Karl Lauterbach und die „Killer-Variante“ - Aus Fehlern nichts gelernt

Mit seiner evidenzfreien Warnung vor einer möglichen „Killer-Variante“ des Coronavirus scheint Gesundheitsminister Karl Lauterbach jetzt endgültig den Bogen überspannt zu haben. Nicht nur Virologen wie Jonas Schmidt-Chanasit und Hendrik Streeck werfen ihm Panikmache vor, Kritik kommt auch aus den Reihen der Politik. Dabei führte Lauterbach lediglich seine Tradition fort, selektiv oder schlicht falsch aus Studien zu zitieren.

Lässt gern mal fünfe gerade sein, wenn es um die Fakten geht: Karl Lauterbach / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Welt dreht sich dieser Tage irgendwie falschrum. Und sämtliche Gewissheiten üben Salto Mortale. Nehmen Sie nur mal die Grünen: Eine Friedenspartei, die gestern noch gegen Waffenlieferungen in Kriegsgebiete war, drängt heute ihren größeren Koalitionspartner zur sofortigen Ausfuhr von Panzern in die Ukraine. Oder erinnern wir uns an die Impfdebatte: Menschen, die gerade noch unter dem Slogan „Mein Bauch gehört mir!“ frei und selbstbestimmt zusammenkamen, plädierten mit einem Mal für einen „kleinen Piks“ wider den eigenen Willen. Ganz besonders hart aber trifft die große Rochade des Weltzeitalters – Stichwort „Zeitenwende“ – heuer das sogenannte „Team Wissenschaft“. Und hier besonders natürlich deren Teamführer Karl Lauterbach (SPD).

Was musste man von dem nicht in den zurückliegenden Monaten schon alles hören oder lesen! Etwa dass nicht Omikron für den Rückgang der Covid-Mortalität und -Hospitalisierung zur Verantwortung zu ziehen sei, sondern einzig die neuartigen mRNA-Impfstoffe (so behauptete es der Bundesgesundheitsminister während der Debatte zum Gesetzentwurf über die Impfpflicht ab 60 am 8. April). Weiterhin, dass elf Prozent aller infizierten Kinder laut einer israelischen Studie noch sechs Monate nach ihrer Covid-Infektion Long-Covid-Symptome aufwiesen (Lauterbach in einem Tweet vom 14.10.2021 auf Twitter. Der im Tweet verlinkte Artikel aus der israelischen Tageszeitung Haaretz sprach lediglich von 1,8 bis 4,6 Prozent). Oder dann, gerade einmal eine Woche später, dass „Kinder so viel Long Covid erlitten wie Erwachsene“ (in einem Tweet vom 22.10.2021, in dem er zudem eine Studie verlinkte, die genau das Gegenteil des Behaupteten belegte). 

Möglich ist in dieser Welt nahezu alles

Man hat sich also bereits an so manchen Schmus aus Lauterbachs Bundesgesundheitsministerium gewöhnt. In manchen Phasen der zurückliegenden Impfkampagnen war es gar derart viel, dass sogar bei Anhängern des „Teams Wissenschaft“ zuweilen der leise Verdacht aufkam, der Minister spiele auf das falsche Tor. Und dann kam der zurückliegende Ostersonntag. Was der chronische Schwarzseher Karl Lauterbach da von sich gab, das schlug dem Fass wohl endgültig den Boden aus. Es waren Horrorszenen, wie sie wohl selbst in Filmklassikern wie „Outbreak“ oder „Doomsday“ nur selten zu sehen sind.

„Es entwickeln sich gerade diverse Omikron-Subvarianten, die für mich Anlass zur Besorgnis sind“, so der Bundesgesundheitsminister im Interview mit der Bild am Sonntag. Und weiter: „Die Abstände, in denen neue Varianten die alten ablösen, werden immer kürzer. Das bedeutet, dass wir uns immer schlechter auf die Mutationen vorbereiten können.“ Es sei daher möglich, „dass wir noch in diesem Jahr eine hochansteckende Omikron-Variante bekommen, die so tödlich wie Delta ist. Das wäre eine absolute Killer-Variante.“

Bevor einige schreckhafte Leser nun allzu schnell nach dem BR-Faktenfuchs rufen, sei hier zumindest erwähnt, dass Lauterbach aus wissenschaftsphilosophischer Perspektive durchaus einen Punkt hat. Denn möglich ist in dieser Welt nahezu alles. Laut String-Theorie ist es sogar möglich, dass wir in dieser dreidimensionalen Wirklichkeit umgeben sind von sechs weiteren, in sich zusammengeknüllten Raumdimensionen. Und in David Humes Frühwerk „A Treatise of Nature“ wird sogar über die Möglichkeit diskutiert, dass am kommenden Montag die Sonne nicht mehr aufgehen könnte. Nicht alles, was wir für unumstößliche Gewissheiten halten, so Hume sehr logisch und nüchtern, beziehe sich auch auf Sachverhalte in der Welt.

„Rufe niemals um Hilfe, wenn du nicht wirklich in Gefahr bist!“

Von solchen Spezialfällen aber mal abgesehen, ist Lauterbachs „Killer-Variante“ aus Sicht des gemeinen Hausgebrauchs natürlich vor allem eines: bloße Panikmache. Das attestierten dem Gesundheitsminister anschließend nicht nur der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit und dessen Bonner Kollege Hendrik Streeck. Auch im politischen Raum wird die Kritik an dem Minister immer lauter. Erwin Rüddel etwa, Gesundheitspolitiker der CDU, meinte auf Twitter, dass Lauterbach „doch eigentlich aus seinen Fehlern und Fehleinschätzungen gelernt haben“ müsse.

Hat er aber offensichtlich nicht. Denn die Liste der falschen oder mindestens irreführenden Prognosen und Studienauslegungen ist längst derart lang, dass man kaum noch hinterherkommt. Mal wirbelt Lauterbach Daten und Zahlen wild durcheinander, dann wieder werden Studienaussagen phantasiert oder gleich in Gänze erfunden. Beispiel Covid bei Kindern: Im Sommer letzten Jahres twitterte Karl Lauterbach, dass eine Studie aus Moskau angeblich zeige, dass ein Viertel aller an Covid-19 erkrankten Kinder auch nach Monaten noch Symptome hatte. Was er indes verschwieg: Es handelte sich bei den jungen Patienten nicht um lediglich erkrankte, es handelte sich um hospitalisierte Kinder.

Und so geht es oft Schlag auf Schlag. Hier etwas zuspitzen, da etwas simplifizieren oder auch mal nachschärfen. Mit dieser Technik mag man zwar kurzfristig seine eigene Medienpräsenz erhöhen, vermindert auf lange Sicht aber seine Glaubwürdigkeit. Ein derartiger Verlust aber wäre das wahre Killervirus unserer Zeit. Statt also weiter Panik zu schüren, wäre es jetzt mal an der Zeit, gelassen zu bleiben – egal ob Sommer- oder Winterwelle. Für diesen Ratschlag bedürfte es übrigens nicht einmal eines Medizinstudiums. Ein einfacher Blick in die Baderegeln würde genügen. Dort heißt es gerade in Wellenlagen klipp und klar: „Rufe niemals um Hilfe, wenn du nicht wirklich in Gefahr bist!“

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