Kolumne - Deutschland, ein unbestimmter Ort

Lange wurde dieses Land von Verantwortungsparteien regiert und von Politikern, die solidarisch stritten. Inzwischen entfernt es sich von seinen kulturellen Wurzeln in der westlichen Zivilisation

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Anja Stiehler/ Jutta Fricke Illustrators
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Angela Merkel, gelernte Physikerin, liebt Formeln. Jüngst entdeckte sie eine ganz eigene für die Deutschen: Es seien „Menschen, die schon länger hier leben“. Die flotte Forscherin fand auch eine Definition für die Migranten: Menschen, „die neu hinzugekommen sind“.

An welchem Punkt in der Geschichte befinden wir uns gerade? In der Frühzeit menschlicher Entwicklung? In der Phase der Völkerwanderung, als ganze Stämme aufbrachen, um neue Lebensräume zu erobern? In der Zeit der großen Konflikte, als diejenigen, „die neu hinzugekommen sind“, sich anderen beigesellten oder die niederwarfen, „die schon länger hier lebten“? Da ging es, wie wir wissen, außerordentlich heftig zu. 

Umso seltsamer, dass die Bundeskanzlerin eine derart urzeitliche Begrifflichkeit wählt, um Deutsche und Migranten zu unterscheiden – ohne sie zu benennen. Der Welt-Journalist Dirk Schümer leitet aus Merkels merkwürdig unbestimmter Formulierung einen entsprechend eigenwilligen Begriff für Deutschland ab: „Hierland“.

Deutschland als unbestimmter Ort. Als undefinierbarer Ort. Als ortloser Ort.

Für die Deutschen Hierland, für die Migranten Neuland. 

Nur nicht Deutschland.

Ist der Regierungschefin das Vexierbild von den „Menschen, die schon länger hier leben“ einfach nur entschlüpft? Entstammt es einem Anfall von verbalem Kontrollverlust? 

Ungewollte Sätze sind oft erhellend. Könnte es sein, dass sich Angela Merkel nicht ganz zu Hause fühlt unter den „Menschen, die schon länger hier leben“ – also in Deutschland –, und deshalb das Siedlungsgebiet, das sie ja regiert, nicht gern beim Namen nennt? 

Es gibt einen früheren Satz, der ähnlich fragwürdig klingt. Er entschlüpfte der Kanzlerin im September 2015. Angela Merkel verteidigte ihre Willkommenspolitik: „Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.“ 

Deutschland – nicht mehr Merkels Land? 

Aus dem Munde des französischen Präsidenten wäre der Satz undenkbar. 

Oder ist Deutschland nur unter bestimmten Bedingungen Angela Merkels Land? Ein Land, das die Bundeskanzlerin verwerfen könnte, ja, zu verwerfen bereit wäre, wenn es den Migranten ein unfreundliches Gesicht zeigte?

So schlimm steht es nun doch nicht mit der Kanzlerin. Sie ist nicht bereit zu gehen. Im Gegenteil, sie will weiterregieren. 

Ist – andererseits – das Land gerade dabei, sich zu verwandeln? Ein Siedlungsgebiet, das sich neu mischt? Also ein Provisorium?
Es ist gar nicht lange her, da gab es das: Deutschland als Provisorium. Es ging 1989 unter. Geblieben ist die Erinnerung an einen Ort mit „Menschen, die schon länger dort leben“. Der Ort hieß DDR. Und ist heute ortlos. 

Hat sich da möglicherweise mehr aufgelöst als die DDR? Löst sich auch die BRD von ihrer „Raison d’être“: von ihren kulturellen Wurzeln in der westlichen Zivilisation? 

Katrin Göring-Eckardt, Fraktionsvorsitzende der Grünen, einst Aktivistin des DDR-Jugendverbands FDJ, schwärmt von einem neuen Fluchtort: „Unser Land wird sich ändern und zwar drastisch, ich sag euch eins, ich freu mich drauf, vielleicht auch, weil ich schon mal eine friedliche Revolution erlebt habe. Dieses hier könnte die sein, die unser Land besser macht.“

Das passt, arbeiten die Grünen doch seit ihrer Parteigründung an einem anderen Deutschland. Durch Volkserziehung soll es ökologisch sauber werden; durch Multikultur soll es der lästigen Deutschheit enthoben werden; durch Migration soll es mit „Menschen beschenkt“, mit „Neubürgern“ beglückt werden, wie Göring-­Eckardt jubilierend formuliert. 

Ein ganz neues Deutschland. Steht das alte auf Abruf? 

Auch „die Linke“ ist tätig dabei, dem Lebensraum, in den sie sich hineingeworfen fühlt, endlich das historisch angemessene Gepräge zu geben: durch Überwindung der Klassengesellschaft, was schließlich zur Überwindung alles Nationalen führen muss.

Sogar der renommierte Politologe Herfried Münkler stimmt ein in den Schwanengesang. In seinem aktuellen Buch „Die neuen Deutschen“ fordert er für Deutschland „eine veränderte Identität“. Münkler: „Wir müssen uns jetzt überlegen, in welchem Land wir leben wollen.“

So dreht sich im Wahljahr alles um die Frage: Ist das Deutschland, das ist, das Deutschland, das sein wird?

Wo „Menschen schon länger leben“ und „neue hinzukommen“, ohne zu wissen, wo genau sie sind und was genau sie sind, keimt Sehnsucht: nach gefühligem Ersatz für die gefühlte Ortlosigkeit. 

Nach Religion. 

Und Religion sucht die suchende Gesellschaft gerade in besonderem Maße heim. 

Was noch in der alten Bundesrepublik kein Thema war, elektrisiert heute die Medien – Koran und Bibel, Imame und Pfaffen. 
Gott wacht. Über Deutschland in der Nacht.

Es wäre an der Zeit, das deutsche Selbstverständnis vom Kopf wieder auf die Füße zu stellen. Aber wer soll das leisten? Am besten doch die Parteien, die sich seit drei Generationen für ein europäisch zivilisiertes Deutschland abrackern: Christdemokraten, Sozialdemokraten, Freidemokraten!

Ihre historische Leistung ist unbestreitbar, ist europäisch, ist anerkannt. Der Respekt, den die erste gelungene deutsche Demokratie weltweit genießt, ist ihr Werk. Sie verdienen das Vertrauen all jener Bürgerinnen und Bürger, die sich unverdrossen in der politischen Kultur des Westens verortet fühlen – auch im kreativen Kapitalismus, der ja untrennbar zu dieser Kultur gehört. 

Diese Citoyens und Citoyen­nes verbitten sich, dass man Deutschland durch ein Hirngespinst ersetzen möchte, sei es dem Kopf der Kanzlerin entsprungen, sei es auf Göring-Eckardts Biomist gewachsen, sei es von irgendeinem Politbüro ausgedacht.

Deutschland soll Deutschland bleiben, wie es war, als es groß war und dennoch – weil es klug war – bescheiden blieb. Für dieses Deutschland sind CDU/CSU, SPD und FDP die Verantwortungsparteien. Sie stehen für die Republik von Maß und Mitte – in der stets grimmiger, letztlich aber solidarischer Streit herrschte. 

Wie spannend war doch diese Demokratie, die frei redete, die kein Neusprech pflegte: Schumacher gegen Adenauer, Wehner gegen Strauß, Strauß gegen Kohl, Brandt gegen Barzel, Schmidt gegen alle. Auch Schröder betrieb noch dieses bissig-heitere Politisieren.

Die Melodie der Demokratie. 

Play it again, Sam.

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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