Demos gegen Grundrechtsbeschränkungen - „Es darf auch absurde Kritik geäußert werden“

Die Demos gegen die Einschränkung der Grundrechte ziehen immer größere Kreise. Der Protestforscher Dieter Rucht erklärt, was Opfer der Krise, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker und Tierschützer verbindet und warum die Politik diese Proteste ernst nehmen sollte.

Demo auf dem Alex in Berlin: „Die Botschaft der Politik kommt nicht bei allen an“ / dpa
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Dieter Rucht ist emeritierter Soziologieprofessor. Sein Schwerpunkt sind soziale Bewegungen und die Protestforschung. 

Herr Rucht, in Berlin gehen seit einigen Wochen Menschen gegen die Grundrechtsbeschränkungen in der Coronakrise auf die Straße, die ideologisch meilenweit voneinander entfernt sind. Das Spektrum reicht von Tierschützern bis zum NPD-Mitglied. Hat Sie das als Protestforscher überrascht?
Nicht ganz. Gelegentlich passiert es, dass sich Linke und Rechte zusammentun, zum Teil ungewollt, zum Teil gewollt. Bei diesem Thema allerdings ist es nicht so ungewöhnlich. Das kann von verschiedenen Seiten her instrumentalisiert werden. 

Der Organisator Anselm Lenz, kommt aus der linken Szene. Als er gefragt wurde, wie er es finde, dass seine Demo inzwischen auch von AfD- und NPD-Politikern besucht werde, sagte er: „Um Himmels Willen, denen dürfen wir den Prozess nicht überlassen.“ 
Manche Leute gehen eben relativ naiv an so ein Geschäft heran. Die haben eine Forderung und suchen dafür die Masse. Und dann wissen sie nicht, wer da neben ihnen steht oder von der Bühne aus agiert.

Was ist der kleinste gemeinsame Nenner bei diesen Demos?
Das ist sehr schwierig, weil die Forderungen sehr heterogen und zum Teil auch sehr spezifisch sind. Die einen sind für Tierschutz, die anderen gegen Impfschutz. Wenn es dennoch einen gemeinsamen Nenner geben könnte, dann ist es wohl ein Populismus – und zwar ein rechtsaffiner. Das heißt auf eine Formel gebracht: „Wir sind das Volk – die Leute mit legitimen Anliegen. Wir stehen gegen die da oben, die uns nicht ernst nehmen.“ Diese Kluft zwischen vermeintlichem Volk und vermeintlichen Eliten ist ein Grundmerkmal des Populismus.

In der Coronakrise erscheint die Kluft so tief wie noch nie. Viele Arbeiter und Angestellte sind in Kurzarbeit, Unternehmen stehen kurz vor der Insolvenz. Findet man diese Betroffenen nicht bei den Demos?
Doch, aber die nehmen als Einzelpersonen teil, sie bilden keine homogene Gruppe und sind zum Teil auch schlecht organisiert. Nehmen Sie zum Beispiel Kneipenbesitzer. Die werden nicht als eigene Gruppe sichtbar. 

Nach einer aktuellen Umfrage des ZDF-Politbarometers finden 81 Prozent der Bürger, die Regierung mache einen guten Job. Wie repräsentativ sind vor diesem Hintergrund die Demos gegen die Grundrechtsbeschränkungen? 
Man könnte aus dieser Umfrage ablesen, dass die Demos keineswegs repräsentativ sein können, denn das ist eine deutliche Minderheit. Und selbst wenn man die 19 Prozent der Bürger nimmt, die die Maßnahmen der Regierung missbilligen, geht wiederum nur ein kleiner Teil auf die Straße. Aber das ist kein Kriterium. Auch einseitig zusammengesetzte Minderheiten können und dürften demonstrieren. Und es darf auch absurde Kritik geäußert werden, zum Beispiel dass Deutschland auf dem Weg zu einer Diktatur sei. Das ist durch die Meinungsfreiheit gedeckt.

Aber wenn man sich manche Berichte und Kommentare in der Bild oder auch in der FAZ ansieht, bekommt man den Eindruck: So absurd finden das sogar Intellektuelle gar nicht. 
Man kann den Sinn und das Ausmaß einzelner Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durchaus bezweifeln. Aber es wäre absurd, gegenwärtig den Faschismus oder einer Orwellschen Staat zu befürchten, wie es manche Verschwörungstheoretiker tun. 

Verschwörungstheorien verbreiten sich gerade schneller als das Virus selbst. Sind die Menschen in Krisenzeiten anfälliger dafür, weil sie einen Schuldigen suchen?
Ja, klar. Viele Leute kommen mit differenzierten und ambivalenten Botschaften nicht zurecht. Es gibt ja zum Teil durchaus berechtigte Kritik an der Regierung, zum Beispiel hinsichtlich der Frage, woran die Intensität der Coronakrise gemessen wird. Diese Kriterien haben sich im Laufe der Zeit geändert. Diese Kritik daran ist nicht per se verwerflich. Es gibt Lernprozesse unter den Virologen – und auch unter den Politikern. Gerade Letztere sind nicht alle einer Meinung und wollen sich auch profilieren, wie der Wettbewerb der Ministerpräsidenten um die Lockerungen zeigt. 

Und das überfordert viele Menschen?
Ja, man muss das aushalten können, dass eine komplexe Realität auch vielstimmige Antworten und Vorschläge hervorruft. Es gibt aber Menschen, die mit solchen Grautönen überhaupt nicht zurechtkommen. Die wollen glasklare Ansagen: Das ist das Problem! Das ist der Verursacher! Und das ist die Lösung! Ein Abwägen, ein Tasten, ein Einerseits/Andererseits, wird von diesen Leuten nicht akzeptiert. 

Aber wo hört die berechtigte Kritik an der Politik auf, wo fängt die Verschwörungstheorie an?
Berechtigte Kritik ist sach- und faktenbezogen und insofern überprüfbar. Sie kann auf dieser Grundlage durchaus meinungsstark sein. Dagegen beruhen Verschwörungstheorien im Kern auf Andeutungen, Falschinformationen und Wahnvorstellungen. Das Perfide daran ist, dass Verschwörungstheorien auch einzelne Fakten enthalten können und deshalb insgesamt für real gehalten werden.

Die Demonstrationen werden immer größer. In Stuttgart sind zuletzt 10.000 Menschen auf die Straße gegangen. Immer häufiger mischen sich auch AfD- oder NPD-Politiker unter die Teilnehmer. Ist das ein Alarmsignal an die Politik?
Doch, ich denke schon. Die Parteien versuchen jetzt zwar, mäßigend und steuernd zu wirken. Aber das ist schwierig, denn keiner weiß, wie es weitergeht. Meine Vermutung ist: Die Demos können durchaus noch ein, zwei Wochen anwachsen. Aber in dem Maße, wie die Lockerungen Platz greifen, verliert die Bewegung an Rückhalt. 

Dieter Rucht / dpa

Und was ist, wenn wir noch eine zweite Welle bekommen? 
Dann werden die Karten neu gemischt. Dann kann es sein, dass diese Proteste deutlich zunehmen. 

Aber warum demonstrieren die Menschen ausgerechnet jetzt gegen Grundrechtsbeschränkungen, wo die doch allmählich wieder zurückgenommen werden?
Am Anfang war Corona eine große Unbekannte. Man hatte keine Vorstellung davon, wie schnell sich die Pandemie verbreitet. Das hat die Leute zu Vorsicht veranlasst. Jetzt aber ist bei einigen der Eindruck entstanden: So schlimm ist es nicht, wie man es erwartet hatte.Jetzt sind die Auflagen gar nicht mehr nötig. Die Leute haben das Gefühl, wir hätten das Schlimmste hinter uns. Warum sollten sie sich da noch weiter einschränken?  

Warum gelingt es der Politik nicht, sie vom Gegenteil zu überzeugen?
Die Politik versucht es ja, aber die Botschaft kommt nicht bei allen an. Umso erstaunlicher ist es, dass die Bundesregierung noch so viel Zustimmung für ihren Kurs bekommt. 

Ist der Protest auf der Straße deshalb so groß, weil die Opposition im Parlament erlahmt ist?  
Nein, einzelne Politiker der FDP wie Christian Lindner werden jetzt als Wadenbeißer der Regierung herumgereicht. Ich staune, wie häufig der in Talkshows auftaucht. Dabei hat er kaum Neues zu sagen. 

Aber würden so viele Menschen auf die Straße gehen, wenn sie sich von der Opposition im Bundestag vertreten fühlten?
Wenn die parlamentarische Opposition das Meinungsspektrum der Corona-Protestler lautstark vertreten würde, dann gäbe es weitaus weniger Demonstrierende. Aber das ist nicht der Fall. Im Übrigen würde sich jede Partei lächerlich machen, wenn sie diesen gesamten Strauß von teilweise wirren Forderungen übernähme.

Bei den Demonstrationen werden immer häufiger Journalisten angegriffen. Wird die Forderung nach Grundrechten nicht zur Farce, wenn man die Grundrechte anderen verweigert? 
Mit Logik ist nicht allen beizukommen. Die Leute, die lauthals verkünden, es gebe keine Meinungsfreiheit, tun es auf der Straße und sprechen in die Mikrophone der Medien. Das ist eine absurde Situation. 

Welche Rolle spielen alternative Medien wie Ken.Fm bei der Verbreitung dieser Proteste?
Sie sind die zentralen Instrumente. Es ist sehr häufig so, dass ihre Nutzer sich fast nur noch in ihrer eigenen Blase bewegen. Man bestärkt sich ständig gegenseitig und schottet sich gegen andere Medien ab. Es gibt nur noch die „Lügenpresse“ und ein paar Webseiten, auf denen „die Wahrheit“ steht. 

Mit Fake News und Verschwörungstheorien erreichen solche Medien ein Millionenpublikum. Gibt es analog zur Herden-Immunität auch so etwas wie eine Herden-Dummheit?
Ich schreibe gerade über die Massenpsychologie des späten 19. Jahrhunderts. Es gibt Bücher aus dieser Zeit, die durchaus Parallelen menschlichen Verhaltens zu dem von Herdentieren wie Schafen ziehen. Dort wird auch von psychischer „Ansteckung“ gesprochen. Eine amorphe Masse folgt einfach willen- und kopflos irgendwelchen Agitatoren. Ich bin äußerst skeptisch gegenüber solcher Literatur. Aber es ist nicht völlig abwegig zu sagen, in Zeiten starker Verunsicherung gibt es für manche Orientierungslosen Leithammel oder Leitfiguren, deren Sichtweisen übernommen werden, weil sie ins eigene Weltbild passen.  

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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