Kevin Kühnerts sozialistische Thesen - Tiefschlag für die SPD

Juso-Chef Kevin Kühnert plädiert im „Zeit“-Interview dafür, den Kapitalismus zu überwinden. Erstaunlich daran ist vor allem eines: Dass es ihm damit gelingt, die Diskurshoheit bei den Sozialdemokraten zu erobern

Warum lässt sich seine Partei von einem 29-jährigen Studenten herumtreiben? / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Der Vorsitzende der Jungsozialisten in der SPD hat der Zeit ein Interview gegeben, und seither scheint die Revolution unmittelbar vor der Tür zu stehen. Tatsächlich formieren sich derzeit Kampfverbände aus aufwieglerischen Jusos und tausenden radikaler Gesinnungsgenossen, um von Kevin Kühnerts Berliner Heimatbezirk Tempelhof-Schöneberg in Richtung Regierungsviertel zu ziehen und die Große Koalition zur Abdankung zu zwingen.

Überhaupt liegt in ganz Deutschland plötzlich die Lust auf eine andere Gesellschaftsordnung in der Luft, seit die Menschen gestern Kühnerts Visionen in sich aufgesogen haben. Der ist zwar mit seinen 29 Jahren schon reichlich alt, vor allem im Vergleich zur Klimaaktivistin Greta Thunberg. Aber die politische Erfahrung, auf die der Juso-Chef bei seinem Kampf gegen das kapitalistische Ausbeutungssystem bauen kann, wird ihm noch von Nutzen sein. Es geht los, Freunde, die Erlösung ist nah!

„Was hat der geraucht?"

So ungefähr muss man sich die Lage am Tag eins nach Veröffentlichung des Gesprächs zwischen Kühnert und den Zeit-Redakteuren Tina Hildebrandt und Jochen Bittner vorstellen. Zumindest beim Blick auf die Reaktionen, die es ausgelöst hat. Sie reichen von „DDR light oder DDR“ (Oliver Luksic, FDP) über „verschrobenes Retro-Weltbild eines verirrten Fantasten“ (Verkehrsminister Andreas Scheuer, CSU) bis zu „sozialistische Fantasien einer besseren DDR“ (Tilman Kuban, Junge Union). Sogar der Hamburger Sozialdemokrat Johannes Kahrs fragte sich auf Twitter, welche illegalen Substanzen der Genosse aus Berlin wohl geraucht habe, um auf solche Ideen zu kommen.

Kühnert antwortete sinngemäß, er habe lediglich das Grundsatzprogramm der SPD inhaliert. In der nach wie vor aktuellen Fassung vom 28. Oktober 2007 heißt es dort wörtlich: „Der demokratische Sozialismus bleibt für uns die Vision einer freien, gerechten und solidarischen Gesellschaft, deren Verwirklichung für uns eine dauernde Aufgabe ist.“ Diese Passage wurde auf dem damaligen Parteitag übrigens auf ausdrücklichen Wunsch der Delegiertenmehrheit ins Programm (wieder) aufgenommen, nachdem sie ursprünglich hatte getilgt werden sollen.

Konkrete Inhalte statt Wohlfühlkampagne?

Aber das ist eben Geschichte, und derzeit befinden wir uns nicht nur im Abstiegskampf der deutschen Sozialdemokratie, sondern noch dazu im Europawahlkampf. Und da wirkt der Rekurs Kühnerts auf die eigenen Leitlinien der Partei eben „grob unsolidarisch“, wie der Genosse Kahrs glaubte mitteilen zu müssen. Man könnte andererseits auch auf den Gedanken kommen, dass ein paar konkrete Inhalte die aktuelle „Europa ist die Antwort“-Wohlfühlkampagne der SPD durchaus auffrischen.

Blöd nur, dass diese Inhalte aus Kühnerts Theorien-Schatzkästlein vielen SPD-Funktionären nicht in den Kram passen. Zumindest nicht kurz vor der Wahl, weil man so nämlich die wenigen verbliebenen Anhänger vom bürgerlichen Flügel der Sozialdemokratie endgültig verschrecken könnte. Was ja auch stimmt, aber vielleicht liegt genau hier das Problem der SPD, die nicht weiß, ob sie ihr Heil in einem radikal linken Kurs nach britischem Jeremy-Corbyn-Vorbild suchen soll, oder ob nicht doch eher SPD-Vize Olaf Scholz mit seinem pragmatischem Mitte-Ansatz erfolgversprechender wäre.

Ein typisches westdeutsches Wohlstandskind

Wären die Sozialdemokraten nicht in einer derart fragilen Lage, könnte ein Interview mit einem Juso-Vorsitzenden niemals solche regelrechten Schockwellen auslösen. Denn wer das Gespräch gelesen hat, kommt um die Feststellung nicht herum, dass es sich hier um reichlich unausgereifte Theorien eines typischen westdeutschen Wohlstandskindes handelt, der Politik als praktische Fortsetzung universitärer Seminare versteht.

Gerhard Schröder, einst selbst eifernder Juso, hätte solche pseudointellektuellen Ergüsse großkotzig als „Gedöns“ abgetan – und damit wäre die Sache beendet gewesen. Der amtierenden SPD-Führung fehlt dazu die Kraft, und genau deshalb können Kühnerts Thesen von wegen einer „Vergemeinschaftung“ des Autoherstellers BMW oder sein etwas verdruckstes Plädoyer gegen die Existenz privaten Wohnraums eine nicht unerhebliche Wirkungsmacht entfalten.

Warum bietet SPD nicht Paroli?

Kühnert sagt Sätze wie: „Die Verteilung der Profite muss demokratisch kontrolliert werden. Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer dieses Betriebs gibt. Ohne Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus nicht denkbar.“ Wer in diesem Land das Vergnügen hat, selbständiger Unternehmer zu sein, kann darüber bestenfalls nur lachen. Man könnte an dieser Stelle auch ins Detail gehen, um derlei wirklichkeitsfremde Einlassungen zu zerpflücken. Aber das ist nicht der Punkt; antimarktwirtschaftlicher Furor gehört zur jungsozialistischen DNA wie der Genderstern in rot-rot-grüne Koalitionsverträge.

Die Frage ist vielmehr, warum die SPD sich von Propagandisten wie Kühnert herumtreiben lässt. Olaf Scholz hat zwar sehr richtig erkannt, dass das Problem seiner Partei nicht im Mangel an linken Inhalten besteht, sondern im Nichtvorhandensein überzeugender Führungspersönlichkeiten. Aber dann müsste er jetzt eben auch zeigen, dass ein sozialdemokratischer Finanzminister einem 29-jährigen Studenten aus Tempelhof-Schöneberg Paroli bieten kann. Anderenfalls erneuert sich die SPD in die endgültige Bedeutungslosigkeit.

 

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