Hans-Georg Maaßen - „Die SPD ist verantwortlich, dass IS-Kämpfer nach Deutschland kommen“

Der ehemalige Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen warnt vor Gefahren durch IS-Heimkehrer. Schuld daran sei die SPD, die eine Reform des Staatsangehörigkeitsgesetzes zu lange blockiert habe. Zur Bekämpfung von Islamismus und Rechtsextremismus fordert er „digitale Patrouillen“ im Internet

„Demokratien müssen immer mit einem gewissen Risiko leben“, sagt Hans-Georg Maaßen / picture alliance
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Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Maaßen, der EU-Anti-Terrorbeauftragte Gilles de Kerchove warnt in einem Interview mit der Welt davor, dass in Syrien ein neues Kalifat des sogenannten Islamischen Staates entstehen könnte. Teilen Sie seine Befürchtungen?
Ich sehe diese Gefahr auch. Ich teile die Auffassung von Gilles de Kerchove, dass die politischen und sozialen Umstände, die den sogenannten Islamischen Staat im Irak und in Syrien groß gemacht haben, sich leider nicht wesentlich geändert haben. Hinzu tritt, dass die Instabilität, die durch die Intervention in Syrien hervorgerufen wird, islamistische Kräfte stärken kann. So könnte auch ein neues Kalifat entstehen.

Der Islamische Staat gilt als weitgehend besiegt.
Der Islamische Staat ist nicht tot, auch wenn er in Syrien und im Irak über kein eigenes Territorium mehr verfügt. Er ist noch dort, und er ist auch noch in vielen weiteren Staaten vorhanden.

Statt der Amerikaner haben nun die Russen das Heft in der Hand. Hat die die türkische Intervention tatsächlich so großen Einfluss?
Ich nehme schon wahr, dass durch die Intervention eine Destabilisierung eintritt. Dies kann zu einer Radikalisierung von Menschen führen, die vom Kriegsgeschehen jetzt vielleicht noch gar nicht unmittelbar betroffen sind. Es ist nicht auszuschließen, dass auf Grund der in Teilen desolaten Lage vor Ort Menschen in die Arme von terroristischen Gruppierungen getrieben werden.

Hat sich die Gefahrenlage für uns hier in Deutschland seit Sie nicht mehr Chef des Verfassungsschutzes sind verändert?
Ich bin nun erst seit einem Jahr draußen. Aber schon in den vergangenen Jahren hat sich die Gefahrenlage verändert. Terrorkommandos, die vom IS aus Syrien entsandt werden, sind nicht mehr die größte Bedrohung. Derartige Terrorkommandos waren verantwortlich für die Anschläge in Paris oder den Anschlag auf den Brüsseler Flughafen. Zwar sind solche Terrorkommandos noch vorstellbar, aber ich halte sie derzeit für weniger wahrscheinlich. Die Bedrohungslage ist heute eine andere.

Wie würden Sie die beschreiben?
Sie ist gekennzeichnet durch Einzeltäter oder Kleinstgruppen von Menschen, die sich bereits bei uns aufhalten. Sie werden oftmals über das Internet oder in Chatgruppen radikalisiert. Die vergangenen Anschläge und auch die letzten Anschlagspläne und -versuche waren im Wesentlichen solche, bei denen Einzeltäter oder Kleinstgruppen nach Erkenntnissen der Sicherheitsbehörden eine Rolle spielten.

Sie meinen mit Einzeltäter Personen, die zwar einzeln handeln aber dennoch vernetzt sind?
Ja, vereinzelte Täter. Man sprach früher von lonesome wolves. Personen, die natürlich nicht ganz alleine sind, sondern vernetzt über Messenger-Gruppen, Chatforen, also über den Cyberraum. Diese Vernetzung ist eine Voraussetzung für den Radikalisierungsprozess. Trotzdem führen sie am Ende ihre Taten alleine aus oder in Kleinstgruppen.

Aber inwiefern hat eine Destabilisierung in Syrien Einfluss auf hier lebende Schläfer?
Jede Destabilisierung trägt dazu bei, dass terroristische Kräfte gestärkt werden können. Weil sie aus dem Destabilisierungseffekt auch ihre Legitimation ziehen, nämlich gegen etwas zu kämpfen und eine neue Ordnung zu schaffen. Ich kann mir durchaus vorstellen, dass dies auch dazu führen kann, dass der IS wieder in das größere Bewusstsein auch der Menschen in der Region tritt und über das Internet auch hierzulande.

Im Februar dieses Jahres hatte der US-Präsident Deutschland eine Art Ultimatum gestellt, deutsche IS-Kämpfer aufzunehmen. Außenminister Heiko Maas sagte damals, dieses Ansinnen sei schwierig zu realisieren. Von wie vielen deutschen IS-Kämpfern müssen wir ausgehen?
Es sind etwa 1.050 Personen aus Deutschland als Kämpfer oder Unterstützer zum IS ausgereist. Ein Drittel ist in etwa wieder zurückgekommen, und schätzungsweise 100 Personen sind in Haft. Es hat vielleicht um die 200 Tote gegeben. Die genaue Zahl der getöteten IS-Kämpfer aus Deutschland wird aber wohl keiner wissen. Es wird noch viele geben, die nicht inhaftiert worden sind und die sich weiter beim IS befinden. Unter diesen Personen wird es sicherlich Menschen geben, die sich in Deutschland in Sicherheit bringen wollen.

Jetzt sollen Hunderte IS-Kämpfer auf freiem Fuß sein.
Es sind vermutlich viele aus kurdischer Haft entkommen. Soweit es sich um Personen handelt, die die deutsche Staatsangehörigkeit haben, besitzen sie grundsätzlich ein Wiedereinreiserecht nach Deutschland. Und auch bei anderen Staatsangehörigen kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie es schaffen, nach Deutschland zu kommen. Diese Personen können für unsere Sicherheit im Land gefährlich sein.

Um was für Personen handelt sich dabei?
Es handelt sich um Männer, aber auch um viele Frauen. Bei Männern muss man davon ausgehen, dass sie auch Kampferfahrung haben oder zumindest Erfahrung darin haben, mit Waffen umzugehen. Diese Personen sind regelmäßig hoch radikalisiert und fanatisch. Das gleiche gilt auch für viele Frauen. Sie sind aus meiner Sicht nicht minder gefährlich als die Männer, aber auf eine andere Art und Weise. Sie erziehen und indoktrinieren ihre Kinder im Sinne des Dschihadismus, und sie animieren ihre Männer dazu, im Sinne des Dschihadismus zu kämpfen und Verbrechen zu begehen.

Warum muss der deutsche Staat solche Leute ins Land lassen?
Wenn es Deutsche sind, sind sie grundsätzlich berechtigt, wieder nach Deutschland einzureisen. Eine andere Frage ist, ob wir diese Einreise insoweit erleichtern, als dass wir aktiv auf sie zugehen und für sie die Wiedereinreise auch noch organisieren. Oder, ob man nicht zumindest bei Doppelstaatlern unterstellen sollte, dass sie in erster Linie in ihre Geburtsstaaten oder Herkunftsstaaten, wie zum Beispiel Tunesien oder Marokko, zurückkehren sollten.

Ist es nicht sinnvoller, eine Wiedereinreise unter Kontrolle der Behörden zu ermöglichen, statt befürchten zu müssen, dass solche Personen unerkannt hier wieder einreisen.
Natürlich kann man nicht ausschließen, dass sie sich auch so auf den Weg nach Deutschland machen. Das ist richtig. Aber es ist für sie auch nicht so einfach, unerkannt einzureisen. Das gilt insbesondere für den Luftweg nach Deutschland. Ob sie sich auf den langen Landweg machen wie viele Asylsuchende, ist eine andere Frage.

Welche Verantwortung trägt die Bundesregierung für dieses Dilemma?
Die Politik hat nach meiner Meinung den Fehler gemacht, dass das Gesetz zur Änderung des Staatsangehörigkeitsgesetzes erst im August in Kraft getreten ist. Nach diesem Gesetz entfällt bei Doppelstaatlern die deutsche Staatsangehörigkeit, wenn sie für eine ausländische Terrororganisation kämpfen. Allerdings gilt das Gesetz nur für die Zukunft und all die Personen, die in den letzten Jahren für den IS gekämpft hatten, fallen nicht darunter. Die SPD hatte diesen Gesetzentwurf über Jahre hinweg mutwillig blockiert. Sie trägt die Verantwortung dafür, dass IS-Kämpfer und ihre fanatischen Frauen wieder nach Deutschland zurückkommen, obwohl sie die deutsche Staatsangehörigkeit schon längst verloren hätten, wenn das Gesetz früher gekommen wäre. Und sie trägt die Verantwortung dafür, wenn von diesen Menschen in Deutschland Straftaten begangen werden.

Ein harter Vorwurf.
Ich hatte schon vor Jahren darauf hingewiesen, dass ein derartiges Gesetz ein Muss ist. Jetzt haben diese Leute immer noch die deutsche Staatsangehörigkeit und ein Recht auf Wiedereinreise. Gleichwohl muss Außenminister Maas diesen Leuten die Einreise nicht noch mit Steuergeldern und deutscher Diplomatie erleichtern. Wenn er es tut, trägt er auch ein Stück weit die Verantwortung, wenn von diesen Menschen eine Gefahr für Deutschland ausgeht.

Was kann der Staat tun, wenn IS-Rückkehrer hier ankommen?
Ich glaube, es ist ein Irrtum, anzunehmen, dass wir in der Lage sein werden, gegen diese Vielzahl von Personen Gerichtsverfahren erfolgreich durchzuführen.

Warum?
Die Beweislage ist nach meiner Einschätzung in vielen Fällen dürftig. Wir wissen nicht, was diese Personen im Einzelnen beim IS gemacht haben. Sie werden im Zweifel nicht einräumen, dass sie an Folterungen beteiligt waren. Einige behaupten, sie seien nur Fahrer, Koch oder Wachmann gewesen. Einer hat gesagt, er hätte nur als Orthopädie-Schuhmacher beim IS gearbeitet. Kein einziger Dschihadist dürfte heute so naiv sein, Selfies auf seinem Smartphone zu haben, in denen er sich mit abgeschlagenen Köpfen seiner Opfer präsentiert. So war das in den ersten Jahren des IS. Das hatte es den Strafverfolgungsbehörden leichter gemacht, einen Haftbefehl zu erwirken. Heute dürfte es deutlich schwerer sein, die Zugehörigkeit zum IS und Morde und Folterungen zu beweisen. Wenn es aber nicht zu Verhaftungen und Verurteilungen in Deutschland kommt, wird die Gefahrenabwehr zu einem guten Teil beim Verfassungsschutz liegen.

Und deshalb muss der Verfassungsschutz übernehmen, sagen Sie.
Der Verfassungsschutz muss sich dann mit diesen gefährlichen Personen beschäftigen, um zu verhindern, dass von ihnen zum Beispiel Anschläge begangen werden. Das ist angesichts der vielen Personen aber eine sehr große Herausforderung. Wir haben schätzungsweise 2.200 Personen, die zum islamistisch-terroristischen Personenpotenzial zählen. Insgesamt ist das eine sehr große Personengruppe.

Ab wann kann der Verfassungsschutz solche Personen beobachten?
Der Verfassungsschutz wird schon bei einer niedrigeren Schwelle tätig als die Polizei. Nämlich schon beim bloßen Extremismusverdacht. Bei Salafisten und Dschihadisten liegt der Verdacht nahe. Als quasi Vorfeldbehörde muss sich der Verfassungsschutz mit diesen Personen beschäftigen. Die Instrumente, die dem Verfassungsschutz zur Verfügung stehen, sind dementsprechend wesentlich geringer als die, die der Polizei zur Verfügung stehen. Er darf zum Beispiel keine Vernehmungen oder Durchsuchungen durchführen. Möglich sind niedrigschwellige Instrumente wie der Einsatz von Observanten oder von V-Personen, sofern diese überhaupt zur Verfügung stehen, und in besonderen Einzelfällen dürfen auch Überwachungsmaßnahmen der Kommunikation durchgeführt werden.

Das heißt, die Vorstellung, der Verfassungsschutz könne diese Personen rund um die Uhr überwachen, trifft nicht zu?
Das ist schlicht nicht möglich. In einem Fall wurden drei mutmaßliche Islamisten über drei Monate rund um die Uhr observiert. Es fielen Observationsstunden in einem Umfang an, wie wenn rund 130 Mitarbeiter einen ganzen Monat nichts anderes gemacht hätten als diese Personen zu observieren. Das ist ein unglaublicher Personalaufwand.

Demokratien sind keine totalitäre Systeme. Müssen wir als solche aushalten, dass wir keine absolute Sicherheit erreichen können mit unseren Mitteln?
Das ist natürlich so. Demokratien müssen immer mit einem gewissen Risiko leben. Es ist nur die Frage, wie groß das Risiko sein darf, und welches Risiko die gesamte Gesellschaft bereit ist, einzugehen. Ich habe den Eindruck, dass die deutsche Gesellschaft nur in geringem Umfang bereit ist, terroristische Anschläge hinzunehmen. Und darauf muss sich die Politik einlassen.

Sie haben die Berichterstattung nach dem rechtsextremistischen Anschlag von Halle verfolgt. Inwiefern kann man das Vorgehen von rechtsextremen Tätern und ihren Strukturen im Netz vergleichen mit denen von islamistisch radikalisierten?
Das ist in Teilen durchaus vergleichbar. Wir hatten in der Vergangenheit wiederholt Fälle erlebt, in denen sich Islamisten über Messenger-Foren, Chatgruppen und im Darknet vernetzten, Informationen austauschten und radikalisierten. Wir hatten den Rizin-Fall von Köln-Chorweiler 2018, bei dem der mutmaßliche Täter sich im Internet über die Zutaten für diesen biologischen Kampfstoff informierte und sich diesen über das Internet nach Hause bestellte. Auch bei den Anschlägen in Würzburg und auf den Breitscheidplatz in Berlin standen die Täter mit anderen Islamisten über den Cyberraum in Kontakt. Wie im Fall des Rechtsterroristen von Halle treten viele dieser islamistischen Attentäter in der realen Welt nicht als so gefährlich in Erscheinung, sondern erst im Cyberraum.

Das heißt, auch der Umgang der Behörden mit diesen Problemen ist vergleichbar?
In allen extremistischen und terroristischen Phänomenbereichen ist das durchaus vergleichbar, dass neben die Realwelt eine Cyberwelt getreten ist, in der Extremisten und Terroristen agieren, die in der Realwelt kaum als solche auffallen. Das heißt, man muss tief in das Netz einsteigen, um diese Personen zu identifizieren und um herauszufinden, was deren Pläne sind.

Warum gewinnt man den Eindruck, dass das erst jetzt erkannt wird?
Nicht erst jetzt. Das tun die Behörden schon seit längerem. Aber es ist insgesamt eine neuere Herausforderung für die Sicherheitsbehörden. Es geht darum, nicht nur auf Demonstrationen oder auf Musikveranstaltungen von Rechtsextremisten oder bei Moscheebesuchen Islamisten oder Salafisten aufzuspüren, sondern auch in der Tiefe der Chat-Foren.

Woran denken Sie, an V-Leute in der digitalen Welt?
Man braucht digitale Patrouillen, die auch wirklich in die Szene reinkommen. Ähnlich wie in einer salafistischen Moschee oder bei einem rechtsextremistischen Musikfestival kommt ja auch nicht jeder rein, schon gar nicht, wenn jemand als Mitarbeiter des Verfassungsschutzes erkannt wird. Das heißt, man muss jemanden in die Szene einschleusen, egal ob das in der realen Welt ist oder einem Chat-Forum.

Warum ist das bislang noch nicht in befriedigendem Ausmaß geschehen?
Das ist ein operatives Problem für die Sicherheitsbehörden, aber in Teilen ist es natürlich auch ein Befugnisproblem.

Was fordern Sie?
Wir brauchen da einiges, aber ich denke, es fängt an mit Ressourcen. Es braucht ein Mehr an Technik und an Personal, um diese Internet-Patrouillen zu haben. Im Bereich Rechtsextremismus hat mein Nachfolger ja einiges gefordert. Aber wir dürfen auch nicht vergessen, bei bestimmten Befugnissen nachzujustieren. Allein ein Personalzuwachs wird nicht ausreichend sein.

Das Interview führte Bastian Brauns.

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