Inklusion - Die säkulare Religion

Die Debatte um die schulische Inklusion hat religiöse Züge angenommen. Skepsis und Erkenntnisse, die den Erfolg in Zweifel ziehen könnten, werden ignoriert oder nur am Rande behandelt. Das schadet am Ende der Sache selbst

Eine Lehrerin betreut in einer Gemeinschaftsschule ein Mädchen mit Down-Syndrom / picture alliance
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Autoreninfo

Ewald Kiel ist Ordinarius für Schulpädagogik an der LMU München und war Direktor des Departments für Pädagogik und Rehabilitation sowie Mitglied des Universitätssenats. Zur Zeit ist er Dekan der Fak. 11 der LMU.

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Seriöse Wissenschaftler werden nicht müde, die Veränderung einer Gesellschaft durch die Werte der Inklusion als eine wichtige gesellschaftliche Umwälzung des 21. Jahrhunderts zu bezeichnen. Diejenigen, die sich einer radikalen Inklusionsidee verschrieben haben, das sind jedoch bei Weitem nicht alle, sprechen etwa von einem „Olymp der Entwicklung“ oder von einem „Grenzstein zum Übergang in eine neue Welt“. Es wird nicht nur eine Änderung des Schulsystems gefordert, sondern ebenso eine Änderung der Gesellschaft.

Das ist nur konsequent, denn eine Leistungsgesellschaft, in der Bildung gemäß Standards organisiert werden soll, um Erfolge messbar zu machen und passgenaue Interventionen zu gestalten, lässt sich kaum mit Prinzipien vereinbaren, die jede Form von Vergleichen im Sinne von besser oder schlechter ablehnt, da dieses stigmatisiere. In dieser neuen Welt wird überhaupt nicht kategorisiert, weil jede Kategorie andere ausschließe. Jeder Mensch, sei auf irgendeine Art behindert, wenn man das Verhältnis von Gesundheitsstatus, persönlichen Faktoren und Umweltbedingungen betrachte.

Mit anderen Worten: In der von radikalen Inklusionsproponenten erträumten schönen neuen inklusiven Welt spielen, Leistung, Normen und Kategorien keine Rolle. Alle Menschen werden glücklich, wenn sie politisch korrekt nicht-kategorisierend, nicht-stigmatisierend und nur wertschätzend miteinander interagieren und allen das gleiche Maß an gesellschaftlicher Teilhabe möglich ist. Das Paradies ist also nahe, wenn man sich an die Verhaltensregeln für das Heil hält. 

Wer Bedenken äußert, verstößt gegen das Dogma

Der Umgang mit Skepsis ist einer der spannendsten im Inklusionsdiskurs. Dies gilt ganz besonders, wenn wir uns den wissenschaftlichen Diskurs anschauen. So gilt das Denken, dass der Glaube an ideologische Vorgaben besonders wichtig sei. In den vergangenen 15 Jahren ist zum Thema Inklusion viel publiziert worden, auch ein eher kleiner Korpus qualitativ hochwertiger Studien. Jedoch lassen sich für die Masse der bisher vorhandenen Studien eine Reihe von Defiziten konstatieren und andererseits eine mangelnde Diskussion missliebiger Ergebnisse. Was die Defizite anbelangt, so finden sich vor allem häufig kleine Stichprobengrößen, unklare Stichprobenzusammensetzungen, eine Überrepräsentation von Studien aus dem Bereich der Lernbehindertenpädagogik und insgesamt einen Mangel an Studien, die komplexe qualitätsvolle Statistik auf den Untersuchungsgegenstand anwenden. Die große Überrepräsentation von Studien aus dem Bereich der Lernbehindertenpädagogik verschleiert, dass die Inklusion von Personen aus dem Bereich der Geistigen Behinderung oder Verhaltensauffälligkeit erheblich schwieriger ist, als die von Lernbehinderten. Klare Konzepte, wie dies gerade bei diesen beiden schwierigen Gruppen funktionieren solle, gibt es nicht.

Ansprechen darf man das kaum, weil man dann gegen das zentrale Dogma verstößt, dass alle Menschen gleich seien und man keine zwei oder mehr Gruppen identifizieren dürfe. Die kleinen Stichprobengrößen lassen komplexe Statistiken, auf deren Basis Aussagen über Wirksamkeit überhaupt erst möglich sind, unmöglich erscheinen. In der Diskussion stiefmütterlich behandelt wird die international dokumentierte Tatsache, dass Schüler in inklusiven Settings zwar bessere Leistungen zeigen, das soziale Exklusionsverhalten und die psychosoziale Belastung jedoch steigt. Hinzu kommt: Die allseits geforderten Schulstrukturreformen im Hinblick auf Inklusion lassen sich empirisch kaum rechtfertigen. Fast man diese zugegebenermaßen skizzenhafte Vereinfachung zusammen, dann lässt sich durchaus argumentieren, dass in einer einseitig geführten Diskussion marginalisiert wird, was nicht zu den postulierten Werten passt. Ein im Karl Popperschen Sinn falsifizierendes Denken ist dies nicht, es geht um den richtigen Glauben. Abweichler seien in ihrer Entwicklung einfach noch nicht so weit oder sie müssten noch Trauerarbeit über den Verlust der ihnen bekannten (nicht-inklusiven) Welt leisten, heißt es dann.

Ist jedes Mittel recht?

Wesentliches Mittel der Werbung für die eigene Überzeugung und der Abwehr derjenigen, die der Inklusionsüberzeugung in ihrer radikalen Form nicht folgen wollen, ist das, was Herbert Marcuse „repressive Toleranz“ nennt. Dieser schöne Ausdruck bedeutet im Kern, Toleranz gelte nur für fortschrittliche Ideen und nicht für wie auch immer geartete rückschrittliche Ideen. In diesem Sinne kann man diejenigen, die Zweifel an einer radikalen Inklusion äußern, durchaus beschimpfen. So assoziieren manche Autoren jede Pädagogik, die von Normalitätskonzepten ausgeht, also auch viele Sonderpädagogiken, mit Begriffen wie „sexistisch“, „rassistisch“ und „sozialdarwinistisch“. Das heißt, wenn man verbal auf die Ungläubigen eindrischt, ist dies im Sinne der guten Sache durchaus gerechtfertigt. Hier fragt man sich, gilt die wertschätzende Interaktion der Inklusion nicht auch für anders Denkende? 

Hört man sich wissenschaftliche Vorträge im Kontext der Inklusion an oder schaut auf die mediale Aufbereitung des Inklusionsthemas, dann sind Metaphern, Gleichnisse oder Analogien an der Tagesordnung. Es finden sich vielfache Heldengeschichten von Kindern und Jugendlichen, die trotz Behinderung erfolgreich in dieser Gesellschaft agieren. Personen mit Trisomie 21, die einen Hauptschulabschluss machen, Autisten, die erfolgreiche Programmierer im Silicon Valley sind oder schwer körperbehinderte Personen, die erfolgreich als Künstler sind. Suggeriert wird mit diesen Geschichten: In einer inklusiven Gesellschaft wird es solche Erfolge alleweil geben. Generalisieren im wissenschaftlichen Sinne lassen sich alle diese Geschichten nicht. Jedoch machen sie zurecht Mut, dass mit viel Engagement aller Beteiligten viel zu erreichen ist. Allerdings funktionieren solche Mutmachgeschichten, die als moralische Richtschnur gelten, auch ohne eine inklusive Gesellschaft, das sollte nicht vergessen werden.

Zentrale Frage bleibt unbeantwortet

Die Spezialisten im Inklusionsdiskurs sind vielfältig. Wir haben die Juristen und Politiker, die im Wesentlichen die Formulierung der rechtlichen Normen zu verantworten haben, wie etwa der Behindertenrechtskonvention und den daraus folgenden nationalen Gesetzen und Verordnungen. Eine besondere Rolle spielen auch die Wissenschaftler, die radikale Inklusion einerseits legitimieren und andererseits praktische Umsetzungsmodelle entwickeln sollen. Die kanonischen Texte zur Inklusion, die Behindertenrechtskonvention oder die davor formulierte Salamanca-Erklärung sind notwendigerweise vage, weil sonst zwischen mehr als hundert Nationen kein Konsens erzielt werden kann. Exegese ist deshalb in vielerlei Hinsicht notwendig. Wie in jeder guten religiösen Auseinandersetzung sind die Exegeten sich nicht einig. So gibt es keine allgemein akzeptierte Definition von Inklusion. Schaut man sich diverse Handbücher an, etwa das „Handbuch für Inklusion und Sonderpädagogik“ wird dieser Mangel nicht nur sichtbar, sondern explizit beklagt. Ein solcher Streit befördert wissenschaftliches Denken nur begrenzt, denn die Grundlage jeder Wissenschaft sind klare Operationalisierungen dessen, worum es eigentlich geht. 

Ist Inklusion schlecht? Nein, auf keinen Fall! Sie ist ein wichtiger Beitrag für eine gerechtere und bessere Gesellschaft. Ist der Diskurs über Inklusion defizitär? Ja, denn in erheblichen Teilen teilt er die Welt in Gläubige und Ungläubige ein. Die zentrale nicht religiöse Frage, wie eine moderne, leistungsorientierte, kapitalistische Gesellschaft mit der Idee der Inklusion versöhnt werden kann, wird so nicht beantwortet.

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