Islam in Deutschland - Gehört dazu?

Der neue Innen- und Heimatminister Horst Seehofer geht mit seinem Satz „Der Islam gehört nicht zu Deutschland“ auf Konfrontationskurs zu Kanzlerin Angela Merkel. Welche Rolle der Islam in Deutschland spielt, dieser Frage geht auch die aktuelle Cicero-Ausgabe nach

Erschienen in Ausgabe
Taube über dem Halbmond: Blick auf die Omar-Moschee in Berlin-Kreuzberg / Tobias Kruse
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Autoreninfo

Birk Meinhardt ist Journalist und Schriftsteller sowie zweifacher Träger des Egon-Erwin-Kisch-Preises.

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Erol Özkaraca war in der SPD. Auch ist er in die Moschee gegangen, zum Beten und manchmal nur zum Teetrinken. Vorbei alles. Seine Moschee in Berlin füllte sich mit jungen Fundamentalisten, die ihn aufforderten, doch öfter und regelmäßiger zu beten, und das gefiel ihm gar nicht, dieses Befehlen. „Hör mal“, sagte er zum Wortführer, „ich bin 25 Jahre älter als du, was ziehst du dich überhaupt so an, was rasierst du dich nicht?“ – „Ich versuche zu leben wie der Prophet.“ – „Der Prophet, das ist 1400 Jahre her. Willst du leben wie ein Mensch von damals? Da vorne steigst du in den Bus, den kannte der Prophet nicht. Oder bist du mit nem fliegenden Teppich hier? Wo ist dein Kamel?“ – „Wie wagst du zu reden? Das ist Blasphemie! Blasphemie!“

Die älteste Moschee Deutschlands aus dem Jahre 1928 steht in Berlin-Wilmersdorf

Mit der SPD wiederum war es so: Als er eintrat, Mitte der neunziger Jahre, gab es den politischen Islam noch nicht, es gab nur die Gastarbeiter und ihre Kinder, für die er etwas tun wollte. Er gründete eine Arbeitsgemeinschaft, auf dem entsprechenden Logo war die Skyline von Berlin, mit dem Fernsehturm als höchstem Punkt. „Musst du denn unbedingt ein Minarett draufpappen?“, fragten ihn seine Genossen. Jawohl, solche Angst vor dem Symbol einer fremden Religion hatten sie, dass sie ihren guten alten Fernsehturm nicht mehr erkannten. Später entwickelten sie eine leise Zuneigung für die Minarette und die bärtigen Jünger des Propheten und die Frauen, die vor Gericht zogen, um mit Kopftuch hinters Lehrerpult zu gelangen, Özkaraca merkte es an ihren Reaktionen auf den Vorstoß vom palästinensischstämmigen Fraktionsvorsitzenden Raed Saleh, das Berliner Neutralitätsgesetz zu kippen. „Die Leute fingen an zu kuscheln: Müssen wir vielleicht umdenken, nicht, müssen wir mal bisschen offener sein, was.“

Kuschelkurs mit Islamisten

Intensiver und für Özkaraca immer verstörender wurde die Kuschelei, denn bald schloss sie einen Imam wie Mohamed Taha Sabri ein. Der beharrt auf der Überlegenheit des Islam gegenüber allen anderen Religionen. Der lässt in seiner Moschee saudische Islamisten reden; war das womöglich sein „Einsatz im interreligiösen Dialog“, für den er vom Regierenden Bürgermeister und SPD-Landesvorsitzenden Michael Müller 2015 den Berliner Verdienstorden erhielt? Schließlich der Endpunkt: Müller kündigte an, auf dem Breitscheidplatz zum Gedenken an den Amri-Anschlag an der Seite von Leuten wie Taha zu demonstrieren; als Özkaraca davon hörte, suchte er ihn auf. „Ist dir eigentlich klar“, fragte er ihn, „dass du im Begriff bist, mich zu verkaufen? Ich reiße mir den Arsch auf für diese Gesellschaft, und der Kerl? Bringt Menschen nur davon ab, sich auf sie einzulassen. Mit dem willst du dich hinstellen? Wenn du das tust, trete ich aus.“ Es rührte Müller nicht. Er verwies auf die 150-jährige Geschichte der SPD, mithin auf die Geringfügigkeit seines Gegenübers. Im Grunde bedeutete er ihm, er solle sich nicht so aufplustern.

Widerworte ohne Widerhall: Erol Özkaraca warnte innerhalb der SPD vergeblich

Erol Özkaraca gilt heute in weiten Teilen seiner früheren Partei als islamophob, das ist die traurige Pointe seiner Geschichte. Zugleich hat sie durchaus Ironie, denn diejenigen, die ihn so diffamieren, wissen gar nicht, wer das böse Wort vor noch nicht allzu langer Zeit erfunden und vervielfältigt hat, wer ist’s gewesen?

Kampfbegriff Islamophobie

Abdel-Hakim Ourghi, Islamwissenschaftler, wird es gleich sagen, vorher kurz seine Geschichte. Er stammt aus Algerien. Wuchs dort auf in einer Zeit, als Frauen in Badeanzügen ins Wasser sprangen. Ging nach Freiburg, promovierte. Schrieb darüber, wie das Problem der Gewalt des frühen Islam bis in die Gegenwart wirkt. Brachte Beispiele wie das der Banu Qurayza, medinesischer Juden, die vom Propheten und dessen Kämpfern 25 Nächte belagert worden waren. 600 Männer, welche sich standhaft weigerten, zum Islam zu konvertieren, wurden getötet. Üblich in der damaligen Zeit der barbarischen Stammeskonflikte, wie Ourghi betont.

Nur benennt er eben auch, was damals in Medina begann: dass Stämme wie der erwähnte im Koran nicht mehr als Juden, Träger einer göttlichen Offenbarung, sondern als Ungläubige angesprochen wurden. Und so bis heute. Juden sind Ungläubige, Schmutzige, der Mensch muss an den Propheten glauben, dann ist er rein, nur eine Religion erlaubt sich in moderner Zeit noch eine derartige Selbsterhöhung und eine solche Verketzerung, mit Folgen auch und gerade für einen liberalen, den ethischen Koran von Mekka liebenden Muslim wie Ourghi: Der Mann hat seit zwei Jahren in Freiburg keine Moschee mehr betreten. Ihm waren Briefe geschickt worden, in denen stand, man werde ihn töten, wenn man ihn da erwische, und er hat keinen Grund gewusst, warum er an der Ernsthaftigkeit jener Drohungen zweifeln sollte.

Als Anhänger eines liberalen Islam hat der Islamwissenschaftler Abdel-Hakim Ourghi seit zwei Jahren keine Moschee mehr betreten

Woher aber ist nun das „islamophob“? „Aus dem schiitischen Islam. Aus dem Munde des Ajatollah Chomeini.“ Ein perfekter Kampfbegriff, geschaffen, um Kritiker des politischen Islam zu verunglimpfen, fein hat das geklappt, der Begriff ist in Deutschland längst durchgesetzt, wird im Munde geführt von Tausenden und Abertausenden Richtigmeinenden, von ganz vielen Einheimischen mit ganz tollen Absichten.

Das Frauenschwimmen in Hannover

Eine kleine, fast winzige Episode über diese Absichten. Sie spielt in Hannover. Dort steht das Vahrenwalder Bad, eine Halle, die jeden Freitagabend zum Frauenschwimmen öffnet. Das vorrangig von Muslimas genutzt wird. Fern die Zeiten des Badeanzugs, die islamisch geprägten Besucherinnen folgen jetzt der Überzeugung, kein Mann außer dem eigenen dürfe ihre Haut sehen, darum wollen sie unter sich bleiben. Wollen auch nur Geschlechtsgenossinnen als Aufsicht. Wollen darüber hinaus die Halle verhangen haben.

Eine Art Black Box, das Vahrenwalder Bad, über die Zustände darin musste kürzlich die Stadtverwaltung beraten. Das geschah in vertraulicher Sitzung, aber ein paar Informationen gelangten trotzdem an die Regionalzeitung. Demnach gehen einige Muslimas in Straßenkleidern ins Wasser. Andere picknicken am Beckenrand. Wieder andere werfen volle Windeln ins Planschbecken. Zeitweilig befanden sich 400 Frauen und Kinder in der Halle, was schon deshalb kompliziert war, weil es nur 300 Schränke gibt. Aber das Personal scheint machtlos.

Erklärung wird verweigert

Freitagmittag, im Kassenbereich: Ob es wohl möglich wäre, sich mit einer Bademeisterin über alles das zu unterhalten? Prinzipiell schon. Nur müsse die Presseabteilung des Rathauses zustimmen. Ulrike Serbent, Sprecherin des Oberbürgermeisters, ist geradezu entsetzt: Wie jemand auf die Idee kommen könne, einfach in das Bad zu marschieren und nachzufragen; um welches Grundthema es überhaupt ginge? Um den Einfluss des Islam in Deutschland, das setze sich zusammen aus mehreren Mosaiksteinen, wie eben diesem Schwimmen hier. Und da sagt die Frau Serbent allen Ernstes: „Ich weiß gar nicht, was unser Schwimmen mit dem Islam zu tun haben soll.“

Im Foyer setzt sich derweil eine ältere blonde Frau neben einen. Sie war gerade schwimmen, man selber auch? Als sie vom etwas anderen Zweck des Besuchs hört, erklärt sie ohne jede Vorrede: „Heftig, was passiert. Einmal bin ich bei diesem Schwimmen gewesen, nie wieder. Ich bin nicht rein ins Wasser. Nicht in die Brühe. Da waren Frauen in Röcken drin. Im Umkleidebereich haben sich welche die Schamhaare geschnitten. Bitte lassen Sie das doch, habe ich gesagt. Was willst du denn, bin ich angeranzt worden.“

Blick auf die Mevlana-Moschee in Berlin-Kreuzberg

Frau Serbent im Rathaus, so endet die Episode, will sämtliche Fragen geschickt bekommen, die man den Bademeisterinnen stellen will. Das ginge noch an. Aber bald erweist sich, sie, beziehungsweise ihr für Sportstätten zuständiger Kollege, will die Fragen auch selbst beantworten, das Hallenpersonal soll auf keinen Fall zu Wort kommen, sie sagt das nicht. Sie vermeidet es zu erklären. Aber es ist die Quintessenz.

Wann hat das begonnen?

Zurücktreten. Distanz aufbauen zu diesem Klein-Klein. Dann wird erst richtig erkennbar, von welcher Angst sie erfasst ist und welch seltsame Duldsamkeit im öffentlichen Umgang mit jener einen Menschengruppe herrscht. Was ist geschehen? Wie, wann, warum hatte das einst begonnen? Kein einzelnes Datum, nie gibt es bei schleichenden Entwicklungen den einen Beginn; im Nachhinein, wenn die Entwicklung schon an Kraft gewonnen hat und sich fast wie von allein vollzieht, lassen sich nur noch ein paar Belege vom fast unmerklichen Anfang aufsammeln. 2002 zum Beispiel, Landesarbeitsgericht Hamm: Nach der Klage eines Muslims erklärt es Gebetspausen während der Arbeitszeit für zulässig. Was schon insofern interessant ist, als Abdel-Hakim Ourghi erzählt, in den muslimischen Ländern gingen die Menschen keineswegs beten, wenn sie arbeiteten, er selber sei in Algerien Lehrer gewesen: „Ich hatte im Raum zu bleiben. Ich hatte zu unterrichten.“

Mithin drückte sich in dem Urteil von Hamm was aus? Eilfertiges Verbeugen. Notloses Beschwichtigen. Zwei Urteile des Bundesverfassungsgerichts sind wichtige Wegmarken. Urteil Numero eins: Das Gericht weist 2003 die Klage der Deutsch-Afghanin Fereshta Ludin ab, der von Annette Schavan, Kultusministerin Baden-Württembergs, die Einstellung in den Schuldienst versagt worden war. Ludin hatte darauf bestanden, als Lehrerin Kopftuch zu tragen. Und nun Numero zwei, zwölf Jahre später: Zwei weitere Klägerinnen bekommen in ähnlicher Sache recht, mit dem Tragen des Kopftuchs, so die Begründung, folgten sie nämlich einem „religiösen Imperativ“.

Das Kopftuch im Koran

Ein Dammbruch. Eine Freude aber auch, jedenfalls für jemanden wie Yavuz Özoguz. Mit seinem Bruder Gürhan administriert er, von einem Gewerbegebiet am Rande Bremens aus, Muslim-Markt.de, eine der größten Internetseiten zu islamischen Themen in Deutschland. Verheiratet ist er mit einer deutschen Konvertitin. Sie hieß einstmals Elke und hört seit langem auf den Namen Fatima, sie zieht sich ihr Kopftuch selbst dann über die Haare, wenn ihr Schwager den Raum betritt. Man halte sich, sagt Yavuz Özoguz, konsequent an die Vorschriften des Koran.

„Und welche genau betreffen das Tragen des Kopftuchs? Welche Suren sind es?“
„Sie finden Sie auf eslam.de, Stichwort Verhüllung.“

Eine von ihm erarbeitete Enzyklopädie; jedoch steht dort nichts Näheres. Und der Punkt ist, dort kann gar nichts Näheres stehen. Weil im Koran nirgends die Rede von einem Kopftuch ist. Der noch deutlichste Satz, Sure 24, Vers 31, lautet, Frauen sollten „ihren Schleier auf den Kleiderausschnitt schlagen“.

Formuliert die Schuld des Westens an der Radikalisierung: Yavuz Özoguz

Auf die Brust also. Abdel-Hakim Ourghi, der Kenner des Buches und seiner Entstehungsgeschichte, weiß sogar den Grund für jenen nicht weiter rigiden Satz aus dem 7. Jahrhundert: „Die Frauen gingen damals zum Verrichten der Notdurft natürlich ins Freie, und beim Hinhocken sollten sie ihr Dekolleté bedecken, das war alles. Übrigens werden Sie im Koran nicht nur nichts zum Kopftuch finden. Sie werden auch nichts darüber finden, dass Frauen nur vollständig bekleidet oder nur unter Ausschluss der Blicke von Männern ins Wasser gehen sollen. Und bevor Sie fragen: Dazu, dass der Mann der Frau nicht die Hand geben darf, findet sich gleichfalls kein klares Wort.“

Nun begibt es sich hierzulande aber immer wieder, dass Muslime Frauen den Handschlag verweigern. Ein besonders drastischer Fall trug sich in der Platanus-Schule von Berlin-Pankow zu: Eine Lehrerin dort streckte vor einem Elterngespräch dem Vater, einem Imam, die Hand hin. Er nahm sie nicht. Sie bestand mehrmals darauf, er weigerte sich fortgesetzt. Daraufhin brach sie das Gespräch ab. Der Imam aber stellte Strafanzeige wegen Verletzung der Religionswürde. Letztlich war es ein Machtkampf, und nichts als ein Machtkampf. Den die Schule aufgab. Sie entschuldigte sich bei dem Imam, und sie tat es öffentlich.

Von der deutschen Regierung finanziert

Man kann, zum Zwecke der Selbstberuhigung, solche Fälle losgelöst voneinander betrachten. Man kann aber auch ein paar grundsätzliche Verbindungen und Schlussfolgerungen ziehen, und Abdel-Hakim Ourghi tut das, indem er sich den Notizblock seines Gastes nimmt und hineinschreibt: al-baqa wa al-inti­shar. Es bedeutet so viel wie „Bleiben und Expandieren“. Es bezeichnet seinen Worten zufolge die Doppelstrategie, welche die islamischen Dachverbände in Deutschland seit längerem verfolgen. „Zum einen geht es um die Re-Islamisierung der hier geborenen Muslime. Zum anderen um eine Islamisierung der Mehrheitsgesellschaft.“

Für den früheren SPDler Erol Özkaraca ist offensichtlich, dass von jenen Dachverbänden „eine mit den Heimatländern verbundene Infrastruktur aufgebaut werden soll“; er als Türkischstämmiger verfolgt es naturgemäß vorrangig beim türkischen Moscheendachverband Ditib. Es handelt sich um einen Ableger der staatlichen Religionsbehörde Diyanet. Diese bestimmt die Imame und damit den Inhalt der Freitagspredigt. Manchmal blitzt etwas auf vom da und dort verbreiteten Gedankengut, dann steht auf der Website eines Vereins, Weihnachten sei „eine nach Blasphemie stinkende Tradition der Christen“; es wird, wenn jemand Außenstehendes es bemerkt, schnell gelöscht. Manchmal lappt auch etwas ins Kriminelle, zum Beispiel, wenn Imame in Deutschland im Auftrag der Diyanet und damit letztlich der türkischen Regierung hinter angeblichen Gülen-Anhängern herspionieren.

Kopftuch am Stock, nicht auf dem Kopf: Demonstranten vor dem iranischen Konsulat in Frankfurt

Zehn der Imame verließen, als die Sache ruchbar wurde, geräuschlos das Land, und das Bundesfamilienministerium gab der Ditib eine Million Euro, die es gesperrt hatte, wieder frei; bei jener Gelegenheit wurde der Öffentlichkeit erst so richtig bewusst, was überhaupt an deutschen Geldern in fremde religiöse Kanäle fließt. Erol Özkaraca macht das alles fassungslos: „Wieso lässt man eine derartige ausländische Behörde gewähren? Warum befördert man sie noch? Warum hakt man sich demonstrativ mit ihren Vertretern unter? Was ist das für eine kranke Idee? Wenn man das fragt, gucken die Leute plötzlich auch ganz entsetzt. Aber nicht, weil ihnen der grundsätzliche Irrsinn bewusst würde. Mein Gott, sagen sie, was hast du denn für einen Ton drauf?“

Das Wirken des Westens im Orient

Einschub. Abriss der Lebensgeschichte von Yavuz Özoguz. Er ist Jahrgang 1959 und urwestlich erzogen, sein Vater war in Istanbul auf einer französischen, seine Mutter auf einer amerikanischen Schule. Özoguz, längst in Deutschland lebend, folgte wie viele in den siebziger und achtziger Jahren linken Ideen, in der Abizeit unternahm er mit einem Freund in einem VW-Käfer eine 10 000 Kilometer lange Reise durch die Sowjetunion, um zu prüfen, warum dort das Reich des Bösen sein sollte. Sein Held war der Befreiungstheologe Ernesto Cardenal, der leibhaftige Satan dagegen: Ajatollah Chomeini. Dann besuchte Ersterer Letzteren, und bei seiner Rückkehr, noch auf dem Flughafen von Nicaragua, erklärte er: Imam Chomeini ist die Heiligkeit unserer Zeit. „Das war ein Schock. Das war auch eine Anregung. Ich begriff, ich wusste nichts über diese Leute. Aus der DDR holte ich mir Bücher über sie.“

Özoguz blieb – oder wurde erst recht – Antikapitalist, wer ein paar Stunden in seinen Firmenräumen mit ihm sitzt und redet, will ihm wieder und wieder zustimmen und ihn manchmal fast umarmen für die Folge seiner Gedanken über das unselige Wirken des Westens im Orient – oder ist es nicht wahr, dass der unter schamlosesten Lügen dort einmarschierte, weil es ihm geostrategisch geboten schien? Dass er einen Stellvertreterkrieg nach dem anderen anzettelt? Dass er die Saudis mit Waffen zuschüttet und die Saudis gerade den Jemen zerbomben? Alles wahr. Und weiter, fragt Özoguz, wie soll man diese deutsche, auch und gerade deutsche Politik der Waffenlieferungen nennen, wenn nicht verbrecherisch, wie kann man von Humanität faseln und mit diesem Zeug Geld machen, im Endeffekt geht es im Kapitalismus immer nur um Geld, ekelerregend.

Die falsche Nachsicht der Linksliberalen

Sein Furor, und sein Ausgangspunkt: Von hier biegt er, um der bigotten westlichen Gesellschaft etwas Ehrlicheres entgegenzusetzen, in die Gasse des politischen Islam, ein Revolutionär, der nicht will, dass die Frau sich weiter dem allumfassenden Verwertungsinteresse von Industrie und Medien beugt; ein Reaktionär, der durchsetzt, dass sie sich in einer Art Gegenbewegung von oben bis unten verhüllt; ein Demagoge, der behauptet, dass jenes stumme Verschwinden ein herrliches Hervortreten, ein Ausdruck gewonnener Freiheit sei; ein Attackierer, der ruft, Sie wollen diese Freiheit, diese Möglichkeit der Kleiderwahl schon wieder einschränken, wenn Sie gegen die Verhüllung sind, Sie!

Der Eingang zur Ibn-Rushd-Goethe-Moschee, die im Juni 2017 öffnete

Große Teile des linksliberalen Spektrums beten den Fundamentalisten die Sprüche von der Selbstbestimmung, die sich im Tragen des Hidschab ausdrücke, nicht nur nach, sondern sogar vor. Das mutet bizarr an. Aber es hat seine Logik. Man mag, gerade weil man ihr so viel angetan hat, die Dritte Welt gern streicheln. Man mag ihr auf keinen Fall etwas vorschreiben. Die Muslime sind jetzt und hier die Vertreter der Dritten Welt. Und ist es nicht gut, dass sie ganz doll fremd sind und nicht nur so ein bisschen? Da wird man im Umgang mit ihnen richtig auf die Probe gestellt: Ob man wirklich aus der Geschichte gelernt hat, oder ob man in der Tiefe seines Herzens doch noch ein Kulturimperialist ist.

Der Zentralrat der Ex-Muslime

„Diese postmodernistischen Esel“, sagt Mina Ahadi leise. Sie weiß aus leidvollem Erleben, wofür das Kopftuch steht, ihre Geschichte geht so: Sie lief durch Teheran im Minirock, sie studierte. Dann gelangte Seine Heiligkeit an die Macht. Sie musste Tschador tragen, aber der Tschador und der Hidschab und der Nikab und die Burka sind nur äußere Zeichen einer tief reichenden Unterdrückung. „Plötzlich war selbst das Lachen in der Öffentlichkeit verpönt. Das Treffen mit Freundinnen. Alles, was das Leben ausmacht.“

Sie flüchtete nach Wien und von dort, weil die Islamisten von der Mutter ihre Adresse erpresst hatten, weiter nach Deutschland. Hier gründete sie 2007 den Zentralrat der Ex-Muslime. War sie bis dato ausschließlich auf Persisch bedroht worden, so erreichen sie seitdem auch Warnungen auf Arabisch: Mina Ahadi, auf einer deutschen Straße werden wir dich finden. Oder ein Foto ihres Kopfes, mit einem Pfeil an der Stelle, an der die Kugel einschlagen werde, sauber im Genick.

„Diese postmodernistischen Esel“: Mina Ahadi, Vorsitzende des Zentralrats der Ex-Muslime

Sie kommt damit klar, sie hat sich daran gewöhnt. Aber in ihrem Zentralrat hat sie fast 1000 Mitglieder, in der Mehrzahl Frauen, und keine 200 wagen es, mit Namen und Gesicht aufzutreten, aus Angst vor der Familie und der strengen muslimischen Gemeinschaft. „Da sind Mädchen in einem ungeheuren Zwiespalt. Ich will nicht beten, sagen sie mir, aber ich muss. Ich will kein Kopftuch tragen, aber ich muss.“ Manchen hat Mina Ahadi, um sie ihrem Milieu zu entreißen, eine Bleibe in einer fremden Stadt vermittelt. Bei anderen ist sie fast machtlos. Apostasie heißt es, wenn jemand nicht mehr glauben mag, und Apostasie ist unter orthodoxen Muslimen noch immer ein Verbrechen, Familien erklären einer Abtrünnigen: Du bist schmutzig. Siebenmal muss einer Waschung unterzogen werden, was du berührtest. Und so waschen die Mitglieder der Familie, waschen, ignorieren, züchtigen in einem fort, und die an den Rand Gedrängte wird, wenn es nur lange genug dauert, irre daran.

Demografische Faktoren

Und draußen auf der Straße, vor allem in den Großstädten, die rapide Zunahme des Körperlosen, Weitgewandigen, der verborgenen Haare und der eingefassten Gesichter. In seinen Firmenräumen Yavuz Özoguz, der mit heiterer Gelassenheit sagt, „die Muslime werden immer muslimischer“. Er kann es auch aus seinen Geschäftszahlen ablesen. Er macht einen Großteil seines Geldes mit Zertifikaten für Ha­lal-Produkte. Noch vor fünf Jahren hatte er 30 Betriebe betreut, und die meisten hatten für den Export produziert. „Leute, habe ich denen gesagt, wenn ihr die Muslime in Deutschland, England und Frankreich zusammenzählt, sind das schon mehr als in der Türkei, was kümmert ihr euch um Dubai?“

Heute zertifiziert er 80 Betriebe, und keine 5 Prozent liefern noch ins Ausland. Das ging aber schnell, Herr Özoguz, wie gelang es denn? „Durch die Flüchtlingswelle. Sie hat ein Umdenken bewirkt. Die Flüchtlinge selber sind in der Regel noch keine Kunden. Doch die Produzenten haben aufgrund der Medienpräsenz gemerkt, huch, wir haben ja wirklich jede Menge Muslime hier.“ Fast ausschließlich deutschstämmige Produzenten sind das im Übrigen. Trendsetter. Gute Rechner. „Betriebswirtschaftlich“, sagt Yavuz Özoguz in seiner wissend-gelassenen Art, „ist es doch ganz einfach: Ich schaue, wer ist mein morgiger Kunde. Die Bevölkerung in Deutschland wächst nicht mehr, aber wachsen vielleicht einzelne Bevölkerungssegmente? Zwei. Die Alten und die Muslime.“

Die Ibn-Rushd-Goethe-Moschee befindet sich im Nebenbau der evangelischen
Kirche St. Johannis in Moabit

Der demografische Faktor. Allerdings ist dessen Grundgerüst ein wackliges. Es gibt keine Ausgangsdaten darüber, wie viele Muslime in Deutschland leben, eine Folge der Nazizeit: Nie wieder wollte man Menschen nach Herkunft, Rasse, Religion unterscheiden. In jüngster Zeit aber wurden Hochrechnungen angestellt, zum Beispiel vom Bundesamt für Migration. Demnach lebten Ende 2015 in Deutschland zwischen 4,4 und 4,7 Millionen Muslime, macht um die 5,5 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung. Das deckt sich ungefähr mit den Daten des Washingtoner Pew-Instituts. Dort entwarf man kürzlich auch Zukunftsszenarien für das Jahr 2050: Im Falle starker Migration geht man für Deutschland von 17,5 Millionen Muslimen (20 Prozent) aus, im Falle mittlerer Migration von 8,5 Millionen (10 Prozent).

Zum Thema gehören, logischerweise, die Geburtenraten: Erdweit bringen muslimische Mütter im Schnitt 2,9 Kinder zur Welt, deutsche Mütter kommen auf 1,4 Kinder. Muslimische Mütter in Deutschland wiederum gebären nur 1,9 Kinder, das heißt, die hiesige Lebensform hat, diesbezüglich, auf sie abgefärbt. Wird sich dieser Trend fortsetzen? Oder wird die von Yavuz Özoguz beobachtete und begrüßte „Muslimisierung der Muslime“ ihn über kurz oder lang wieder umkehren?

Aydan Özuguz und Alexander Gauland

Auftritt der Yavuz-Schwester Aydan. Sie ist Staatsministerin für Integration. „Eine spezifisch deutsche Kultur“, so hat sie geschrieben, sei „jenseits der Sprache schlicht nicht identifizierbar.“ Daraufhin hat Ale­xander Gauland von der AfD sie nach Anatolien entsorgen wollen, der schändlichste Satz eines deutschen Politikers der Neuzeit, die Empörung darüber war laut und anhaltend. Aber Aydan Özoguz’ haarsträubende Aussage? Ist mitnichten diskutiert, ist von der Mehrheitsgesellschaft stumm und wie ergeben hingenommen worden. Und das ist, unabhängig von den Zahlen, Kern der hiesigen Prozesse: diese Stille, wenn Auseinandersetzungen geführt werden müssten. Diese Selbstaufgabe unter dem Mantel warmherzigen Verständnisses. Dieses Appeasement, das zum Lebensstil wurde.

„Der Prophet? Das ist 1400 Jahre her!“ Erol Özkaraca war über 20 Jahre für die SPD in der Politik

Und wieder Yavuz Özoguz, der nur in jene mit den Jahren groß und größer gewordene Lücke stößt und sie mit seinen Werten und Inhalten füllt: Auf seiner Muslim-Markt-Seite findet sich ein Vordruck für die Befreiung vom Schwimmunterricht, geschrieben im Namen von „Muslim Islam und Muslima Islam“, gerichtet an die „Klassenlehrerin der Klasse abc der Grundschule Musterdeutsch“. Das Papier datiert vom Ende der neunziger Jahre. Damals verschickte das Jugendamt noch Mahnungen, wenn muslimische Mädchen nicht zum Schwimmunterricht erschienen. Er bekam täglich Anfragen der involvierten Familien, wie sie sich denn verhalten sollten, also formulierte er jenes Schreiben. Es wird heute kaum noch abgerufen. „Die meisten Direktoren“, weiß Özoguz, „haben mittlerweile gute Lösungen gefunden, nur manchmal tickt noch eine Lehrerin aus.“ Sie tickt aus, die Lehrerin, die sich dagegen wendet, dass eine Minderheit aus herbeigeredeten Gründen Extraregelungen erstreitet.

Ein demonstratives Gegensteuern

Damit, abschließend, zu einem Fall, bei dem einem deutschen Schüler nun gerade keine spezielle Regelung gestattet wurde. Folgendes geschah in Rendsburg: Eine siebte Klasse eines Gymnasiums besuchte im Rahmen des Geografieunterrichts eine Moschee. Das Lehrplanthema lautete „Orient – Machtfaktoren Wasser und Erdöl“. Jener eine Schüler blieb dem Ausflug fern. Die Eltern hatten der Schule geschrieben, „aus weltanschaulichen Gründen“ könne er nicht mit in die Moschee gehen, gern sei er bereit, an einem Ersatzunterricht in einer anderen Klasse teilzunehmen. Das versagte ihm jedoch die Direktorin. Sie schaltete das Ordnungsamt ein. Es forderte den Vater und die Mutter zur Zahlung von jeweils 150 Euro Bußgeld auf. Wogegen die beiden klagten.

Szene mit Kopftuch am Stock vor dem iranischen Konsulat in Frankfurt

Vielleicht wird man einst in dem Fall, der noch nicht entschieden ist, auch wieder eine besondere Wegmarke sehen. Oder gab es so etwas schon mal? Dass einer staatlicherseits belangt wurde, weil er im Geografieunterricht kein muslimisches Gotteshaus besuchen mochte? Selbstverständlich war die Weigerung ein Statement der Eltern, ein demonstratives Gegensteuern im scheinbar unaufhaltsamen Fluss der Entwicklung. „Endlich“, sagt ihr Anwalt Alexander Heumann in seinem Büro in Düsseldorf, „hat sich mal jemand getraut.“

Das Dilemma des Aufbegehrens

Heumann war in der AfD, hat die Partei aber verlassen, nicht, weil sie ihm suspekt geworden wäre, sondern weil ihm die damalige Führung in NRW, die um Frauke Petrys Mann Marcus Pretzell, zu lasch erschien. Auch hat er bei Dügida, dem Pegida-Ableger in Düsseldorf, Reden gehalten, der NDR zeigte es in einem kleinen Beitrag. Und das ist nun das allgemeine Dilemma: Jenes Rendsburger Aufbegehren ist verbunden mit einem in der Öffentlichkeit desavouierten Mann und hat dadurch selber einen Ruch, denn wenn es so einer ist, der die Sache vorantreibt, kann es sich nur um eine verwerfliche Sache handeln, oder nicht?

Hier noch das Neueste: In Freiburg schreibt Abdel-Hakim Ourghi an einem Buch über das Kopftuch, es wird auch ein philosophisches sein, es wird die Sichtbarkeit des Unsichtbaren hervorheben, ein Etwas zeigt öffentlich, dass es sich versteckt hält. In Hannover postieren sich freitagabends zwei Sicherheitsleute vor dem Bad, um bei neuerlichen turbulenten Szenen einzugreifen. In Berlin sagt Erol Özkaraca, er werde Deutschland verlassen und in die Türkei gehen.

„Wie bitte, in die Türkei? Ist es da besser?“
„Da sind die Fronten klar. Regierung und Opposition, du kannst kämpfen gegen den politischen Islam. Das ist hier nicht möglich.“

Und er vollführt nebenbei, wie ohne es zu merken, eine müde Bewegung mit den Fingern, als ob Sand hindurchriesle und kein Körnchen greifbar sei.

Fotos: Tobias Kruse

Dies ist die Titelgeschichte aus der März-Ausgabe des Cicero. Erhältlich ab morgen am Kiosk oder heute schon in unserem Onlineshop.

 

 

 

 

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