe; Dregger junior wiederum lobt die Führungsqualitäten seines Vaters: „Er war teamfähig, solange klar war, dass er der Chef ist.“ Alfred Dregger selbst ist zwar seit fast 20 Jahren tot, aber die vielen Gäste in Klaus-Dieter Gröhlers Wahlkreisbüro mit dem goldgerahmten Angela-Merkel-Bild an der Wand schwelgen immer noch von damals.

Sommer oder ewiger Winter für Merz?

Es kommt an diesem Abend übrigens nicht der geringste Zweifel daran auf, wen sich die allermeisten Teilnehmer der Alfred-Dregger-Gala als nächsten Parteichef wünschen: einen 64 Jahre alten Sauerländer, den sehr lange Zeit fast niemand mehr auf dem Zettel hatte. Bis zu jenem Tag im Oktober 2018, an dem Angela Merkel ihren Rückzug von der CDU-Spitze ankündigte. Schon eine Stunde später hatte Friedrich Merz da seinen Hut in den Ring geworfen, und seither kommt die Union nicht mehr zur Ruhe. Dass zwischenzeitlich mit Annegret Kramp-Karrenbauer jene Frau geschreddert wurde, der er im Dezember 2018 bei der Wahl zum CDU-Vorsitz knapp unterlegen war, scheint Merz nicht zu beeindrucken. Im Gegenteil: Der einstige Merkel-Rivale stürzt sich mit regelrechtem Furor abermals ins Rennen. Er weiß, dass das jetzt seine letzte Chance ist. Verliert er gegen seinen Widersacher Armin Laschet, geht der zweite politische Frühling des Friedrich Merz unmittelbar in den ewigen Winter über.

Friedrich Merz gegen Armin Laschet: der konservative Wiedereinsteiger gegen den quecksilbrig-leutseligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen. Das ist die Gefechtslage, mit der die CDU vor einer der dramatischsten Zerreißproben in ihrer Geschichte steht. Wobei die beiden Kontrahenten auf den ersten Blick gar nicht viel zu trennen scheint: Beide sind ungefähr gleich alt, beide stammen aus NRW und kennen einander seit Jahren. Inhaltliche Differenzen gibt es ebenfalls eher in Nuancen – auch wenn die Kandidaten bis zum Wahlparteitag mit Sicherheit noch ihr jeweiliges Profil schärfen werden. Aber kämen die beiden von unterschiedlichen politischen Sternen, hätte Armin Laschet wohl kaum ausgerechnet Friedrich Merz zum Brexit-Beauftragten seiner Landesregierung ernannt. Das ist gerade mal gut zwei Jahre her.

Doch in dieser Zeit hat sich die einst für ihren Zusammenhalt berühmte CDU in eine Partei verwandelt, bei der nur noch unversöhnliches Lagerdenken zu herrschen scheint: auf der einen Seite die Weiter-so-Fraktion der Merkel-Modernisten, auf der anderen Seite die Back-to-the-Roots-Bewegung konservativer Merzianer. Dass die Union auch heute noch in Wahrheit wesentlich vielschichtiger ist, geht in der medialen Reflexion oft unter. Wer mit CDU-Leuten spricht, ob mit Funktionären oder einfachen Mitgliedern, bekommt fast immer differenzierte Meinungen zu hören. Viele sehnen sich zwar nach einem Abschied von Merkel als Bundeskanzlerin, benennen ihre Fehler – wollen aber dennoch keinen radikalen Bruch. Trotzdem scheint Armin Laschets Versprechen, die CDU mit der ganzen Breite ihrer politischen Strömungen zu regenerieren, erstaunlich wenig zu verfangen.

Was Laschet fehlt

Dabei kann Armin Laschet vieles vorweisen, wovon Friedrich Merz oder der mittlerweile als reiner Zählkandidat geltende Norbert Röttgen in ihrer Karriere weit entfernt waren: Im Gegensatz zu Röttgen hat Laschet eine Landtagswahl gewonnen und zusammen mit der FDP in Nordrhein-Westfalen Rot-Grün abgelöst. Und im Gegensatz zu Merz, der nie ein Regierungsamt innehatte, stellt Laschet in seinem Kabinett unter Beweis, dass er die Kunst des diplomatischen Austarierens tatsächlich beherrscht: Seinem Kabinett gehört ein gewerkschaftsnaher Links-­CDUler wie Sozialminister Karl-Josef Laumann ebenso an wie Innenminister Herbert Reul mit seinem Law-and-Order-Image oder die junge türkischstämmige Integrationsstaatssekretärin Serap Güler. Außerdem ist Armin Laschet noch ein echter Coup gelungen, indem er Jens Spahn als „running mate“ verpflichtete – und damit glaubte, die konservative Flanke abzudecken.

Trotz alledem schafft es Armin Laschet nicht, die Parteibasis zu begeistern. Wenn Friedrich Merz irgendwo auftritt, ist richtig Stimmung in der Bude, dann halten seine Fans Pappherzen mit der Aufschrift „Ein Herz für Merz“ in die Höhe und führen sich auf wie enthemmte Teenager bei einem Boygroup-Konzert. Laschet dagegen, der mit seinem Image als Kandidat des Partei-Establishments zu kämpfen hat, ist weit davon entfernt, Popstarallüren entwickeln zu können. „Was mit Blick auf den Parteivorsitz die Wahl zwischen Armin Laschet und Friedrich Merz angeht, bin ich wirklich gespalten“, sagt zum Beispiel Ali Ertan Toprak. Der 51-Jährige ist CDU-Mitglied und aktiv in der Migrationspolitik. Eigentlich müsste ­Toprak ein typischer Laschet-Unterstützer sein, zumal die beiden sich seit Jahren kennen und einander sogar duzen. Trotzdem bekennt Toprak: „Mein Herz sagt mir, Laschet und Spahn sollten es machen. Mein Verstand hingegen sagt mir, dass Friedrich Merz eher für einen Neuanfang und für klare politische Konturen steht, die die CDU jetzt dringend braucht.“

Nebulöse Sehnsüchte 

Tatsächlich lastet der Wunsch nach einem Neuanfang wie ein Fluch auf der Partei. Denn er führt zu dem, was man in der Sozialpsychologie eine kognitive Dissonanz nennt: das unangenehme Gefühl, entgegenlaufende Wahrnehmungen irgendwie miteinander in Übereinstimmung bringen zu müssen. Da herrscht also einerseits der Wunsch nach Kontinuität der CDU als einer pragmatischen Regierungspartei. Andererseits beklagen viele CDU-Mitglieder im gleichen Atemzug Merkels eiskalten Machtpragmatismus und fordern inhaltlich „klare Kante“, ohne dabei allzu sehr ins Detail zu gehen. Im Ergebnis werden dann etliche Eigenschaften von Friedrich Merz, die unter normalen Umständen als Nachteile gelten würden, zu etwas Positivem umgedeutet: seine lange Auszeit von der Politik (frischer Wind!), seine Tätigkeit für den Vermögensverwalter Blackrock (Wirtschaftskompetenz!) oder seine schneidig-arrogante Art (toller Rhetoriker!). Nach 15 Jahren mit Angela Merkel im Kanzleramt weiß die Partei nicht mehr, wer sie ist und was sie will – außer eben mehr Klarheit. Irgendwie. Und da scheint Friedrich Merz bei vielen CDU-Leuten mehr Sehnsüchte zu befriedigen als Armin Laschet.

Es gibt aber auch echte Hardliner. Zum Beispiel ­Alexander Mitsch von der Werteunion. Der 52 Jahre alte Diplomkaufmann aus der Nähe von Heidelberg ist eigentlich kein Eiferer: seit 35 Jahren Mitglied in der CDU, immer sachlich im Ton. Mitsch ist Vorsitzender und Mit­initiator eines Vereins, den man guten Gewissens als Anti-Merkel-Gruppe der CDU bezeichnen kann. Gegründet wurde die Werteunion im März 2017 aus Protest gegen den Atomausstieg, gegen die Aussetzung der Wehrpflicht, gegen die Handhabung der Eurokrise – und natürlich gegen Angela Merkels Migrationspolitik. Rund 4500 Mitglieder sind inzwischen dabei; man versteht sich als eine Zusammenführung konservativer Initiativen. „Wir erkennen unsere eigene Partei nicht wieder und müssen feststellen, dass sich linke Positionen in Deutschland immer mehr durchsetzen, weil die Union nicht dagegenhält“, lautet Mitschs Raison d’Être.

Steht die CDU vor einer Schicksalsentscheidung?

Der langjährige CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok hatte die Werteunion im vergangenen Februar als „Krebsgeschwür“ bezeichnet, das „mit aller Rücksichtslosigkeit bekämpft“ werden müsse. Seither sind die Fronten zwischen der „offiziellen“ CDU und den Schismatikern von der Werteunion verhärteter denn je. Spalten wolle er die CDU aber auf keinen Fall, beteuert Mitsch: „Den Vorwurf macht man uns nur, weil man sich nicht mit uns auseinandersetzt und uns inhaltlich auch nicht widerlegen kann.“ Die Forderungen der Werteunion fänden sich zu 95 Prozent im Grundsatzprogramm der CDU wieder; man wolle lediglich erreichen, „dass die CDU auch Konservativen und Wirtschaftsliberalen wieder klar eine Heimat bietet“.

Alexander Mitsch verwendet ein Argument, das insbesondere auch die Anhänger von Friedrich Merz immer wieder anführen: Merkels Mittekurs habe die CDU letztlich Millionen an Wählerstimmen und Hunderttausende an Mitgliedern gekostet; ohne die „Grenzöffnung“ der Kanzlerin während der Flüchtlingskrise wäre die AfD niemals so groß geworden. „Ich glaube, dass wir momentan auf eine Schicksals­entscheidung zusteuern“, sagt Mitsch. „Sollte es ein Weiter-so mit Armin Laschet geben, kann ich mir vorstellen, dass dann leider viele in der Union sagen: ,Das war es jetzt für mich.‘“ Aber könnte andernfalls ein Parteivorsitzender Friedrich Merz die AfD wirklich „halbieren“, wie er es im November 2018 noch angekündigt hatte, und die CDU zu alter Herrlichkeit zurückführen?

Weist Merkels Hausdemoskop den Weg?

Matthias Jung hält das für reines Wunschdenken. Jung ist nicht irgendwer, der 64 Jahre alte Chef des Mannheimer Meinungsforschungsinstituts Forschungsgruppe Wahlen hat den inzwischen viel kritisierten Mittekurs Angela Merkels maßgeblich mitbestimmt. Nicht wenige in der Partei halten ihn deswegen für den eigentlichen Vater der derzeitigen Misere. Jung selbst verteidigt seinen Kurs dagegen vehement. Der recht bieder wirkende Mann mit dem sanften Pfälzer Dialekt findet mit Blick auf Friedrich Merz klare, harte Worte: Dieser stehe „eindeutig für eine Retroperspektive, aus der er auch kommt“. Ein Parteivorsitzender Merz „würde im Prinzip die Tradition der großen Volkspartei CDU insofern zu einem Ende führen, weil es sehr schwer vorstellbar ist, dass mit ihm eine Orientierung an der Mitte der Gesellschaft und eine soziale Ausgewogenheit eine glaubwürdige Chance haben“, sagt Jung.

Matthias Jung, seit vielen Jahren eine Art Hausdemoskop der Bundeskanzlerin, hat im Jahr 2015 eine Analyse verfasst, die ihm heute manch ein CDUler am liebsten um die Ohren hauen würde. Unter dem vielsagenden Titel „Die AfD als Chance für die Union“ heißt es da: „Entscheidend für den Erfolg der CDU/CSU“ sei es in erster Linie, „in welchem Umfang es ihr gelingt, Wähler in der politischen Mitte zu erreichen“. Diese Aufgabe sei „von strategisch übergeordneter Bedeutung und auch ganz unabhängig von der Zukunft der AfD“. Was im Abstand von fünf Jahren geradezu grotesk klingen mag, war lange Zeit Merkels strategisches Leitmotiv. Und wenn es nach Jung geht, sollte die CDU auch künftig nicht von diesem Kurs abweichen: Der Hauptgegner der CDU, sagt er, seien heutzutage die Grünen – das habe sich inzwischen bei mehreren Wahlen gezeigt. „Das Problem für die CDU ist weniger die AfD als vielmehr die Tatsache, dass die Bereiche, in die Angela Merkel vorgestoßen war und mit denen die Union bei der Bundestagswahl 2013 noch mehr als 40 Prozent geholt hatte, nicht mehr glaubwürdig abgedeckt werden.“ Mit anderen Worten: Die Union steht heute so schlecht da, weil sie zu rechts geworden ist.

Der Kampf gegen das Wählersterben

Diese These mag zwar abwegig klingen, aber der Chef der Forschungsgruppe Wahlen hat damit sehr wohl etliche prominente Anhänger in der Union. Zum Beispiel den schleswig-holsteinischen CDU-Ministerpräsidenten Daniel Günther, der sich auch öffentlich gern als treuester Merkelianer präsentiert und aus seiner Abneigung gegen Friedrich Merz keinen Hehl macht. Im Herbst hatte Günther mit Blick auf den Sauerländer noch von „älteren Männern“ gesprochen, „die vielleicht nicht ihre Karriereziele in ihrem Leben erreicht haben“. Matthias Jung wiederum warnt vor einem „Rollback in die ideologische Vergangenheit“. Was das für die CDU bedeuten würde, sehe man derzeit am Bedeutungsverlust der SPD: „Es gibt eben einen Unterschied zwischen einer immer mittigeren Wählerschaft und den Traditionskompanien innerhalb der eigenen Parteien.“

Mit dem Begriff „Traditionskompanien“ dürften vor allem Leute wie jene gemeint sein, die sich an Alfred-Dregger-Anekdoten beim Get-together des Berliner Bundestagsabgeordneten Gröhler delektieren. Also CDU-Wähler, deren politische Sozialisation spätestens in der Anfangsphase der Kanzlerschaft von Helmut Kohl stattgefunden hat. Allerdings zeigen Statistiken, dass die Union während jeder Legislaturperiode mehr als eine Million Wähler in der Altersgruppe „60 plus“ verliert – und zwar schlicht, weil diese weg­sterben. CDU (und CSU) müssen also von Wahl zu Wahl mindestens eine Million Wähler aus jüngeren (und damit wohl „moderneren“) Kohorten neu hinzugewinnen, um ihre Ergebnisse zumindest zu halten. Ob da jemand wie Friedrich Merz das richtige Angebot ist?

Ronja Kemmer findet: ja. Die 30-jährige Schwäbin ist die jüngste CDU-Abgeordnete im Bundestag, wo sie ihren Wahlkreis Ulm schon seit 2014 vertritt. „Nachdem Jens Spahn nicht antritt, ist mein Favorit Friedrich Merz“, legt Kemmer sich fest. „Das sage ich insbesondere mit Blick auf eine Kanzlerkandidatur und die Frage, wer letztlich bei den Wählern besser ankommt.“ Wie eine Vertreterin von „Traditionskompanien“ wirkt die Ökonomin bestimmt nicht, wenn sie im Donna-Karan-Kostüm in ihrem Berliner Abgeordnetenbüro empfängt. Sie ist eine explizite Befürworterin der Frauenquote und findet, ihre Partei habe „unglaublich viel Porzellan zerschlagen“ beim Umgang mit Bewegungen wie etwa Fridays for Future: „Nur zu sagen, die sollen freitags wieder in die Schule gehen, reicht da einfach nicht.“

Trotzdem hält sie Friedrich Merz für den besseren Kandidaten – und nicht den in Richtung Grüne deutlich anschlussfähiger wirkenden Armin Laschet. „Wir brauchen nicht nur personelle Klarheit an der Parteispitze und eine neue Geschlossenheit“, sagt Kemmer. „Sondern auch endlich wieder eine klare inhaltliche Ausrichtung an dem, wo wir als CDU immer stark waren – also etwa bei der inneren Sicherheit oder in der Finanz- und Wirtschaftspolitik.“ Das beinhalte eine klare Abgrenzung von der SPD und dass man nicht immer schon mit Kompromissen in die Verhandlungen gehe. „Ein echtes Konzept“ benötige die CDU, ist Kemmer überzeugt. Merz traut sie zu, genau das zu liefern.

Das role model des modernen Konservativen

Mit besonderem Interesse wird die CDU derzeit von ihrer bayerischen Schwesterpartei beobachtet. Wobei sich die CSU alle Mühe gibt, die ungelöste Führungsfrage nicht zu kommentieren. Zwar werden CSU-Chef Markus Söder Präferenzen für Armin Laschet nachgesagt, weil der über Regierungserfahrung verfügt und deshalb aus Sicht des bayerischen Ministerpräsidenten berechenbarer ist als Friedrich Merz. Aber das Prinzip der Nichteinmischung wird eisern befolgt. Was den Christsozialen derzeit deshalb so gut gelingt, weil sie ihre eigenen Machtkämpfe spätestens seit der bayerischen Landtagswahl im Oktober 2018 beigelegt haben und so diszipliniert und geschlossen agieren wie lange nicht. Seither steht Markus Söder unangefochten an der Spitze der CSU, noch dazu ist ihm in den vergangenen Monaten das Kunststück gelungen, sich neu zu erfinden. Und zwar als führungsstarker Landesvater, der den konservativen Teil seiner Anhängerschaft nicht vor den Kopf stößt und trotzdem Bienen rettet und vor Fotografen Bäume umarmt. Die Ergebnisse bei den bayerischen Kommunalwahlen haben seinen Kurs bestätigt.

Söder, so viel steht fest, ist das role model des modernen Konservativen – wobei er und seine Leute absolut nichts dem Zufall überlassen, wenn sie derzeit „den Konservatismus in Bayern neu ausbuchstabieren“, wie ein hohes Parteimitglied den laufenden Prozess der Neujustierung nennt. Im Gegensatz zur hochprofessionell arbeitenden CSU-Parteizentrale wirkt das Konrad-Adenauer-Haus in Berlin wie eine Amateurveranstaltung; von München aus verfolgt man denn auch mit Sorge und teilweise sogar mit blankem Entsetzen, wie die Schwesterpartei CDU seit Monaten ohne erkennbares Zukunftskonzept vor sich hin schlingert. Die Umfrageergebnisse sind entsprechend miserabel. Wenn das so weitergeht, stellt nach der nächsten Bundestagswahl nicht mehr die Union den Kanzler – sondern die Grünen tun es.

Söder als nächster Kanzler?

Dass die Christdemokraten sich an ihrer bayerischen Schwester gefälligst ein Vorbild nehmen sollten, das ist aus Sicht der CSU ohnehin klar. Aber auch in der CDU schauen viele mit unverhohlener Bewunderung in Richtung Bayern, wo die Christsozialen in Umfragen knapp unter 40 Prozent liegen. Ob der nächste Kanzlerkandidat der Union deswegen Markus Söder heißen wird, steht freilich in den Sternen. Söder selbst dementiert jegliche Ambitionen, in seinem Umfeld heißt es: Wer die CDU/CSU mit dem Anspruch auf Kanzlerschaft in die nächste Bundestagswahl führt, das werde entscheidend davon abhängen, ob der neue CDU-Chef sich als Parteivorsitzender bewährt. Und das ist, zumindest aus Sicht der CSU, alles andere als ausgemacht. Vielmehr rechne man, so berichtet ein CSU-Grande, bei der CDU mit einem blutigen Endkampf: Wer auch immer sich beim Wahlparteitag durchsetze – ob Laschet oder Merz –, werde die Anhänger seines unterlegenen Gegners unmissverständlich und ohne falsche Rücksichtnahme unterwerfen müssen.

Das jedenfalls sei die Lehre aus dem unklaren Kurs Annegret Kramp-Karrenbauers, die es als Parteivorsitzende den Merkelianern und den Merz-Truppen gleichermaßen habe recht machen wollen. Das Ergebnis ist bekannt. „Bei der Führungsentscheidung der CDU geht es diesmal um einen K.-o.-Sieg und nicht um einen Punktsieg“, sagt ein bekannter CSU-Mann. Markus Söders Problem dabei: Versinken die Christdemokraten auch nach ihrem Wahlparteitag weiter in Richtungs- und Diadochenkämpfen, dann läuft es bei der Kanzlerkandidatur zwar fast automatisch auf den bayerischen Ministerpräsidenten hinaus. Dies alles aber vor dem Hintergrund einer zerrissenen CDU, der noch mehr Wähler in alle Richtungen davonlaufen dürften. Am Ende stünde eine verlorene Bundestagswahl mit Söder als gescheitertem Kanzlerkandidaten: kein verlockendes Szenario.

CDU zwischen zwei Polen

Knapp eine Million frühere Wähler haben die Unionsparteien bei der zurückliegenden Bundestagswahl an die AfD verloren; 1,1 Millionen einstige Wähler von CDU und CSU wechselten bei der jüngsten Europawahl ins Lager der Grünen. An diesen Zahlen wird deutlich, worin das Dilemma der CDU besteht: Ihre alte Klientel läuft in völlig unterschiedliche Richtungen davon. Und wie da eine thematische Klammer aussehen könnte, um den Aderlass sowohl nach rechts wie auch nach links zu stoppen, bleibt das große Rätsel. Zumal zwei große Themen unserer Zeit derart polarisierend wirken, dass sich eine Volkspartei mit entsprechend inhaltlicher Breite besonders schwertut: Klimaschutz und Migration. Beim Klima werden die Grünen auch künftig als Taktgeber die Nase vorn haben; die Forderung nach einem strikten Grenzregime bleibt das Markenzeichen der AfD.

Während die CDU also hilflos zwischen allen Fronten steht, scheint sich dagegen die CSU mit ihrem entschiedenen Sowohl-als-auch ganz gut über Wasser zu halten. Das allerdings ist vor allem der Führungsqualität eines Markus Söder zu verdanken, der es irgendwie schafft, gleichzeitig den engagierten Umweltschützer, den knallharten AfD-Bekämpfer und den bayerischen Patrioten zu geben – und zwar sogar einigermaßen glaubwürdig. Bei den Christdemokraten sind Figuren vom Schlage eines Markus Söder jedoch nicht in Sicht; Armin Laschet hat immerhin die Chance, als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident in der Corona-Krise Handlungsfähigkeit und Führungsstärke zu zeigen. Ihm dürfte die Verschiebung des CDU-Parteitags mit der Wahl des neuen Vorsitzenden deshalb eher nutzen als Friedrich Merz.

Ein Werkstattgespräch ist nicht genug

Reiner Haseloff empfängt in seiner Berliner Landesvertretung, der Ministerpräsident von Sachsen-­Anhalt bekommt vom Büroleiter daheim in Magdeburg gerade die aktuellen Corona-Updates übermittelt. Natürlich bereitet auch der Zustand seiner CDU ihm Sorgen. „Wenn Demoskopen wie Matthias Jung heute immer noch behaupten, die inhaltliche Annäherung der CDU an SPD und Grüne sei erfolgreich gewesen, ist das nur die halbe Wahrheit“, sagt Haseloff. Das mag vielleicht noch bis zum Jahr 2015 plausibel gewesen sein – aber die Flüchtlingskrise habe vieles verändert: „Da haben die Menschen nicht nur erwartet, dass der Staat Flüchtlingen hilft, sondern auch, dass er Recht und Ordnung gewährleistet. Das ist nur bedingt gelungen. Ab dem Punkt ist die Strategie nicht mehr aufgegangen. Das war der Kipppunkt.“

Als Parteichefin hatte Annegret Kramp-Karrenbauer um das Thema Migration und Flüchtlinge zuletzt einen großen Bogen gemacht. Nachdem sie anfangs noch „Werkstattgespräche“ dazu abgehalten hatte, erwähnte sie es bei ihrer langen Parteitagsrede im vergangenen November mit keinem Wort. Denn Merkels Entscheidung vom Spätsommer 2015 mit der anschließenden Massenzuwanderung bleibt bis heute eine Sollbruchstelle für die CDU: Wer in der Partei die „Grenzöffnung“ kritisiert, stellt das politische Erbe der Kanzlerin infrage. Wer Merkels Flüchtlingspolitik dagegen verteidigt, muss innerparteilich mit heftigem Gegenwind rechnen: Diese Erfahrung konnte Armin Laschet Ende Februar machen, nachdem er der Bild-Zeitung ein entsprechendes Interview („Merkels Umgang mit der Flüchtlingskrise war richtig“) gegeben hatte.

Reiner Haseloff glaubt, dass das Thema Migration und Flüchtlinge die CDU noch lange beschäftigen wird. Jetzt gehe es zunächst darum, „einen tragfähigen Ausgleich zwischen unserem christlichen Selbstbild und Humanität auf der einen Seite und geopolitischen Herausforderungen sowie dem nötigen Schutz der Außengrenzen auf der anderen Seite zu finden“. Insofern befinde sich die CDU derzeit in einer „konzeptionellen Phase“, wie Haseloff es nennt: „Das bestimmt auch die innerparteiliche Personaldebatte mit Blick auf die Zeit nach Merkel.“ Eine Wahlempfehlung zugunsten seines nordrhein-westfälischen Amtskollegen ist das übrigens ausdrücklich nicht.

Dieser Text ist in der April-Ausgabe des Cicero erschienen, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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