Katholische Kirche entschädigt Missbrauchsopfer - Wenig ist nicht genug

Deutschlands Bischöfe wollen den Opfern sexuellen Missbrauchs bis zu 50.000 Euro zahlen. Lisa Scharnagl wurde als Kind an einer katholischen Schule missbraucht. In einem Beitrag für „Cicero“ schreibt die Studentin, warum ihr diese „Ausgleichszahlung“ nicht reicht.

Eine Frage der Verantwortung: Missbrauchsopfern gehen die Ausgleichszahlungen nicht weit genug / dpa
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Autoreninfo

Lisa Scharnagl, 21, studiert Politik, Wirtschaft, Katholische Religion, Philosophie und Erdkunde auf Lehramt und Psychologie. Nebenbei engagiert sie sich ehrenamtlich als Kantorin in ihrer katholischen Kirchengemeinde. 

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Wie viel sind der Kirche ihre Opfer wert? Maximal 50.000 Euro in Anerkennung des Leids. Das verkündete der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Limburger Bischof Georg Bätzing, zum Abschluss der Herbstvollversammlung in Fulda. Nur 50.000 Euro? Bätzing hält diesen Betrag für ausreichend. „Ein nur kann ich hier wirklich nicht sehen“, sagte er hinterher. Die Bischöfe also halten ihre Entscheidung für angemessen. Viele Betroffene sehen das anders. 

Als das Thema sexualisierte Gewalt im Zusammenhang mit den Enthüllungen rund um die Missbrauchsfälle im Berliner Canisius-Kolleg, der Odenwaldschule oder dem Kloster Ettal die breite Öffentlichkeit erschütterte, war ich gerade zehn Jahre alt und ein fröhliches Kind. Die schrecklichen Nachrichten waren für mich in weiter Ferne. Vieles ist seitdem passiert. Auch ich habe sexualisierte Gewalt erlebt. Es war im Jahr 2014 in einer katholischen Mädchenschule, deren Trägerschaft sich Stadt, Landkreis, eine Ordensgemeinschaft und eine Diözese teilen. Die Zuständigkeiten sind komplex. Die Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung ist gering. Genau aus diesem Grund ist unklar, ob ich überhaupt einen Anspruch auf die gerade beschlossenen Zahlungen habe. Dennoch habe ich dazu eine Meinung. Dennoch kann ich die Wut, Erschütterung und Enttäuschung vieler Betroffener über die Entscheidung nachvollziehen. 

Die Kirche wird ihren moralischen Ansprüchen nicht gerecht  

Bätzing betont bei der Begründung der Entscheidung, die Kirche habe sich an zivilrechtlichen Urteilen zu Schmerzensgeldansprüchen und anderen Leistungen orientiert, die in Hilfesystemen gezahlt werden. Es stimmt, der Leistungsrahmen hier ist ähnlich. Ähnlich mangelhaft und unausgereift. Auch wenn in diesen Tagen vielfach die Aussage getroffen wird, dass kein Geld der Welt das erlittene Leid wieder gut machen könnte, so entbindet das die Katholische Kirche doch nicht von der Verantwortung, so nah wie nur irgend möglich an eine angemessene Entschädigungshöhe heran zu kommen. Die Kirche als Institution hat einen sehr hohen und unzeitgemäß moralischen Anspruch an ihre Gläubigen, dem sie mit Blick auf sich selbst nicht annähernd gerecht wird. Die Frage ist also, welche Kriterien zur Ermittlung eines angemessenen Betrages herangezogen werden.

Gerechtigkeit wäre, von Anerkennungszahlungen wieder zu Entschädigungszahlungen zurück zu kommen, die zwischenzeitlich im Gespräch waren. Aus meiner Sicht gibt es dafür drei Gründe: Zum einen ist zu beantworten, weswegen die Katholische Kirche eigentlich moralisch verpflichtet ist, die Betroffenen in ihrem Zuständigkeitsbereich zu entschädigen. Dabei geht es eben nicht nur um die unmittelbare Schuld der Täter*innen, die Kindern, Jugendlichen und schutzbedürftigen Erwachsenen dieses Leid zugefügt haben. Durch ihre Praxis aus Druck, Versetzen und Vertuschen wurden Täter*innen aktiv geschützt und potentielle Opfer weiterhin den Gefahren ausgesetzt. Dadurch hat sich die Kirche schuldig gemacht. 

Wie quantifiziert man verlorene Lebenszeit?  

Der zweite Punkt sind die Einschnitte in den Biographien der Betroffenen. Diesen Punkt halte ich für schwierig zu beurteilen, denn wie quantifiziert man verlorene Lebensqualität? Klar ist, dass teils chronifizierte psychische und somatische Erkrankungen, unterbrochene Erwerbsbiographien und damit verbundene finanzielle Schwierigkeiten und Probleme in zwischenmenschlichen Beziehungen berücksichtigt werden müssen. In meinen Fall hat der sexuelle Missbrauch dazu geführt, dass ich meinen Traumberuf nicht ausüben kann. Schon als Kind wollte ich Polizistin werden. Dieser Weg bleibt mir verschlossen, weil ich meine Erfahrungen mit dem Missbrauch in einer Psychotherapie verarbeitet habe. Die Polizei schließt Bewerber wie mich aus. Man geht davon aus, dass Menschen wie ich psychisch nicht mehr belastbar sind. 

Der dritte Punkt, der aus meiner Sicht ebenfalls nicht zu vernachlässigen ist, ist der Blick auf die Finanzen der Kirche. Möglicherweise hat die Deutsche Bischofskonferenz durch die Erfahrungen in den USA Angst. Dort wurden den Betroffenen bis zu einer Million Dollar pro Kopf gezahlt. Einige Diözesen sind zahlungsunfähig geworden. Realistisch ist diese Angst für Deutschland betrachtet nicht. Mal angenommen alle circa 5.200 Betroffenen, in der so genannten MHG-Studie und der Umfrage der Deutschen Ordensobernkonferenz würden nach der neuen Regelung einen Antrag stellen und die vollen 50.000 Euro bewilligt bekommen, was aus meiner Sicht beides unrealistisch ist, dann würde die Katholische Kirche Zahlungen in Höhe von rund 260 Millionen tätigen.

Die Kirche hat die Chance einer Vorreiterrolle verspielt 

Das klingt erstmal viel, aber damit wäre aus Sicht der Kirche ihre Verantwortung für die vergangenen Jahrzehnte beglichen. Zum Vergleich: Die Kirchensteuereinnahmen der Katholischen Kirche betrugen allein im Jahr 2019 mehr als 6,7 Milliarden Euro. Selbstverständlich ist das Vermögen der Kirche von bis zu 200 Milliarden Euro nicht frei verfügbar, zudem sind laufende Kosten und Ausgaben für karitative Zwecke zu tätigen. Dennoch kommt die katholische Kirche aus meiner Sicht zu billig weg. 

Bätzing betonte, dass die Katholische Kirche die erste Institution sei, die überhaupt Zahlungen leistet. Aber was rechtfertigt das? Darf sie sich deswegen auf die Schulter klopfen? Nein, denn die Katholische Kirche verspielt mit der Höhe der Leistungen eine große Chance. Sie hätte durch angemessenere Beträge eine Vorreiterrolle einnehmen können und Betroffenen von sexualisierter Gewalt über ihren eigenen Zuständigkeitsbereich hinaus helfen können, indem andere Institutionen sich ein Beispiel an ihrem Vorgehen hätten nehmen können. 

Belastendes Prüfungsverfahren 

Es bleibt abzuwarten, wie die Durchführung der Verfahren aussehen wird. Was ist erforderlich, damit der finanzielle Rahmen vollständig ausgeschöpft wird? Wie langwierig und belastend werden sich die Verfahren gestalten? Fragen, deren Antworten erst die Zukunft zeigen wird. Glaubwürdig sind die Zahlungen der Diözesen aber nur dann, wenn sich auch an ihrem Umgang mit Betroffenen etwas grundlegend ändert. Bis dahin ist eines sicher: 50.000 Euro sind wenig. Wenig ist besser als nichts. Wenig ist aber nicht genug. 

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