Meistgelesene Texte 2017 - Absurdes Beschwichtigungstheater

Kisslers Konter: Zuwanderer sind überproportional kriminell. Das ist traurig und bitter, aber laut neuen Zahlen ein Faktum. Medien sollten es nicht verharmlosen, doch das tun sie

Beim Thema Flüchtlinge und Gewalt besteht bei den Medien Verdunklungsgefahr / picture alliance
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Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Das Kind, das in den Brunnen fiel, ist nass. Mag man hinterher noch so lange darüber streiten, ob der Brunnen alle Definitionen eines Brunnens erfüllt, ob nicht schon sehr viele Kinder an ganz anderen Stellen unfreiwillig mit Wasser in Berührung kamen, ob Wasser überholt sei und man doch lieber über das schöne Gras am Rand des Brunnens reden sollte: Nass bleibt nass. An solche schlichten Wahrheiten muss erinnert werden angesichts des Beschwichtigungsspektakels, das mit der Vorstellung der neuen Kriminalstatistik einherging.

Falsche Erzählungen

Mit den Zahlen nämlich aus dem Bundesinnenministerium brach etwas entzwei, was nicht entzwei gehen durfte: die Sage vom ausnahmslos kreuzbraven, wissbegierigen, dankbaren und ergo vorbildlich gesetzestreuen Zuwanderer. Nein, so stehen die Dinge nicht. Die polemische Gegenerzählung, der zufolge nur Gauner und Verbrecher Deutschlands offene Grenzen überquerten, erwies sich als ebenso falsch. Den Erkenntnisschock der Zahlen wollten freilich viele Übermittler ihrem Publikum nicht zumuten. Zu selten las, hörte oder sah man, was festzuhalten etwa die Zeit schon vorab den Mut aufbrachte: „Zuwanderer waren 2016 (…) überdurchschnittlich an der gesamten registrierten Kriminalität beteiligt. Obwohl sie in der Regel nur zwischen 0,5 und 2,5 Prozent der Wohnbevölkerung in einem Bundesland ausmachen, stellten sie bis zu 10 Prozent aller tatverdächtigen Straftäter.“

Die Gewaltkriminalität in Deutschland steigt, weil Zuwanderer überproportional gewaltkriminell sind: So stehen die Dinge, leider. Um 52,7 Prozent erhöhte sich im Vorjahresvergleich die Zahl der zugewanderten „Tatverdächtigen bei Straftaten insgesamt ohne ausländerrechtliche Verstöße“, von 114.238 auf 174.438. In der Kategorie „Vergewaltigung und sexuelle Nötigung“ beträgt der Anteil der zugewanderten Tatverdächtigen beklemmende 14,9 Prozent. Außerdem sind „fast ein Drittel aller tatverdächtigen Zuwanderer Mehrfachtatverdächtige“.

Als Zuwanderer gelten nicht bereits anerkannte Flüchtlinge, sondern nur Personen aus Nicht-EU-Staaten „mit Aufenthaltsstatus ‚Asylbewerber‘, ‚Duldung‘, ‚Kontingentflüchtling/Bürgerkriegsflüchtling‘“ und bei „unerlaubtem Aufenthalt“. Rechnete man die anerkannten Flüchtlinge hinzu, stiegen die absoluten Zahlen weiter.

Probleme und Schuld werden verschoben

So weit, so klar, so bitter? Denkste. Die eine Zeitung war nun von der Sorge umgetrieben, durch „gefährlich unordentlichen offiziellen Sprachgebrauch“ würden Zuwanderer stigmatisiert, denn bei den Tätern und Tatverdächtigen handele es sich in Wahrheit um „Menschen, die auf der Suche nach Geld, Glück, Abenteuer zu uns kommen“. So verschiebt man Probleme von der tatsächlichen auf die sprachpolitische Ebene und relativiert sie damit. Eine andere Zeitung verfiel auf die fantasievolle Überschrift „Polizei ermittelt öfter gegen Flüchtlinge“ und machte die Tatverfolger, nicht die Täter zu Subjekten des Geschehens. Eine solche grammatikalische Schubumkehr kann man trickreich, wenn nicht perfide nennen. Der Generalverdacht kehrt unter umgekehrten Vorzeichen wieder, als Blankoscheck für Ermittlungsopfer: Nicht weil Zugewanderte verstärkt Gesetze brechen, schnellen die Zahlen in die Höhe, sondern weil Zuwanderer „schneller angezeigt“ würden und weil die Polizei besonders „engagiert“ ermittele.

Auch ein Kriminologe machte sprachpolitische Lockerungsübungen und versuchte – so wie die Tageszeitung den „Einwanderer“ – den „Flüchtling“ vom Ruch böser Taten zu befreien. Der wahre Flüchtling, sagte der Kriminologe, sei meistens „Opfer von Kriminalität“; kriminell würden Menschen, „die keine Perspektive in Deutschland hätten (…), Menschen aus Südosteuropa und Nordafrika“. Eine Lokalzeitung aus Ludwigsburg schließlich erklärte Fatalismus zur Bürgerpflicht: „Viele Flüchtlinge bedeuten nun mal mehr Kriminalität.“

Durchsichtiger Zweck

Das lässig dahingesagte „nun mal“ ist die argumentative Schwundstufe jener Neubelichtung von Realität, die faktisch wirken soll. Sie ist ein Manöver zu durchsichtigen Zwecken. Die Sprache soll reingehalten werden von den Zumutungen der Wirklichkeit. Weil „Flüchtling“ und „Einwanderer“ von interessierter Seite positiv codiert wurden, dürfen sie nicht in die Nähe negativer Tatbestände gelangen. Sonst verlören jene, die über Begriffe herrschen wollen, die Hoheit über die Politik, die mit solchen Begriffen gemacht wird. Wenn man plötzlich zu differenzieren beginnt, wo nicht unterschieden werden sollen darf, gerät alles ins Wanken, das normierte öffentliche Reden, die konsensfähige politische Semantik, der hohe Ton des Unhinterfragbaren. Aus Kommandomoral würde Aufklärung. Ein Anfang ist gemacht.

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