Holocaust-Gedenkveranstaltungen - Von der Unmöglichkeit des Erinnerns

Zum 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz nimmt das Erinnern kein Ende. Unser Gastautor ist selbst Jude. Ihn nervt die zur Schau gestellte Betroffenheit allmählich. Er fragt: Was bringt es, der Toten zu gedenken, wenn einem die lebenden Juden egal sind?

Fader Beigeschmack: Wem nutzt das ritualisierte Gedenken? / picture alliance
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Autoreninfo

Sergey Lagodinsky ist Rechtsanwalt und Publizist russisch-jüdischer Herkunft. Seit der Europawahl 2019 sitzt er für die Grünen/EFA im EU-Parlament. 

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Wenn Juden das Volk des Buches sind, ist Deutschland dieser Tage das Volk der Worte. Bekenntnisse über Bekenntnisse, Rituale über Rituale. Die Kollektivübung scheint darin zu bestehen, das Unfassbare zu vermessen, das Unmögliche auszudrücken - weniger das Verbrechen, mehr die eigene Betroffenheit. Manches hat mit Schuld und Scham zu tun. Manches mit einer Pflichtübung. Und manches auch mit dem kollektiven, fast erotischen Verlangen, eine Beziehung zu der historischen Monstrosität aufzubauen.

Und so entstehen sie, die sich wiederholenden, sich in sich selbst erschöpfenden Sprachübungen, die eine Mischung aus politischer Pflicht und historischer Wolllust sind. Irgendwie muss jeder ran, und irgendwie wollen es auch viele. Und das hilflose „irgendwie“ wird zum Ausdruck der Unmöglichkeit der Aufgabe und zugleich ihrer sich selbst produzierenden Trivialität. Es gibt nur einen Holocaust, es gibt aber 80 Millionen von uns und noch viele mehr, wenn wir es global betrachten.

Worte werden zu Wörtern 

Es ist eine unmögliche Aufgabe, Erinnerung durch Worte wach zu halten. Nicht weil es dafür viel zu wenig Worte gibt, sondern weil viel zu viele Wörter gesprochen werden. Und so werden Worte zu Wörtern – in nur einer Woche haben sie den Holocaust zerredet. Sogar die Geschichten der Einzelnen klingen hohl, wenn sie von allen Bühnen der Welt wiederholt werden.

Sogar dann, wenn unsere Bekenntnisse das erwähnen, was sonst stets am wirksamsten ist – persönliche Geschichten der Opfer – bekommen diese Geschichten in öffentlichen Reden einen faden Beigeschmack: Präsident Steinmeier erzählte in Jerusalem die Geschichte von Samuel Tytelman und seiner Schwester Rega. Doch wenn es sechs Millionen vergaster und erschossener Lebensgeschichten gibt, ist es unweigerlich, dass auch sie sich in öffentlichen Reden ähneln.

Sechs Millionen Leben, sechs Millionen Schicksale 

Jeder war ein Sohn oder eine Tochter von jemandem, viele hatten Geschwister, die Kinder hatten ihre typischen Kindheitsgeschichten und die Eltern ihre Berufe. Wenn jeder Politiker, jede Reportage auch nur eine Geschichte erzählt, erinnert sie würdevoll an ein Opfer. Doch zugleich wird das Persönliche massenhaft durch die schiere Zahl der Geschichten – sechs Millionen Einzelleben sind eben sehr sehr viel.

Die Unmöglichkeit unserer Erinnerungsaufgabe steckt in der Übergröße des Verbrechens. Sollen wir deswegen aufhören, uns zu erinnern? Selbstverständlich nicht! Doch sollen wir deswegen darüber hinwegsehen, dass diese offizielle Erinnerung immer pathetischer, immer ermüdender wirkt? Auch das wäre ein falscher Weg! Wahrscheinlich sind wir als Gesellschaft dazu verdammt, die unmögliche Erinnerung immer wieder in Worte zu fassen und zu zerreden und diese Übung dann immer und immer wieder zu versuchen.

Was tut die Politik für die Überlebenden?  

Diese Worte habe ich als persönlich betroffener Beobachter geschrieben. Als Politiker ergänze ich dies: Unsere kollektiven Erinnerungsversuche, mögen sie auch noch so hilflos und repetitiv rüberkommen, bleiben nur dann legitim, wenn sie glaubwürdig, opfergerecht und gegenwartsrelevant sind. Es ist nicht glaubwürdig, wenn unsere Erinnerungsbemühungen rituell wirken, sich in Symbolik erschöpfen.

Erinnerung an die Schoah bedeutet, sich auch außerhalb der Feiertage an Menschen zu wenden, die Opfer von damals waren: Was tut Politik für die Überlebenden des Holocausts und ihre Nachfahren, wenn es etwa um würdevolle Lebensbedingungen in Deutschland geht? Die Bemühungen um die Lösung einer Altersversorgung für jüdische Zuwanderer, vielfach Holocaust-Betroffene und ihre Kinder dauern seit Jahrzehnten an. Viele von ihnen sind längst verstorben, ohne dass ihre Lebensleistungen anerkannt wurden. Die politische Kälte, mit der diese Fragen bisher behandelt wurden, oder eher unbehandelt blieben, ist kein Zeichen der Glaubwürdigkeit des politischen Verantwortungsauftrags. 

Wem nutzt die Theatralik der Betroffenheit? 

Die Erinnerung darf nicht instrumentell wirken. Diese Erinnerung ist nicht zu politischen Zwecken da, aber sie ist auch nicht da, um sich selbst als Gesellschaft zu entlasten. Eine tragische Einzelgeschichte, die vom Manuskript vorgelesen wird, mag berühren. Aber sie darf nicht zur Theatralik der eigenen Betroffenheit verkommen.

Vor allem geht es darum, die Erinnerung ins Heute zu bringen: Es geht in erster Linie um klare Erinnerungs- und Antisemitismusbildung. Es geht darum, jüdische Menschen in Deutschland und in Europa zu schützen, die verschiedenen Formen des Antisemitismus ernst zu nehmen. Es geht darum, anzuerkennen, dass der Judenhass sich nicht nur in der alten Form des Nationalsozialismus wiederholt, sondern in anderen Formen – von übertriebener Israel-Kritik bis hin zur stereotypen und obsessiven Finanzkapitalkritik und Verschwörungstheorien. Der Auftrag muss sein, dass alle Justiz- und Verwaltungsstellen dies wissen, also auch dazu ausgebildet werden. Es bringt wenig, Gesetze zu verschärfen, wenn der Hass nicht mal erkannt wird.

Kontakt zu lebenden Juden pflegen 

In Schulcurricula brauchen wir mehr Informationen über das heutige jüdische Leben. Das ist die beste aktive Erinnerung an die Toten und ein offener und direkter Beziehungsaufbau zu ihren Nachfahren. Es ist wichtig, dass jüdisches Leben ganz selbstverständlich, religiös und säkular, bunt und vielfältig erfahrbar gemacht wird. Entweder durch einen Kontakt wo möglich oder durch Schulbildung, wo es kein jüdisches Leben gibt. Es bringt nichts, der Toten zu gedenken, wenn einem die lebenden Juden gleichgültig sind.

Ein Gespräch darüber, wie wir unsere Erinnerungskultur in Deutschland ehrlich und glaubwürdig gestalten, kann nicht schnell genug beginnen. Am liebsten gleich am Tag nach dem Jahrestag der Auschwitzbefreiung!

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