Debatte um Kevin Kühnert - "Sozialismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen"

Mit seiner Forderung nach einer Vergesellschaftung von Betrieben hat Juso-Chef Kevin Kühnert eine Debatte darüber entfacht, wieviel Sozialismus die Wirtschaft verträgt. Dabei ist dieses Modell in der Praxis längst gescheitert, kontert das junge SPD-Mitglied Stefan Hasenclever

Wer würde von einer Vergesellschaftung von BMW profitieren? / picture alliance
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Autoreninfo

Stefan Hasenclever, 30, promoviert zu makroökonomischen Fragestellungen an der Hertie School of Governance. Er ist Stipendiat der Friedrich-Ebert-Stiftung und SPD-Parteimitglied. 

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Bis weit in die links-liberale Mitte der Gesellschaft hat sich der Irrglaube verfestigt, Sozialismus sei in der Theorie eine gute Sache, nur in der Praxis falsch umgesetzt. Daher können Populisten von Linksaußen auch unbeschwert den „demokratischen“ Sozialismus propagieren. Es ist kaum vorstellbar, was in diesem Land los wäre, wenn Rechtsradikale versuchen würden den „demokratischen“ Faschismus in die politische Diskussion einzubringen.  

Dabei stinkt der Sozialismus schon vom theoretischen Konzept her. Das Fundament der quasi-religiösen Glaubensgrundsätze ist eine eigenwillige Interpretation der Geschichte als eine Geschichte der Klassenkämpfe. Daraus leitet Karl Marx, warum und wie auch immer, den zwangsläufigen Ablauf der Geschichte ab. Die Verelendung des Arbeiters im Kapitalismus würde unausweichlich in eine kommunistischen Revolution und zur Diktatur des Proletariats führen. Nach einer sozialistischen Übergangsphase würde diese in eine klassenlose Gesellschaft, ins Paradies auf Erden, münden. Diese Zwangsläufigkeit lässt keine alternativen Betrachtungen des sicherlich wesentlich komplexeren Geschichtsablaufs und Wesens des Menschen zu. Sie verkommt zu einer gefährlichen Ideologie.

Unterdrücker und Unterdrückte

Nicht nur vor dem Hintergrund der praktischen Umsetzungen des Sozialismus im 20. Jahrhundert, sondern auch vor dessen Theorie muss sich jeder Demokrat die Frage stellen, was an einer Diktatur gut sein soll. Hier kommt aber ein immer wieder auftretender Irrglaube und Widerspruch der Linken ins Spiel: Der Glaube an das Gute im unterdrückten Subjekt. Als existentielle Rechtfertigung ihrer emanzipatorischen Rolle benötigen Linke gesellschaftliche Machtverhältnisse, die Unterdrücker und Unterdrückte hervorbringen.

In ihrer Naivität gehen Linke davon aus, dass die Unterdrückten – seien es Arbeiter, Frauen, Homosexuelle oder Migranten –  durch die Ungerechtigkeit, die ihnen widerfährt, per se bessere Menschen sind. Somit kann eine Diktatur des Proletariats auch nicht zu Machtmissbrauch und Verwerfungen wie Unterdrückung, Verfolgung oder Umerziehung führen, sondern nur die Vollendung des Menschen nach sich ziehen.

Defekt des Sozialismus

Da die vorsätzliche Intuition der Sozialisten, nämlich die Emanzipation des Arbeiters, darüber hinaus als etwas Positives betrachtet wird, wird über diesen theoretischen Defekt gerne hinweggesehen. Und das, obwohl es in der Praxis verheerende Konsequenzen für Millionen von Menschen hatte. Kann der Zweck diese Mittel heilen? Wollen wir tatsächlich wieder Experimente aufnehmen, die ganze Gesellschaften eingesperrt, Andersdenkende verfolgt und die Wirtschaft ruiniert haben?

Kevin Kühnert scheint Kritik an seinen Thesen vorhergesehen zu haben. Daher versieht er in einem Interview mit der Zeit seine Sozialismusphantasie mit dem Feigenblatt „demokratisch“ und betont im Nachhinein, nicht von Verstaatlichung oder Enteignung gesprochen zu haben. Dabei führt er in dem ursprünglichen Interview in Bezug zu BMW aus, dass „die Verteilung der Profite (...) demokratisch kontrolliert werden (muss). Das schließt aus, dass es einen kapitalistischen Eigentümer an diesem Betrieb gibt. Ohne eine Form der Kollektivierung ist eine Überwindung des Kapitalismus überhaupt nicht denkbar.“ 

Sind Arbeiter auch nur Menschen?  

Abgesehen von der Frage, ob eine Kapitalgesellschaft nicht auch eine Art von Kollektiv ist, stellt sich die viel dringendere Frage, wie das sich im Besitz der Aktionäre befindliche Unternehmen ohne (staatliche) Enteignung in ein für Kevin Kühnert wünschenswertes Kollektiv überführt werden soll. Immerhin dürfte es nach seiner These keine kapitalistischen Eigentümer mehr geben. Braucht es für diese Überführung nicht eine gesetzliche Grundlage und eine Exekutivmacht? Oder soll das Kollektiv der Beschäftigten die Produktionsmittel einfach an sich reißen – und also doch eine Revolution durchführen? Kühnerts Anhänger verweisen gerne auf das Grundgesetz, dass Enteignungen von Privateigentum zum Wohle der Allgemeinheit gegen eine angemessene Kompensation vorsieht. Aber glauben diese Menschen tatsächlich, der Staat oder das „Kollektiv“  könnten sämtliche Aktionäre zum marktgerechten Preis für die Enteignung kompensieren?

Es stellt sich zudem die Frage, wen das Kollektiv überhaupt alles einbindet. Nur die Beschäftigten eines Konzerns oder auch dessen Konsumenten, Zulieferer, Anwohner und alle anderen, die direkt oder indirekt von dem Unternehmen abhängig sind? Also letztendlich die ganze Gesellschaft? Dass die Enteignung oder Kollektivierung der Aktiengesellschaften nicht im Sinne des Allgemeinwohls oder der Beschäftigten ist, muss nicht einmal theoretisch begründet werden.

Es genügt bereits ein Blick auf die Erfahrungen der Demokratisierung von Betrieben im Rahmen des „Dritten Wegs“ in  Jugoslawien. Merkwürdigerweise entschieden sich die Arbeiter in Zeiten guter Konjunktur gegen die Einstellung neuer Mitarbeiter und strategische Investitionen, sondern für Lohnerhöhungen. Eine Unternehmenspolitik, die zu Massenarbeitslosigkeit, Stagnation und damit letztendlich zu Auswanderung geführt hat. Kann es sein, dass Arbeiter auch nur von Anreizen und Interessen getriebene Menschen sind und keine höheren Wesen, die frei von Egoismus Entscheidungen im Sinne des Allgemeinwohls treffen?

Wer haftet für den Misserfolg? 

Davon abgesehen: Wie sollen in einem solchen Konstrukt effiziente Strukturen und Entscheidungen möglich sein? Wer soll am Ende für unternehmerischen Misserfolg haften? Woher kommt der naive Glaube an die Unkorrumpierbarkeit von Kollektiven? Wollen/können Beschäftigte überhaupt komplexe betriebswirtschaftliche Entscheidungen treffen? Oder sollte stattdessen lieber eine „Vertretung“ von Kühnert und seinen Genossen diese Tätigkeit übernehmen? Sollen auch GmbH's und Personengesellschaften kollektiviert werden? Wer würde überhaupt noch das Risiko einer Gründung aufnehmen, wenn strategische Entscheidungen kollektiviert werden? Das Kollektiv selbst? Kühnert kann es rhetorisch verpacken, wie er es will, seine Thesen laufen auf eine staatlich gelenkte Planwirtschaft hinaus. 

Man könnte dies alles als realitätsferner-Besserwisser-Juso-Unsinn abtun, wie es SPD-Chef Olaf Scholz getan hat. Hinter diesem „Unsinn“ verbirgt sich aber eine gefährliche Schieflage in unserer Gesellschaft. Nämlich die schon angesprochene Verharmlosung linker Verbrechen – aufgrund der vermeintlich „richtigen“ Idee. Diese lässt sich auch bei Ralf Stegner wiederfinden, dem eine links von der SPD stehende Jugendorganisation lieber ist als eine rechts von der CDU stehende. Diese Aussage ist nur einen Zungenschlag von „linke Gewalt ist besser als rechte Gewalt“ entfernt. Eine Einstellung, die in der Mitte der Gesellschaft weit verbreitet ist. Wie ist es sonst zu erklären, dass der gesellschaftliche Aufschrei ausbleibt, wenn eine Gastsätte in Köln mit dem Namen „Hotel Lux“ Sowjetnostalgie bedient und eine lebensgroße Puppe vom für Massenmorde verantwortlichen Lenin ausstellt?

Die Schlüsselrolle des Godesberger Programms 

Es scheint, dass Populisten wie Kühnert froh sind, wenn Schwierigkeiten im Zusammenspiel des Staates mit der Wirtschaft auftreten. Über die komplexen Ursachen können sie hinweggehen, das Unheil stattdessen simplifizierend auf „den“ Kapitalismus schieben und ihre törichten einfachen Lösungen verbreiten. Damit verkennen sie die Tatsache, dass die Sozialdemokratie erfolgreich die Verwerfungen des Kapitalismus durch die Einführung und Ausweitung des Sozialstaats gebändigt hat. Nur so war es möglich, ökonomische Stärke und soziale Absicherung nicht mehr als Gegensätze wahrzunehmen, sondern als Symbiose zu verwirklichen.

Die SPD konnte mit ihrer endgültigen Abkehr vom Sozialismus nach dem Godesberger Programm zur Volkspartei aufsteigen. Sie hat in der Folge Millionen von Arbeitern den sozialen Aufstieg ermöglicht. Trotz der anhaltenden innergesellschaftlichen Ungleichheit kann niemand ernsthaft behaupten, dass lohnabhängig Beschäftigte jemals in einem sozialistischen System besser gestellt waren als in der BRD. Es muss nicht darüber gestritten werden, dass innerhalb der sozialen Marktwirtschaft trotzdem Verbesserungsbedarf existiert. Dank Kühnerts Agenda-Setting und der Unfähigkeit der Parteiführung, ihm eindeutig zu widersprechen, gehen lebensnahe soziale Probleme derzeit leider genauso unter wie europapolitische Themen. Aufmerksamkeit ist halt ein begrenztes Gut. 

Miesmacherei macht schlechte Laune

Ich bin es leid, dass die mediale Deutungshoheit beim linken Flügel der SPD liegt – nicht nur bei der Frage nach der Wiederaufnahme der Großen Koalition, sondern auch in der Sozialismus-Debatte. Und das, obwohl die Mehrheit der SPD-Mitglieder Kühnerts Vorschläge genauso ablehnt wie die Mehrheit der Bevölkerung. Neben den kleinen Korrekturmaßnahmen in der großen Koalition müssen wir Sozialdemokraten endlich ein neues Zukunftskonzept entwickeln. Wir müssen uns wieder Gedanken darüber machen, wie wir in Zukunft die Wirtschaft stärken und zugleich den Sozialstaat ausbauen und die Europäische Währungsunion komplettieren können.

Wir müssen gleichzeitig aufhören, die gesellschaftlichen Verhältnisse schlechtzureden, die wir in den vergangenen 20 Jahren nicht unwesentlich mitgestaltet haben. Diese Miesmacherei macht schlechte Laune. Stattdessen sollten wir voller Zuversicht und Optimismus neue Ideen entwickeln, wie wir unsere Gesellschaft verbessern können. Reaktionäre Sozialismusansätze mögen dem Bevormundungsbedürfnis selbst ernannter „richtiger“ Sozialdemokraten genügen, sie widersprechen jedoch dem Ideal einer offenen Gesellschaft.

In diesem Sinne: Pragmatiker der SPD  - vereinigt Euch!

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