Identitätspolitik - Der Opferwettstreit

Vor lauter Opfern ist die reale, vielfältige Gesellschaft bloß noch schemenhaft zu erkennen. Doch kann eine freie, demokratische und pluralistische Gesellschaft nur erfolgreich bestehen, wenn Bürger sich als selbstbewusste Subjekte der res publica begreifen und nicht als Objekte eines von Staats wegen betreuten Lebens.

Focht man früher Kämpfe „international“ aus, ficht man heute „intersektional“ Foto: Jan Woitas/dpa
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Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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Der Streit über „Cancel Culture“, „strukturellen Rassismus“ und Anti-Diskriminierungspolitik tobt seit Monaten. Jetzt hat ihn auch der Spiegel entdeckt und in gewohnt dezenter Aufmachung zur Titelgeschichte des neuen Hefts erhoben: „Aufstand gegen den alten weißen Mann. Gendersprache, Quoten, Tabus und Identitätspolitik: Fortschritt oder neue Ungerechtigkeit? Kulturkrieg statt Klassenkampf?“

Wie so oft laviert die Erzählung des Nachrichtenmagazins, in der Sahra Wagenknechts Bestseller „Die Selbstgerechten“ zum Fixstern der Kritik an der woken „Lifestyle“-Linken gemacht wird, zwischen Pro und Contra, einerseits, andererseits, am Ende in ein versöhnliches Sowohl-als-auch mündend.

Der Dauerkeks

Zwischen den Zeilen schimmert hier und da durch, dass sich das Problem des „alten weißen Mannes“, der sich sein „generisches Maskulinum“ so wenig nehmen lassen will wie den guten alten Schokokeks von Bahlsen namens „Afrika“ (der nun, hä?, „Perpetum“ heißt), schon rein biologisch lösen wird. Hinter ihm drängen die gendergerechten Kohorten der 20-30-Jährigen nach, die nun auch bei Edeka ihr „Student*innenfutter“ kaufen können, schon aus semantisch-postkolonialer Achtsamkeit niemals „Schwarzfahren“ und zugunsten von Frauen nicht nur auf die Kanzler*innenkandidatur verzichten, um sich anschließend in ihre „safe spaces“ des bunten Regenbogen-Universums zurückzuziehen.

Der nicht mehr ganz taufrische Befund des Soziologen Andreas Reckwitz, wir lebten in einer „Gesellschaft der Singularitäten“, muss präzisiert werden: Wir sind mitten in einer Gesellschaft der Opfer, genauer: immer neuer Opfergruppen, deren Ansprüche, nicht diskriminiert zu werden, immer mehr die mediale Öffentlichkeit bestimmen. Der Ruf nach „Gleichstellung“ statt – wie einst in den linken Emanzipationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts – nach Gleichberechtigung kommt aus allen Ecken.

70 Geschlechtsidentitäten

Wer glaubte, dass die westeuropäischen Gesellschaften im Laufe der vergangenen Jahrzehnte, zum Verdruss vieler Konservativer, immer liberaler und permissiver geworden seien, muss sich eines Besseren, pardon, Schlimmeren belehren lassen: Noch nie, so scheint es, war so viel Rassismus und Sexismus, Transphobie und Schwulenfeindlichkeit – und die Abkürzungsformel für die stets weiterwachsende „queere“ Diversitätslandschaft namens LGBTIQ+ und FLINT (Frauen*, Lesben, inter-, non-binary- und trans*-Personen) wird länger und länger, weil sie inzwischen mehr als 70 Geschlechtsidentitäten umfasst.

Wurde früher der revolutionäre Kampf „international“ geführt, so gestaltet er sich heute deutlich kleinteiliger und komplizierter, nämlich „intersektional“. Für ignorante alte weiße Männer: Hier geht es um multiple Diskriminierungen, etwa als Frau, Schwarze, Lesbe und sozial Unterprivilegierte. So fächern sich die Opfer- und Unterdrückungsverhältnisse immer weiter auf. Zuweilen ist ein regelrechter Opferwettbewerb zu beobachten, „Spieglein, Spieglein an der Wand …“.

Alt-Feministin gegen junge queere PoC

Längst schon kommt es zu intersektionalen Konflikten, etwa zwischen klassischen Feministinnen wie Alice Schwarzer und jungen queeren PoC (Person of Color)-Kämpferinnen gegen die Vorherrschaft des „weißen Blicks“, was immer das sei. Es wird also nur mehr schlimmer in dieser strukturell rassistischen und sexistischen Republik, die zugleich das freieste und liberalste Staatswesen ist, das es je auf germanischem Boden gab. Doch dieser Widerspruch fällt den notorischen Beschwerdeführern von Berufs wegen nicht auf.

Vor lauter Opfern ist die reale, aktive und ja, vielfältig-quicklebendige Gesellschaft nur noch schemenhaft zu erkennen. Der Historiker und Autor Rainer Zitelmann, Jahrgang 1957, hat deshalb den Spieß einmal umgedreht und sich einer Opfergruppe zugewandt, die mit vollem Recht von sich behaupten kann, „strukturell benachteiligt“ zu sein, oft genug mehrfach: Menschen mit schweren und schwersten körperlichen Behinderungen. Und siehe da: Sie fühlen sich gar nicht diskriminiert und wollen um keinen Preis als Opfer angesehen werden – jedenfalls jene 20 Persönlichkeiten, die Zitelmann in seinem gerade erschienenen Buch „Ich will. Was wir von erfolgreichen Menschen mit Behinderung lernen können“ (Finanz-Buch-Verlag, München, 2021) porträtiert hat.

Auf eigene Rechnung und Verantwortung

Alle eint der bewundernswerte und leidenschaftliche Drang, Täter des eigenen Lebens zu sein statt Opfer der widrigen Umstände. Sie sind von Geburt an blind, ohne Arme oder Beine, leiden an Parkinson oder sind taubstumm. Es sind ganz außergewöhnliche Menschen, die gewiss nicht der Maßstab für alle anderen sein können, Musiklegenden wie Ray Charles und Andrea Bocelli, berühmte Maler wie Vincent van Gogh, aber auch Zeitgenossen wie der Hornist Felix Klieser, der ohne Arme geboren wurde, und der amerikanische Bergsteiger Erik Weihenmayer, der als erster blinder Mensch den Mount Everest bestiegen hat, dazu alle „Seven Summits“ dieser Erde.

Stets geht es um eine existenzielle „Selbstermächtigung“, wie Reinhold Messner gerne sagt, um die ganz persönliche Entscheidung, „kein Kollaborateur der vorgeblich übermächtigen Umstände“ (Peter Sloterdijk) zu sein, sondern ein Aktivist des eigenen Schicksals: „Identitätspolitik“ im eigenen Namen, auf eigene Rechnung und eigene Verantwortung.

Geschäftsmodell der Opferentdeckung

Daraus wäre für die politische Debatte unserer Tage einiges zu lernen, in der es nur noch darum zu gehen scheint, immer neue Antidiskriminierungsregelungen zu erfinden, denen ein ganzes Heer von Gleichstellungsbeauftragen, Gender-Spezialisten und Gesinnungs-Kontrolleuren auf dem Fuße folgt. Es sind allesamt Opferbeauftragte, die ebenso gut beim Paritätischen Wohlfahrtsverband arbeiten könnten, dessen Geschäftsmodell ja auch darin besteht, immer neue Opfergruppen zu entdecken – auf Kosten eines Sozialstaats, der jetzt schon ein Drittel der Wirtschaftsleistung in Deutschland beansprucht.

Dabei ist völlig klar, dass eine freie, demokratische und pluralistische Gesellschaft auf Dauer nur erfolgreich bestehen kann, wenn die große Mehrheit ihrer Bürger aller Geschlechtsidentitäten sich als selbstbewusste Subjekte der res publica begreifen und nicht als Objekte eines von Staats wegen betreuten Lebens.

Gut möglich, dass dazu der alte weiße Mann noch ein paar nützliche Erfahrungen auf Lager hat, bevor er die Pflegestufe 3 erreicht.

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