Jamaika-Koalition - Kein Land in Sicht?

Die Jamaika-Sondierungen sind gescheitert. Wie geht es nun weiter? Ein Überblick über die möglichen Szenarien

Jamaika ist noch in weiter Ferne: Angela Merkel vor den Sondierungsgesprächen in Berlin / picture alliance
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Bleibt die Regierung handlungsfähig, obwohl Jamaika gescheitert ist? Für die Bildung einer neuen Bundesregierung sieht das Grundgesetz keine Frist vor. „Die Ämter des Bundeskanzlers und der Minister erlöschen mit dem Zusammentreten des neuen Bundestages“, sagt der Bonner Staatsrechtler Josef Isensee. In diesem Fall ersuche der Bundespräsident den bisher amtierenden Bundeskanzler und die wichtigen Minister, geschäftsführend weiterzuarbeiten. „Wir haben dann so lange eine geschäftsführende Bundesregierung, bis durch die Wahl des Bundeskanzlers mit der gebotenen Mehrheit wieder eine reguläre Regierung zustande kommt.“ Das gilt selbst dann, wenn etwa die SPD Minister aus dem Amt zurückzieht, weil diese neue Positionen zu erfüllen haben. Dann könnten die bisherigen Unionsminister die Posten übernehmen.

Regierung im Autopilot-Modus

In Belgien kennt man sich damit bereits aus. Nach den Wahlen 2010 stand das Benelux-Land 541 Tage ohne gewählte Regierung da – bis heute unübertroffener Weltrekord. Aufgrund der Differenzen zwischen den Flamen und den Wallonen konnte sich der Sozialdemokrat Elio Di Rupo erst nach anderthalb Jahren das Amt des Premierministers sichern – mit einer Regierungskoalition bestehend aus Christdemokraten, Liberalen und Sozialisten. Die flämisch-nationalistische NVA, die damals unter Bart De Wever stärkste Kraft des Landes war, wurde nicht an der Regierung beteiligt.

Nothaushalt

Wie werden in dieser Zeit Gesetze und der periodisch notwendige Haushaltsplan verabschiedet? In Belgien war die Regierung anderthalb Jahre wie gelähmt. In den USA führte der Haushaltsstreit zwischen Demokraten und Republikanern im Oktober 2013 sogar dazu, dass die Regierung über zwei Wochen lang zahlungs- und handlungsunfähig war.

Josef Isensee / Uni Bonn

In Deutschland wird es so einen Fall nicht geben. „Das Staatswesen erstarrt nicht“, sagt Josef Isensee. „Es ist nur so, dass die Bundesregierung, die allein die Gesetzesinitiative hat, um einen Haushaltsplan aufzustellen, nicht die Rückversicherung einer Koalitionsmehrheit hat.“ Wenn also eine geballte Opposition, die über die Mehrheit der Mitgliederzahl verfügt, sich versperrt, dann kann der neue Haushalt nicht zustande kommen. In diesem Fall sieht Artikel 111 des Grundgesetzes den Nothaushalt vor: Mithilfe einer sogenannten „vorläufigen Haushaltsführung“ kann die Bundesregierung dann „alle Ausgaben leisten, die nötig sind, um gesetzlich bestehende Einrichtungen zu erhalten und gesetzlich beschlossene Maßnahmen durchführen, um die rechtlich begründete Verpflichtungen des Bundes zu erfüllen, um Bauten, Beschaffungen und sonstige Leistungen fortzusetzen (…) sofern durch den Haushaltsplan eines Vorjahres bereits Beträge bewilligt worden sind.“

Schulden erlaubt

Theoretisch darf die Regierung sogar Schulden machen – bis zu einer Höhe von einem Viertel des abgelaufenen Haushalts. In einem reichen Land wie Deutschland kein Problem. Lehrer, Polizisten und Co. müssten sich keine Sorgen um ihre Gehälter machen. Deutschland regierte schon nach den Wahlen 2005, 2009 und 2013 mit einem Nothaushalt, ohne dass es Auswirkungen auf Löhne und Gehälter, staatliche Einrichtungen oder den Straßenbau hatte. Allerdings konnten in dieser Zeit keine neuen Maßnahmen angegangen werden. „Wenn die Verhandlungen sich lange dehnen, kann es auch geschehen, dass sich die Fraktionen im Sinne eines Kredits auf die künftige Koalition doch verständigen, den Haushalt zu verabschieden“, erläutert Josef Isensee.

Ein Trost: Die politische Stagnation hat auf die Wirtschaft nicht zwangsläufig negative Auswirkungen. Belgien, Deutschland und auch die Niederlande und Spanien: Sie alle durchlebten überdurchschnittlich lange Verhandlungsphasen, dennoch stieg in dieser Zeit das Bruttoinlandsprodukt jedes Mal an.

Wie geht's mit der Kanzlerin weiter?

Wenn auch nach langer Verhandlungszeit keine Koalition gebildet werden kann, sieht der Artikel 63 des Grundgesetzes mehrere mögliche Szenarien zur Ernennung eines Kanzlers vor. Dem gängigen Szenario nach schlägt der Bundespräsident einen Kanzler vor. „Der Bundespräsident ist gut beraten, nur einen Kandidaten vorzuschlagen, von dem er erwarten kann, dass er auch vom Bundestag gewählt wird“, sagt Isensee. Denn dieser kann vom Bundespräsidenten erst dann zum Kanzler ernannt werden, wenn er die Mehrheit der Stimmen der Bundestagsmitglieder auf seiner Seite hat. Bis es zu dem Vorschlag kommt, könnten theoretisch Monate vergehen. „Der Bundespräsident ist zeitlich zwar nicht an eine strenge Starrefrist gebunden, aber er kann nicht unendlich lange warten.“ Gesetzliche Vorgaben gibt es nicht. Manche Staatsrechtler empfehlen jedoch, nicht länger als ein Vierteljahr zu warten.

Wird der vom Bundespräsidenten vorgeschlagene Kandidat nicht gewählt, kann der Bundestag im zweiten Szenario selbst innerhalb von 14 Tagen in beliebig vielen Wahlgängen versuchen, einen Kanzler mit mehr als der Hälfte der Stimmen seiner Mitglieder zu wählen.

Auch Gauland könnte theoretisch Kanzler werden

Gelingt auch so eine Wahl nicht, muss unverzüglich ein weiterer Wahlgang stattfinden. „Unverzüglich“ bedeutet im juristischen Terminus für gewöhnlich, dass nicht mehr in Wochen, sondern in Tagen und Stunden gerechnet wird. Der Gewählte braucht dann nicht mehr die Hälfte der Stimmen aus dem Bundestag, sondern nur die einfache Mehrheit - also schlichtweg die meisten Stimmen.

Hat der Kandidat dennoch die absolute Mehrheit, also mehr als die Hälfte der Stimmen, auf seiner Seite, muss der Bundespräsident ihn binnen sieben Tagen nach der Wahl zum Kanzler ernennen. Hat er nur die einfache Mehrheit, mit weniger als der Hälfte aller Stimmen, muss der Bundespräsident innerhalb von sieben Tagen entscheiden, ob er den Bundestag auflöst oder den Kandidaten trotzdem zum Kanzler ernennt.

Auch wenn es unwahrscheinlich ist: Theoretisch könnte etwa der AfD-Vorsitzende Alexander Gauland eine solche einfache Mehrheit erhalten, wenn die Stimmen seiner Kollegen die der anderen Kandidaten überträfen oder es keine anderen Kandidaten gäbe. Dann läge die Entscheidung, ob er zum Kanzler ernannt wird, beim Bundespräsidenten. „Das wäre ein Minderheitskanzler, der nicht die Mehrheit der Mitglieder bekommen hat, aber immerhin eine relative Mehrheit im Parlament“, sagt Isensee. Der Minderheitskanzler hätte zwar alle Befugnisse des Kanzlers, würde aber Gesetze nicht mit einer gesicherten Fraktionsmehrheit durchsetzen können und müsste sich immer mit den Fraktionen arrangieren, um ad hoc eine Mehrheit zu finden.

Merkel in Minderheitsregierung?

Angela Merkel hat bereits angekündigt, nicht mit einer Minderheitsregierung regieren zu wollen. In diesem Fall – oder wenn sich im Extremfall niemand erst zur Wahl stellt – müsste der Bundespräsident den Bundestag auflösen, was – nach einigen Zwischenschritten – zu Neuwahlen führen würde. Daran glaubt der Staatsrechtler Josef Isensee allerdings nicht: „Ich könnte mir vorstellen, dass die Bundeskanzlerin – die im Moment natürlich auch taktisch argumentiert – es ohne Weiteres zu Wege brächte, eben doch als Minderheitskanzlerin weiter zu amtieren.“

Laut Isensee ist ein Scheitern der Koalitionsverhandlungen „keine Katastrophe.“ Das Grundgesetz könne zwar das politische Chaos nicht beseitigen, sagt er, aber es sei eine „nüchterne, realistische Verfassung, die einiges tut, um das Staatswesen funktionieren zu lassen.“

Mehr Texte zu den Jamaika-Sondierungen finden Sie hier.

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