Koalitionsverhandlungen - Warten auf Groko

Das Willy-Brandt-Haus beherbergt zurzeit die Hauptstadtpresse. Dort warten die Journalisten auf die Verkündung der Einigung zur Großen Koalition. Doch Groko kommt und kommt nicht. Ein absurdes Schauspiel, das an einen Klassiker der Moderne erinnert

Reporter tippen die neuesten Nachrichten aus dem Willy-Brandt-Haus in ihre Laptops / Yves Bellinghausen
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Yves Bellinghausen ist freier Journalist, lebt und arbeitet in Berlin und schreibt für den Cicero.

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Es ist Tag 133 nach der Bundestagswahl: Heute soll sie endlich kommen, die Große Koalition. Im Willy-Brandt-Haus haben sich ungefähr 150 Reporter, vornehmlich TV-Journalisten und Agenturfotografen, versammelt. Sie warten auf die Verkündung der Einigung zwischen Union und SPD, die Deutschland auf den Weg zu einer neuen Regierung bringen soll. Doch sie kommt und kommt nicht, die Groko. Und immer stärker erinnert das Schauspiel, das Politiker und Journalisten an diesem Sonntag aufführen, an Samuel Becketts „Warten auf Godot“. Bei Beckett sind es die beiden Landstreicher Estragon und Wladimir, die unter einem kahlen Baum an einer Landstraße auf Godot warten – eine Figur, die sie nicht kennen, von der sie nicht wissen, ob es sie gibt und weshalb sie auf sie warten, wissen sie auch nicht so genau.

Die Hauptstadtjournalisten haben es da etwas besser. Denn auf die Groko warten sie immerhin im beheizten Willy-Brandt-Haus. Die SPD-Parteizentrale ist ein ganz fabelhafter Ort für das träge Schauspiel: Es gibt einen Innenhof, in dem etwa ein Dutzend Kamerateams ihre Apparate auf die Türen des Willy-Brandt-Hauses gerichtet haben. Allzeit bereit, jedem noch so verheißungsvollen politischen Hinterbänkler einen O-Ton abzunehmen. Aber anders als bei den Jamaika-Verhandlungen, sind die Architekten der Großen Koalition nicht sonderlich gesprächig. Hinter den Kameras sitzen Ton- und Bildtechniker auf Campingstühlen, rauchen und trinken aus Thermoskannen, während sie auf ihren Handys herumtippen. 

Die Mikrofone der Journalisten ragen ins Leere

Der Innenhof wird auf der einen Seite vom imposanten Atrium des Willy-Brandt-Hauses begrenzt. Hier steht der berühmte Bronze-Willy-Brandt und streckt so vielsagend seine schützende Hand aus. Und genau hier ragen die Mikrofone der Journalisten ins Leere. Bereit, endlich die frohe Kunde in Empfang zu nehmen und zu verbreiten, wenn sie denn endlich verkündet würde. Aber die Groko lässt erstmal auf sich warten.

Na gut, dann eben auf die andere Seite des Innenhofs, ins „Willy´s“. Das „Willy´s“ ist ein kleines Café mit zwei Etagen, das zum Willy-Brandt-Haus gehört. Hier warten die Hauptstadtjournalisten nun bei Gratis-WLAN und Gratis-Filterkaffee. Seelig sind die Reporter, die zu größeren Redaktionen gehören und im Team auftreten. Sie haben ständige Gesprächspartner, um die Wartezeit totzuschlagen. Andere Einzelkämpfer-Reporter stehen in den Ecken und führen scheinbar manisch Selbstgespräche. Sie üben Liveschalten und nehmen dabei vorsichtshalber nie die Knöpfe aus dem Ohr – immer bereit, die neuesten Entwicklungen an die wartende Nation durchzugeben. Am stillsten sind die einsamen Wölfe der Nachrichtenagenturen. Sie starren wie in Trance auf ihre Laptops und bewegen sich nur, um neuen Kaffee zu holen. 

Immer wieder klingeln die Handys der Reporter. Die Redaktionen rufen an. Was ist denn nun mit Groko? Aber im „Willy's“ gibt es keine Antworten. Manche Reporter versuchen es umgekehrt und rufen ihre Redaktionen an. Ob denn jemand etwas wüsste. Manch einer hat sogar Informanten „da drinnen“. Aber auch von dort kommen nur Gerüchte zurück.

Ein Verharren in professioneller Lethargie

Zwischen 14 Uhr und 15 Uhr sickert dann langsam durch: Groko kommt heute gar nicht mehr, die Verhandlungen werden wohl bis Anfang der kommenden Woche laufen. Kein Groko nirgends. Die Reporter verharren trotzdem weiter im „Willy's“ und telefonieren. Sie telefonieren mit wichtigen Leuten in der Redaktion oder sehr wichtigen, aber anonymen Leuten ein paar Etagen weiter oben im Willy-Brandt-Haus. Heraus kommt dabei aber auch nichts.

Dann, plötzlich, passiert doch mal was: Ein ARD-Reporter will das Café verlassen und schlägt sich dabei selbst die Tür ins Gesicht. Ein Tropfen Blut quillt aus seiner gepuderten Stirn hervor. Endlich mal ein reales Ereignis, über das die Journalisten sprechen können! Nähen? Nein, nicht nähen, dann gibt´s eine Narbe! Blut abtupfen! Nee, lieber Blut gerinnen lassen, damit die Blutung stoppt. Sanitäter kommen in einem gläsernen Aufzug aus den mystischen oberen Etagen des Willy-Brandt-Hauses heruntergeschwebt und geben dem angeschlagenen Reporter sein Reportergesicht zurück. Zum Glück, denn in 45 Minuten hat er eine Liveschalte. Er muss berichten, dass es wieder nichts zu berichten gibt. Joachim Herrmann, bayerischer Innenminister, geht anteillos an dem notversorgten Reporter vorbei und schenkt ihm einen müden Blick. Ein paar Unions-Mitarbeiter gehen ins Willy-Brandt-Haus hinein und gehen bald wieder hinaus. Reporter laufen aus dem Café heraus und schauen, ob sich was tut. Aber von Groko ist weiter nichts zu sehen.

Immer wieder enttäuschte Hoffnung

Intervallhaft geraten die Agenturfotografen in Aufregung, zumeist werden sie von vorfahrenden Limousinen aufgeschreckt. Die Agenturfotografen alarmieren die Reporter mit Knopf im Ohr. Die wiederum lassen ihren wässrigen Gratis-Kaffee im „Willy's“ stehen, ergeben sich dem Sog und laufen in den Innenhof, um „die Lage zu sondieren“. Vorfreude! Kommt sie da jetzt doch noch? Die Groko?! Aber dann sind es doch nur ein paar wortkarge Politiker, die mit regloser Miene aus ihren Limousinen steigen und ins Willy-Brandt-Haus gehen.

Als sich die Aufregung gelegt hat, gehen die Reporter zurück ins „Willy's“. Plaudern, telefonieren, Kaffee trinken. Bei Beckett spielen Estragon und Wladimir mit dem Gedanken, Suizid zu begehen. Aber die Hauptstadtjournalisten behalten die Nerven.

Unterhändler verteilen Wegzehrungen

Estragon und Wladimir werden immer wieder von einem Ziegenhirten vertröstet, dass Godot ganz sicher bald kommen werde. Ziegenhirten gibt's auch im Willy-Brandt-Haus: Die Unterhändler der Parteien verteilen immer wieder kleine Appetithäppchen an die Journalisten, um das Warten auf Groko erträglicher zu machen. Um 16:15 Uhr tritt die „AG Kommunales und Ländlicher Raum“ vor die Kameras und berichtet, es habe eine Einigung gegeben. 17 Uhr Mieten und Wohnen. 17:30 Uhr Digitales. 18:15 Kunst und Kultur. Jeweils zu dritt treten Ministerpräsidenten und Parteigranden von CDU, CSU und SPD vor die Kameras und verkünden, worauf man sich geeinigt habe. Nach jedem Statement telefonieren die Reporter eilig in ihre Redaktionen und geben die neuesten Neuigkeiten durch oder tippen die Politiker-Verlautbarungen in ihre Laptops.

Eigentlich sei das, was die Parteien in den oberen Etagen treiben „Makulatur”, murrt ein Agenturjournalist, nachdem er eine Meldung abgetippt hat. Aber das absurde Schauspiel hat seine Gründe. Nicht zu lange verhandeln, denn das wecke Erinnerungen an Jamaika. Nicht zu schnell fertig werden, sonst glaube die SPD-Basis nicht, dass die Verhandlungen hart genug gewesen seien. „Einen Zirkus“, nennt der Agenturjournalist das, was die Politiker da oben treiben. Dabei sind es doch die Journalisten, die jede Wasserstandsmeldung eilig in ihre Redaktionen funken, für die dieser Zirkus hier aufgeführt wird.

Die Groko kommt morgen

Immer wieder bilden sich kleine Journalistentrauben im Atrium des Willy-Brandt-Hauses, wenn Reporter sich um Politiker aus der dritten und vierten Riege zu spontanen Hintergrundgesprächen drängen. Dann fragen die Reporter, ob es oben Currywurst gegeben habe. Brisante Fragen wollen die Politiker ohnehin nicht beantworten. Jamaika ist noch im Hinterkopf. 

Gegen 19 Uhr ist das letzte Fünkchen Hoffnung eigentlich schon verflogen. Doch dann kommt noch einmal ein Ziegenhirte. Ein Pressesprecher sagt den Journalisten, sie sollen jetzt noch einmal ins Atrium kommen, SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil würde gleich etwas Wichtiges vermelden. Kann es sein? Groko? Um 19:19 Uhr marschiert Klingbeil entschlossenen Schrittes vor die Mikrofone. Er spricht wenige Sekunden. Am morgigen Montag um 10 Uhr werde man sich wiedertreffen, dann würde man weiter verhandeln. Groko soll tatsächlich kommen. Es sei nur noch eine Frage des wie genau und wann.

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