Krawalle in Stuttgart - „Es gibt auch bei uns Jugendliche, die sich als Verlierer fühlen“

Das grün-regierte Stuttgart gilt als Vorbild für Integration. 60 Prozent der Jugendlichen haben einen Migrationshintergrund. Wie kann es sein, dass die jugendliche Gewalt gegen die Polizei ausgerechnet dort eskaliert ist? Fragen an den SPD-Kandidaten Martin Körner.

„Die Polizei musste als Feindbild herhalten.“ / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Martin Körner ist Volkswirt und Fraktionschef der SPD im Stuttgarter Rathaus. Wenn die Stadt im November einen neuen Oberbürgermeister wählt, will er Fritz Kuhn von den Grünen beerben. 

Herr Körner, nach den Wochenend-Krawallen hatte Stuttgarts Polizeipräsident Franz Lutz gesagt, so ein Ausmaß von Gewalt habe er in 46 Jahren Polizeiarbeit nicht erlebt. Was haben Sie gedacht, als Sie die Bilder gesehen haben?
Das ging mir schon ganz ähnlich. Wir haben immer mal wieder Auseinandersetzungen gehabt, auch in der Stuttgarter Innenstadt. Aber diesmal wurde voll auf Polizisten draufgegangen. Geschäfte wurden geplündert und zerstört. Rettungssanitäter wurden bedroht. Das habe ich noch nie gesehen und hätte es mir auch nicht vorstellen können.

Gleichwohl heißt es bei der Polizei, die Täter stammten aus der „Party- und Eventszene“. Wie passt das zu Bildern von Jugendlichen, die Schaufensterscheiben mit Baseballschlägern zerschlagen und Polizisten mit Anlauf in den Rücken springen?
Das ist Quatsch. Da geht es um gewaltbereite junge Männer. Das ist etwas anderes.

Sogar Baden-Württembergers grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann spricht von „Randalierern mit hoher krimineller Energie“. 
Na ja, die, die dort an diesem Abend Polizisten verletzt haben, sind straffällig geworden. Die müssen auch verurteilt werden.

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Wir kennen solche beschwichtigende Formulierungen schon aus der Kölner Silvesternacht 2015/2016. Traut man sich in Stuttgart nicht zu sagen, dass die Stadt ein Problem mit Kriminalität hat?
Ich finde schon, dass wir das Problem beim Namen nennen müssen. Die Situation in der Stadt rund um den Eckensee und am Schlossplatz ist an den Wochenenden schon in den vergangenen Jahren mehr als grenzwertig gewesen. Viele Stuttgarter und Stuttgarterinnen fühlen sich da schon seit Jahren nicht mehr sicher. Das haben wir zu lange schleifen lassen. Das muss man ändern.

Was sind das für Leute, die sich dort treffen?
Das sind Männer zwischen 15 und 25. Das ist nicht die Szene. Ich würde auch mal behaupten, dass die Szene in Nicht-Corona-Zeiten eine andere ist, noch bunter gemischter. Jetzt haben Bars und Clubs zu, aber auch die Theater sind geschlossen.

Die Polizei hat auch ausgeschlossen, dass die Gewalt politisch motiviert sei. Teilen Sie den Eindruck?
Na ja, irgendwie ist alles politisch. Vor allem, wenn es darum geht, die Polizei anzugreifen. Es stimmt nur insofern, als es da auch um Randale ging.

Dafür waren einige Angreifer aber gut vorbereitet, ganz in schwarz gekleidet und mit Sturmhauben auf dem Kopf.
Ja, da waren offensichtlich auch einige dabei, die schon Erfahrungen mit Gewalt hatten. Die Polizei kennt ja auch einige der jungen Männer schon, die sie festgenommen hat. Das stimmt. Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die politische Gemengelage unter den Tätern sehr unterschiedlich ist.

Martin Körner / dpa 

Aber was ist der kleinste gemeinsame Nenner?
Die Polizei musste als gemeinsames Feindbild herhalten. Ein furchtbares Feindbild.

Von den Festgenommenen waren 12 Ausländer, neun Deutsche und drei Deutsche mit Migrationshintergrund. Hat die Nationalität der Täter eine Rolle gespielt?
Der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund entspricht ziemlich genau dem Anteil in der Altersgruppe in der gesamten Stuttgarter Bevölkerung. Der liegt bei 60 bis 67 Prozent.

Kann es sein, dass die Polizei solche Jugendlichen eher auf dem Kieker hat?
Ausschließen kann ich das nicht. Das kann bei einzelnen auch eine Rolle gespielt haben. Aber wichtig ist mir, dass die Festgenommen mit Migrationshintergrund nicht mehr sind als in der Bevölkerung.

Im Internet kursiert eine Tonspur, auf der ein Polizist beim Einsatz von bürgerkriegsähnlichen Zuständen gesprochen hat. Es fiel auch der Satz: „Das sind alles Kanaken“. Gibt es bei der Stuttgarter Polizei latenten Rassismus?
Das ist doch Quatsch. Die Stuttgarter Polizisten halten im ganz wörtlichen Sinne ihren Kopf für unsere Gesellschaft und unser Grundgesetz hin, wo es ja gerade darum geht, dem Rassismus etwas Menschliches entgegenzusetzen. 

Sie finden es menschlich, Ausländer als „Kanaken" zu bezeichnen?
Nein, man kann nicht ausschließen, dass es einzelne Personen gibt, die solche rassistischen Sätze sagen. 

Wie hoch ist denn der Anteil der Jugendlichen mit Migrationshintergrund in der Kriminalstatistik?
Die Zahlen habe ich nicht parat.

Stuttgart gilt als Vorzeigestadt, wenn es um Integration geht. Wie passt das zu Bildern von randalierenden Jugendlichen, die „Allahu Akbar" rufen und randalieren? 
Das passt erstmal gar nicht. Es ist aber auch nicht so, dass dieses Wochenende vieles andere komplett beiseite gefegt hat, was es an Integrationserfolgen in der Stadt gegeben hat. Viele Flüchtlinge machen hier zum Beispiel mittlerweile eine Ausbildung zum Bäcker oder zum Metzger. Da sind manche Handwerker glücklich, dass sie endlich mal wieder einen Auszubildenden haben. Es ist aber auch nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, wenn viele Menschen mit verschiedenen kulturellen und sozialen Hintergründen zusammenleben. Wir müssen schon etwas dafür tun, damit dieses Zusammenleben auch funktioniert. 

Woran hat es in diesem Fall gehakt?
Die Ursachen sind ganz vielfältig. Erstmal müssen wir dafür sorgen, dass dieser Ort am Wochenende kein rechtsfreier Raum ist. Da müssen sich alle wohlfühlen können. Wir brauchen auch Streetworker für die Innenstadt, nicht nur für die Stadtbezirke. Genauso wie Instrumente des Jugendstrafrechts, wo man mit den Straftätern daran arbeitet, dass so etwas nicht geschieht.

Gibt es Jugendliche, die man mit solchen Programmen nicht erreicht?
Ja, es gibt auch in Stuttgart Jugendliche, die sich als Verlierer fühlen. Die in der Coronakrise Angst davor haben, keinen Ausbildungsplatz mehr zu bekommen. Die Schwierigkeiten haben, in der Berufsschule mitzukommen. Das darf man nicht wegreden. Viele von denen haben auch Gewalterfahrungen gemacht in der Familie oder anderswo. Die sind dann auch besonders anfällig, selbst Gewalt anzuwenden. Das gibt es auch in Stuttgart.

Hat die Stadt in der Coronakrise den Blick für diese Klientel verloren?
Ich würde es eher so sehen, dass wir die Sicherheit in der Innenstadt aus dem Blick verloren haben. Bei der Integration müssen wir an den Schulen mehr dafür tun, dass auch Leute eine gute Bildungschance haben, die zu Hause nicht fünf Meter Bücherregal haben.  

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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