Wie Heinsberg die Kurve gekriegt hat - „Papa, machste wieder Corona?“

Im nordrhein-westfälischen Heinsberg flacht die Kurve der Corona-Infizierten langsam ab. Zusammen mit Virologen erarbeitet der Landrat Stephan Pusch (CDU) eine Exit-Strategie, die Modell sein könnte für den Rest der Republik. Was können wir von seinem Landkreis lernen?

Immer im Einsatz für die Bürger: Heinsbergs Landrat Stephan Pusch / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Stephan Pusch ist Jurist und seit 2004 Landrat in Heinsberg. Der Landkreis wurde bekannt als Epizentrum der deutschen Coronakrise. Bisher gab es dort über 1265 Infizierte und 32 Tote. 

Herr Pusch, weil Sie hierzulande keine Schutzausrüstung für das Personal in Krankenhäusern und Arztpraxen gefunden haben, haben Sie Chinas Präsident Xi Jingping gebeten, Ihnen Schutzausrüstung zu liefern. Wie kommen Sie gerade auf ihn? 
Also, wenn jemand solche Schutzausrüstung liefern kann, dann doch wohl das Land, in dem diese Atemschutzmasken hergestellt werden. Ich kam deswegen darauf, weil uns chinesische Geschäftsleute aus Düsseldorf vorher schon Masken gespendet hatten. Und dann gab es noch diese Fotomontage auf Social Media, die mich wahnsinnig geärgert hat. 

Welche meinen Sie?
Es gab so ein Schild, auf dem stand: Heinsberg, Partnerstadt von Wuhan. Das hat mich echt geärgert. So etwas suggeriert doch: Die sind an allem Schuld – genau wie die Chinesen. 

Und dann haben Sie sich gesagt: Drehe ich den Spieß einfach um?
Genau, ich dachte, mehr als blamieren kann man sich ja nicht, wenn man die chinesische Regierung anschreibt. Der Generalkonsul hat sich auch prompt gemeldet. 

Die Kommunistische Partei in China muss sich den Vorwurf gefallen lassen, sie trage eine Mitschuld daran, dass sich das Virus weltweit verbreitet habe, weil sie die Warnungen der Virologen wochenlang unter Verschluss gehalten hat. Müssen Sie nicht fürchten, dass Xi Jingping Ihren Appell nutzt, um Chinas lädiertes Image im Ausland aufzupolieren?
Das ist mir im Moment, ehrlich gesagt, ziemlich egal. Als kleiner Landrat muss ich mich nicht um die große Weltpolitik kümmern. Mir sind Chinesen, die helfen, lieber als Amerikaner, die den Weltmarkt aufkaufen. Ich muss versuchen, für die Arztpraxen, Krankenhäuser und Pflegeheime in meinem Landkreis Schutzbekleidung zu bekommen. Ich denke, das ist das Mindeste, was man den Mitarbeitern schuldet, wenn man von denen schon erwartet, dass sie rund um die Uhr arbeiten. 

Aber müssten sich die Einrichtungen darum nicht eigentlich selbst kümmern?
Stimmt, aber das hat nicht mehr funktioniert, weil die nichts mehr kriegten auf dem Markt. Ich hatte schon die Bundeswehr um Amtshilfe gebeten, da kam mal etwas Material. Aber danach war ich am Ende mit meinem Latein. 

Und jetzt haben Sie 15.000 Atemschutzmasken aus China bekommen?
Ja, und da kommt noch mehr hinterher. Gerade hat mich der chinesische Konsul angerufen und Grüße vom Präsidenten überbracht. Er hat sich dafür bedankt, dass das Land Nordrhein-Westfalen China zuvor auch mit Schutzausrüstung ausgeholfen hat. Er will sich dafür revanchieren. 

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Dabei steigt die Zahl der Infektionen in Heinsberg nicht mehr exponentiell an. Wie haben Sie das geschafft?
Wir sind am 26. Februar gestartet – drei Wochen, bevor der Rest der Republik über Kita- und Schulschließungen oder Ausgangssperren nachgedacht hat. Wir haben auch das Besuchsrecht in Alten- und Pflegeheimen massiv eingeschränkt und eine Ausgangssperre light für über 65-Jährige verhängt. Die durften nur noch zu Arztbesuchen raus. Alle anderen sollten ihr Zuhause nur noch zur Arbeit verlassen. Die Vereine haben alle Veranstaltungen abgesagt.

Und daran haben sich alle gehalten?
Ja, das erfordert eben Geduld. Es hat sich eine unheimliche Solidarität in der Bevölkerung entwickelt. Unter dem Hashtag #hsbestrong versammeln sich die Leute im Internet. Die fühlen sich als Leidensgenossen. Gut, vor der Kontaktsperre haben noch Leute gefeiert. Aber jetzt steht das unter Strafe. Die Polizei hat mir gesagt, am Wochenende gab es nur zwei, drei Vorfälle, wo sie hätte einschreiten müssen. 

Bleiben Ihnen italienische Verhältnisse erspart? 
Ich glaube schon, dass unsere Maßnahmen gewirkt haben. Aber es bleiben Fragezeichen. 

Welche?
Die Grenze zu den Niederlanden steht zum Beispiel immer noch offen. Wird sich das auf uns auswirken? Im Moment sieht es nicht nach italienischen Verhältnissen aus. Aber das kann auch daran liegen, dass unser Verlege-Management gut klappt. 

Ihr was?
Unsere Krankenhäuser haben nur wenig Kapazitäten – 3,6 Betten pro 1.000 Einwohner und 30 Intensivbetten insgesamt. Das ist nicht besonders viel. Wir haben Intensivpatienten schon immer auf die umliegenden Krankenhäuser verlegt. Zur Zeit funktioniert das noch. Ich weiß aber nicht, wie es aussieht, wenn die mal vollbelegt werden sollten. Das könnte noch Probleme geben. 

Heinsberg ist hierzulande das Epizentrum der Coronakrise. Sie sind dem Rest der Republik um zwei Wochen voraus. Was können andere Städte und Kommunen von Ihnen lernen? 
Geduld. Im Augenblick gibt es eine Debatte darüber: Kann man eine Kontaktsperre nach zwei Wochen schon wieder aufgeben? Der Virologe Hendrik Streeck sammelt bei uns gerade Daten für einen Exit-Plan. Wie viele Menschen sind schon infiziert? Nur wenn man das weiß, kann man die Beschränkungen wieder lockern.  

Die Virologen untersuchen auch in Heinsberg, wie sich das Virus genau verbreitet. Inwieweit können die Erkenntnisse beim Kampf gegen das Virus helfen?
Derzeit spricht viel dafür, dass sich das Virus nur durch den direkten Kontakt von Mensch zu Mensch verbreitet – zum Beispiel, wenn Leute in der Kneipe zusammen schunkeln oder gemeinsam aus Gläsern trinken. Das würde bedeuten, dass in erster Linie solche Veranstaltungen gefährlich sind und noch lange verboten bleiben könnten. 

Nach einer Forsa-Umfrage haben 80 Prozent der deutschen Städte und Kommunen keinen Notfallplan. Es heißt, auf dem Land sei man besonders schlecht auf eine Pandemie vorbereitet. Wie sah das in Ihrem Landkreis aus? 
Wir hatten schon einen Pandemie-Plan, aber davon halte ich nicht so viel. Da ist vieles zu theoretisch. Wichtig für uns war, dass wir die Zusammenarbeit in meinem Krisenstab schon mehrfach vorher durchgespielt hatten. Wir hatten schon geübt, was passiert, wenn es im nächsten Atomkraftwerk in Belgien zum GAU kommt oder was passiert, wenn bei uns tagelang der Strom ausfällt. 

Aber mit einer Pandemie hatten Sie noch keine Erfahrung? 
Trotzdem hat das alles gleich funktioniert: Aufgabenverteilung, Presse, Kommunikation. Am Dienstag nach Karneval hatten wir die ersten beiden Corona-Fälle, am Mittwochmorgen waren die Schulen dicht. Deshalb schwillt mir der Hals, wenn ich höre, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) sagt, er wolle kein zweites Ischgl oder Heinsberg. Wir hatten die Schulen schon zu, da hat er noch nicht mal drüber nachgedacht.

Sie haben anfangs beklagt, das Land NRW hätte Sie nicht genug unterstützt. Macht die Pandemie Bürgermeister zu Einzelkämpfern?
Die Landesregierung hat ein paar Tage gebraucht, um in den Krisenmodus zu schalten. Das ist ganz normal. Es gibt eben einen Unterschied zwischen administrativer und operativer Verwaltung. Mittlerweile sind sie da aber angekommen. Das einzige Problem, was bleibt, sind die Engpässe bei der Schutzausrüstung. 

Fühlen Sie sich vom Robert-Koch-Institut auch unterstützt?
Nein, wenn ich den strengen Richtlinien des RKI gefolgt wäre, hätten wir in den Krankenhäusern und Arztpraxen keinen mehr gehabt, der noch hätte arbeiten können. Es wären noch mehr Menschen gestorben – aber an Krankheiten, die mit Corona nichts zu tun haben. 

Warum?
Nach den ursprünglichen Empfehlungen sollten Menschen zwei Wochen ihren Beruf nicht ausüben, die Kontakt mit Infizierten hatten. Jeder Pfleger, jeder Arzt hätte aus dem Gesundheitssystem entfernt werden müssen. Das ging aber nicht. Bei uns hätte ein ganzes Krankenhaus und in Aachen eine Säuglingsstation geschlossen werden müssen. Bevor das RKI diese Richtlinien geändert hat, hab ich mich mit denen gezankt. 

Es hätte auch schiefgehen können. 
Richtig, aber das ist meine Aufgabe als Landrat, den Kopf dafür hinzuhalten. 

Die taz hat über Sie geschrieben, wenn der Virologe Christian Drosten zum Kanzler auf Zeit geworden ist, dann sind Sie sein Innenminister. Wie finden Sie den Vergleich? 
Ich fühle mich geschmeichelt. Da schwingt Anerkennung mit, dass wir das bislang gut gemanagt haben. Aber wenn ich die Wahl hätte, ob ich das nochmal machen würde oder per Knopfdruck den Zustand der Welt vor dem Ausbruch der Pandemie herstellen könnte, würde ich letzteres bevorzugen. 

Sie sind Vater von fünf Jungs, drei davon sind noch im Kita-Alter. Wie erklären Sie denen, was Sie da gerade machen?
Ach, die haben das schon verstanden, dass das eine ansteckende Krankheit ist und man deshalb gerade nicht mit den Kumpels spielen kann. Wenn ich zur Arbeit fahre, heißt es: „Papa, machste wieder Corona?“

Während andere im Home Office arbeiten, sind Sie ständig unterwegs. Keine Angst, dass die Krankheit auch Sie erwischt? 
Ich sage mir immer: Viren haben auch ihren Stolz. Ich krieg das nicht. 

Jetzt mal im Ernst. 
Ich hatte vor Karneval einen leichten grippalen Infekt. Ich vermute mal, dass ich es schon gehabt habe. Ich wurde dreimal negativ getestet. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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