Themen Impfpflicht und Omikron bei „Anne Will“ - Impfpflicht als ausgleichende Gerechtigkeit?

Läutet die grassierende Omikron-Welle das Ende der Pandemie ein? Und verfügt die Politik in diesem Fall über eine Exit-Strategie? Darüber wurde am Sonntagabend bei Anne Will diskutiert. Zum Thema Impfpflicht tat sich der NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst mit einer mehr als seltsamen Bemerkung hervor.

Die Runde von Anne Will an diesem Sonntag / screenshot
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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„Mit welchem Plan geht Deutschland ins dritte Corona-Jahr?“ Unter dieser Leitfrage wurde gestern Abend in der Talkshow bei Anne Will zum gefühlt hundertsten Mal über die neuesten Entwicklungen in der Pandemie diskutiert. Was für die aktuelle Ausgabe natürlich bedeutete, dass die Themen Impfpflicht und Omikron im Vordergrund standen. Die Debatte verlief angesichts des gesellschaftlichen Bruchs, der sich in ebenjenem dritten Corona-Jahr inzwischen sehr deutlich manifestiert, halbwegs einvernehmlich – was auch daran gelegen haben dürfte, dass etwa Gegner einer Impfpflicht (beispielsweise Wolfgang Kubicki von der FDP) nicht in der Runde vertreten waren.

Für die Liberalen war es vielmehr Bundesjustizminister Marco Buschmann, der seine Vorstellung von einer gestaffelten Verpflichtung zum Impfen darlegen durfte. Mit ihm diskutierten die Medizinethikerin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Alena Buyx; der Intensivmediziner Uwe Janssens; der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) sowie die FAZ-Journalistin Helene Bubrowski. Mit anderen Worten: Das bewährte deutsche Talkshow-Personal. Entsprechend erwartbar verlief auch die Sendung, wobei es dem NRW-Regierungschef überlassen blieb, mit einer Bemerkung für Staunen zu sorgen.

Sehr dünnes Eis

Als Anne Will von Wüst nämlich wissen wollte, wie er zur Impfpflicht steht und dieser daraufhin seine bekannte Befürworter-Position abspulte („sonst kommt man immer wieder in die gleiche Situation“), bekannte er unmittelbar danach, worin der eigentliche Sinn einer Impfpflicht bestehe. Nämlich darin, den Geimpften zu signalisieren, „dass jetzt mal die anderen dran sind“. Dem Ministerpräsidenten zufolge geht es bei diesem Thema also ganz ausdrücklich nicht um epidemiologische Ziele, sondern um eine Art „ausgleichende Gerechtigkeit“ zwischen Geimpften und Ungeimpften. Das ließ denn auch Anne Will aufhorchen, die direkt nochmal nachfragte. Aber Wüst bestätigte seinen Ansatz ausdrücklich. Die allgemeine Verpflichtung zum Impfen wäre demnach vor allem ein Symbol. Auf welch dünnem Eis er sich da bewegt, war ihm offenbar nicht bewusst.

Deutlich substantiierter fielen da schon die Einlassungen des Bundesjustizministers aus. Buschmanns Problem als Vertreter der Ampelregierung besteht derzeit in erster Linie darin, die Nichtvorlage eines Gesetzes zur Impfpflicht durch das Kabinett rechtfertigen zu müssen. Dass es dazu bisher nicht gekommen ist, liegt bekanntermaßen vor allem daran, dass die Koalition (nicht zuletzt wegen Kubicki und seinen Mitstreitern) eine entsprechende Mehrheit kaum zustande bringen dürfte. Buschmann hingegen verteidigte den Ansatz von Bundeskanzler Olaf Scholz, der Antrag zur Impfpflicht solle aus der Mitte des Parlaments heraus kommen, als eine „befriedende Lösung“. Vielmehr bleibt ihm auch nicht übrig.

Für die aktuelle Infektionswelle käme jetzt eine Impfpflicht ohnehin viel zu spät; die aktuelle Debatte richte sich perspektivisch auf den nächsten Herbst. Im Gegensatz zu Wüst ging Buschmann allerdings sehr wohl auf die verfassungsrechtlichen Probleme einer Allgemeinen Impfpflicht ein: Insbesondere unter dem Aspekt der Erforderlichkeit scheint er eine gestaffelte Impfplicht zu bevorzugen, etwa in Form einer Impfpflicht für Menschen im Alter von über 50 Jahren. „Es geht um konkrete Modelle und deren Umsetzbarkeit, nicht um Schlagworte“, so der Justizminister.

Problem des Vollzugsdefizits

Auf die Schwierigkeiten bei der Umsetzbarkeit hob auch die Parlamentskorrespondentin Bubrowski ab: Es bestehe die Gefahr, dass man mit einer Impfpflicht in ein „riesiges Vollzugsdefizit“ hineinlaufe, weil entsprechende Kontrollen in Deutschland schlicht nicht gewährleistet werden könnten. Auch angesichts der Tatsache, dass weitgehend unklar sei, wie lange eine Impfung überhaupt vorhält, hält die Journalistin eine entsprechende Verpflichtung für zumindest problematisch und warnte deshalb vor „Aktionismus“.

Der Intensivmediziner Janssens wiederum beklagte in diesem Zusammenhang den Mangel an Daten und Informationen und plädierte vehement für eine deutlich bessere Digitalisierung im Gesundheitsbereich. Dem eingeblendeten Statement des Vorsitzenden der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, wonach eine Impfpflicht das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstöre, widersprach Janssens allerdings sehr unmissverständlich. Auch Impfungen im Rahmen einer allgemeinen Pflicht seien den Ärzten zuzumuten.

Der Medizinethikerin Buyx schließlich schien es sehr daran gelegen zu sein, sich nicht auf politisches Terrain zu begeben, nachdem vier Mitglieder des von ihr geleiteten Ethikrats die jüngste Entscheidung des Gremiums zugunsten einer Impfpflicht als aktionistisch kritisiert hatten. Laut Buyx gibt es jedenfalls „gute Argumente pro Impfpflicht“, gleichwohl stelle diese einen „erheblichen Eingriff in ein Grundrecht“ dar. Das ist vom Erkenntnisgewinn her ebenso bescheiden wie die Feststellung, dass eine Impfpflicht auch „praktisch umsetzbar“ sein müsse.

Insgesamt einig war sich die Runde, dass die aktuelle Omikron-Situation mit rapide steigenden Infektionszahlen beobachtet werden müsse (man befinde sich in einer „neuen wackeligen Phase“, so Buyx) und man noch unter Informationsdefiziten leide (über Omikron „müssen wir noch viel mehr wissen“, so Janssens). Sollte sich erweisen, dass mit der Omikron-Variante wegen der üblicherweise milden Verläufe keine Überlastung des Gesundheitssystems drohe, würden die Ministerpräsidenten eine „Exit-Strategie“ aus dem Pandemieregime einschlagen, so NRW-Ministerpräsident Wüst. Dieser Weg sei bei der heutigen MP-Konferenz auch schon angelegt. Vorerst aber gilt laut Wüst: „Achtsamkeit und Vorsicht“.

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