Corona-Impfung für Kinder - „Gerade Kinder gehören zu den Leidtragenden“

Die Debatte um eine Impfung für Kinder und Jugendliche in Deutschland setzt sich fort. Auch wenn die Stiko keine Empfehlung aussprechen sollte, befürwortet Gesundheitsminister Spahn das Corona-Impfangebot. Im Interview erklärt die Epidemiologin Ulrike Haug den Nutzen einer Kinderimpfung.

Vom 7. Juni an dürfen sich auch Kinder im Alter von zwölf bis 15 Jahren impfen lassen / dpa
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Autoreninfo

Sina Schiffer studiert an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität in Bonn Politik und Gesellschaft und English Studies. Derzeit hospitiert sie bei Cicero. 

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Seit 2015 hat Dr. Ulrike Haug eine W3-Professur für Klinische Epidemiologie und Pharmakoepidemiologie an der Universität Bremen inne und ist Leiterin der Abteilung Klinische Epidemiologie am Leibniz-Institut für Präventionsforschung und Epidemiologie – BIPS. 

Frau Haug, die Stiko hält eine Impfempfehlung für Kinder für unwahrscheinlich. Jens Spahn hingegen will auch ohne Stiko-Empfehlung Kinderimpfungen durchführen. Wie schätzen Sie das ein? 

Ich fände es durchaus verständlich und angemessen, wenn die Positionen der Stiko und der Politik hier unterschiedlich ausfallen würden. Die Empfehlung der Stiko fokussiert auf dem Abwägen des Nutzens und der Risiken für den Einzelnen aus rein medizinischer Sicht. Die Impfung ist zwar bei Kindern offenbar sehr wirksam, aber der direkte medizinische Nutzen für das einzelne Kind ist begrenzt, da die Covid-19-Erkrankung für Kinder kaum eine Bedrohung darstellt.

Sind noch weitere Risiken durch eine Impfung aufgefallen? 

Bezüglich möglicher Risiken ist in der Zulassungsstudie außer den typischen Impfreaktionen zwar nichts aufgefallen, aber die Stiko misst der Tatsache, dass das Wissen hier noch begrenzt ist, vermutlich eine höhere Bedeutung bei, als wenn es sich um eine Krankheit handeln würde, die auch für Kinder eine größere Bedrohung darstellt. Das ist zwar nachvollziehbar, aber die Politik sollte bei ihrer Entscheidung noch weitere Aspekte einbeziehen, die über den rein medizinischen Nutzen für das einzelne Kind hinausgehen.

Ulrike Haug / Alexander Fanslau

Welchen weiteren Nutzen können Kinderimpfungen haben? 

Um die Pandemie dauerhaft in Griff zu bekommen, wäre es von Vorteil, wenn Kinder auch geimpft würden. Auch wenn die meisten Kinder selbst nicht schwer erkranken, können sie das Virus weitergeben. Es könnte dann wieder zu Ausbrüchen bei Erwachsenen ohne oder mit begrenztem Impfschutz kommen und auch die Entstehung neuer Virus-Mutationen würde dadurch begünstigt.

Gerade Kinder gehören zu den Leidtragenden, wenn die Pandemie kein Ende nimmt und sich nicht bald wieder eine Normalität einstellt. Das betrifft den normalen Schulalltag, soziale Kontakte, Freizeitaktivitäten, oft auch die finanzielle Situation der Eltern und bei manchen auch leider den Schutz vor Gewalt und Missbrauch in der Familie.

Was erwarten Sie jetzt von der Politik? 

Die Kinder und die ganze Gesellschaft hätten somit durch Kinderimpfungen einen großen Nutzen, der über den rein medizinischen Nutzen für das einzelne Kind deutlich hinausgeht. Diese Aspekte muss die Politik aus meiner Sicht miteinbeziehen. In den klinischen Studien werden diese Aspekte nicht erfasst, dort geht es um den medizinischen Aspekt der Impfung.  

Warum sind Impfungen für Erwachsene unbedenklich und für Kinder nicht?

Es geht eher um die Frage, was man zur Sicherheit des Impfstoffs jetzt schon weiß. An der Studie, die zur Zulassung des Biontech-Impfstoffs für Zwölf- bis 15-Jährige geführt hat, haben insgesamt etwa 2.200 Kinder dieser Altersgruppe teilgenommen, die Hälfte davon hat eine echte Impfung bekommen, die andere Hälfte Placebo. Man hat die typischen Impfreaktionen wie Kopfschmerz, Fieber oder Schmerz an der Einstichstelle beobachtet, nichts wirklich Bedenkliches.

Wie repräsentativ ist diese Studie? 

Die Fallzahl ist zu klein, um sicher sagen zu können, dass es keine seltenen Nebenwirkungen gibt. Ähnlich war es zum Zeitpunkt der Zulassung des Biontech-Impfstoffs für Erwachsene. Zwar haben an der Zulassungsstudie damals insgesamt etwa 40.000 Erwachsene teilgenommen, aber in den einzelnen Altersgruppen war die Anzahl auch begrenzt. So waren in der Gruppe der über 75-Jährigen weniger als 1.000 Personen. Die Unsicherheit bestand also da genauso. 

Was heißt das für eine Kinderimpfung? 

Ich denke, bei Kindern wird es ähnlich sein. In einigen Ländern wurden ja auch bereits viele Kinder geimpft. Wäre etwas Bedenkliches aufgefallen, hätte man das sofort untersucht. Es bleibt bei manchen dann noch die Angst vor spät auftretenden Nebenwirkungen, aber das wäre für Impfstoffe eigentlich untypisch. 

Kinder können doch in den Schulen zu Superspreadern werden, warum wird da über Impfungen noch diskutiert?

Es gibt in allen Altersgruppen einen gewissen Anteil an Personen, die – wenn sie den Virus in sich tragen – offenbar besonders infektiös sind. Insofern spielen Kinder zwar auch eine Rolle in der Pandemie, aber sie sind sicher nicht die alleinigen Treiber. Der Erkrankungsverlauf bei Kindern ist meist sehr mild, insofern ist es schon wichtig, die Vor- und Nachteile der Impfung speziell für Kinder zu diskutieren. Man könnte das Infektionsgeschehen in den Schulen vermutlich auch durch den dauerhaften Einsatz von Testverfahren und Masken teilweise eindämmen, aber das wäre für die Kinder auch belastend und einschränkend. 

Kinder werden doch auch sonst gegen alles Mögliche geimpft, warum nicht gegen Corona?

Bei den bisherigen Impfungen für Kinder handelt es sich meist um Erkrankungen, die für Kinder – wenn sie daran erkranken – aus medizinischer Sicht eine Bedrohung darstellen können. Bei Corona kann das zwar auch vorkommen, aber es ist sehr selten und betrifft dann eher Kinder mit Vorerkrankungen. Für Kindern ergibt sich aber, wie schon erwähnt, indirekt eine Bedrohung, wenn die Pandemie nicht zum Erliegen kommt. Insofern ist die Situation und dementsprechend auch die Diskussion hier schon komplexer.

Warum kommt die Überlegung zur Kinderimpfung erst jetzt? Man hätte so doch sehr viel mehr Schulstoff im Präsenzunterricht durchnehmen können. 

Ich denke, die Überlegungen waren schon viel früher da, aber es gab gute Gründe, zunächst die Zulassungsstudien für Erwachsene durchzuführen. So konnte man den Altersgruppen, in denen schwere Verläufe häufiger auftreten, als erstes Schutz bieten und gleichzeitig durch die großflächige Anwendung bei Erwachsenen nach der Zulassung weitere Erkenntnisse zur Sicherheit des Impfstoffs gewinnen. Auch wenn sich die Erkenntnisse bei den Erwachsenen nicht einfach auf Kinder übertragen lassen, gibt das eine gewisse Sicherheit.

Wird es zu einer Impfpflicht für Kinder kommen?

Ich gehe nicht davon aus, dass es dazu in nächster Zeit kommt, auch wenn genügend Impfstoff verfügbar wäre. Ich fände speziell bei Corona eine Impfpflicht für Kinder auch nicht zu vertreten, wenn es nicht gleichzeitig eine Impfpflicht für Erwachsene gäbe, denn in erster Linie müssen die Erwachsenen auch bereit sein, sich selbst durch eine Impfung zu schützen. Aber ich kann natürlich nicht abschätzen, wie sich die Pandemie entwickeln wird.

Sie würden eine Impfpflicht also nicht komplett ausschließen? 

Wenn die Impfquote bei Kindern so niedrig ist, dass es an Schulen immer wieder Ausbrüche gibt und man die Pandemie nicht in Griff bekommt, wäre das eine Option, die man zumindest auch diskutieren und gegenüber anderen Optionen abwägen sollte.

Die Fragen stellte Sina Schiffer

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