Grünen Parteitag - „Weg vom grünen Verbotskleinklein“

Am morgigen Samstag könnte Robert Habeck zum Parteichef der Grünen gewählt werden. Wie tickt der Hoffnungsträger des Realo-Flügels? In einem Cicero-Gastbeitrag beschrieb Habeck zusammen mit Franziska Brantner, wie seine Partei das Bevormundungs-Image loswerden könnte

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„Statt uns im Kleinen zu verlieren, müssten wir uns auf die großen Themen konzentrieren“ / picture alliance
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Franziska Brantner ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und Vorsitzende des Unterausschusses für zivile Krisenprävention, Konfliktbearbeitung und vernetztes Handeln.

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Robert Habeck ist Bundesvorsitzender der Grünen und war Umweltminister von Schleswig-Holstein.

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Freiheit ist bei den Grünen eine ambivalente Sache: Einerseits streiten wir dafür, dass jede und jeder so sein, leben und lieben kann, wie sie oder er es will. Andererseits wollen wir munter jede Menge Regeln einführen, die nicht nur wildes Wirtschaften regulieren, sondern auch in das Privatleben eingreifen: Werbeverbote, Tempolimits, Alkoholverbote, Düngevorschriften. Im Bundestagswahlkampf setzte sich – sicher auch unter der Missverstehens-Beihilfe unserer geschätzten politischen Mitbewerber – die Erzählung der grünen Bevormundung durch.

Jetzt soll es wieder um grüne Freiheit gehen. Der Bundesvorstand plant einen Freiheitskongress. Und der Bundesparteitag beschloss direkt nach der vergeigten Wahl: „Wir wollen zeigen, dass der Deutsche Bundestag mit der FDP nur eine neoliberale Partei verloren hat, nicht aber eine Kraft für einen verantwortungsvollen Liberalismus. Selbstbestimmung und Liberalität sind bei uns Grünen zu Hause.“

Die Grünen als Partei der Liberalität – die Behauptung schmeckt etwas schal. Sie klingt nach FDP-Erbschleichertum, nach Veggie-Day-Traumatherapie. Vielleicht ist der Liberalismus ja tatsächlich bei „uns“ zu Hause. Aber wir müssen einsehen, dass ein liberaler Zungenschlag kein Beweis ist und noch lange keine Strategie. Die Grünen haben bisher die Frage nicht beantwortet, ob sich bei ihnen etwas ändern soll und wenn ja, was.

Über den Freiheitsdiskurs neu erfinden

Dabei birgt der Freiheitsdiskurs tatsächlich eine große Chance für die Partei, und ein bisschen auch für die Bundesrepublik, sich nochmals neu zu erfinden. Damit könnten wir der Gesellschaft im Merkel-müden Deutschland einen Impuls geben, die Republik wacher, kreativer, freier zu machen. Dazu müssen sich die Grünen die Freiheit nehmen, Freiheit neu zu denken. Erstmal muss die Partei ein Sensorium gegen obligatorische Ismen und gegen Bevormundung entwickeln.

So eine Haltung finden wir in ausgeprägt politischer Form im Werk von Albert Camus. Vielleicht ist es Zufall, dass der 100. Geburtstag des energischen Freiheitsdenkers mit der Suche der Grünen nach Orientierung zusammentraf. Aber Zufall ist der Zwilling der Freiheit, und er kann Camus zum Paten des grünen Freiheitsprojekts machen. Camus hat genau das, was die Grünen jetzt brauchen: Aus einem tief gegründeten Humanismus speisen sich seine Lebensbejahung und Bevormundungsverneinung: Camus badete und sonnte sich für sein Leben gern nackt, Salz, Sonne, Haut, Meer – das hatte existenzielle, „befreiende“ Bedeutung, aber den „Nudismus“ als Freiheit vorschreibende Zwangsjacke hielt er für einen „verqueren Protestantismus des Körpers“. Wertgeleitete Haltung ohne Ideologieklappe, das wäre die grüne Freiheit. Jeanyves Guérin nannte diese Camus’sche Haltung „programmlose Schärfe“ und Joseph Hanimann „radikales Augenmaß“. Genau so sollten die Grünen sein.

In seinem letzten, erst posthum veröffentlichten und großartigen Buch „La postérité du soleil“ schreibt Camus: „Hier lebt ein freier Mensch. Niemand schuldet ihm etwas.“ Mit dieser Umkehrung der alltäglichen Besitzlogik bringt er seine Freiheitsphilosophie auf den Punkt. Das für die Freiheit relevante Kriterium ist nicht, dass ein Subjekt autonom und unabhängig ist, sondern dass es andere nicht in ein Schuldverhältnis gebracht hat. Selbstbestimmung, Unabhängigkeit, Freiheitsrechte für Worte, Taten und Gedanken – die liberale Philosophie der Moderne wird hier auf den Kopf gestellt.

Grüner Liberalismus denkt auch an andere

Die Freiheitsfrage ist traditionell in der Philosophie in ihrer radikalen Zuspitzung immer die Frage nach der Selbstbestimmung bis zum Ende, die Frage der Verfügung auch über den eigenen Tod durch Suizid. Das war auch für Camus die philosophische Schlüsselfrage unter dem Zeichen der Freiheit. An ihr ist eine grundsätzliche Umkehrung des Freiheitsbegriffs – und seines Gegenpols, die Unfreiheit durch Schuld – herauszuarbeiten, die den Grünen weiterhelfen kann. Camus würde nicht fragen: Ist man es jemandem schuldig weiterzuleben? Sondern: Schuldet mir jemand mein Leben? Das unterscheidet sich kategorial von einem oberflächlichen Liberalismus, der jedem nur die freie Entfaltung garantieren will.

Das libertäre Denken der Freiheit macht die Urthemen der Grünen wie Naturschutz, Klimaschutz oder Atomausstieg nachgerade zur Übersetzung dieser Freiheit: Dass unsere Art, zu wirtschaften und zu verbrauchen, den Handlungsspielraum kommender Generationen begrenzt und diesen Freiheiten nimmt, ist ein Gemeinplatz. Von Soja-Importen aus Südamerika bis zu Deutschlands Außenhandelsüberschuss exportieren wir Freiheitsverluste. Ihnen gegenüber steht der Freiheitsanspruch der Selbstverwirklichung: Wirtschaftswachstum, Konsumgesellschaft, Fahren und Reisen, so viel und so weit man will, der Anspruch auf Plastiktüten und Einwegdosen inklusive. Grundrechte, Bewegungsfreiheit, Freiheit, die Berufe auszuüben, die wir wollen, Freiheit zu denken und zu forschen, daran macht sich jedoch ein voller Begriff von Freiheit fest. Ein zu enger Begriff von Freiheit nimmt sie uns gerade. Die vermeintliche Freiheit führt uns dann – Camus weitergedacht – selbst in Schuldverhältnisse und damit de facto in Unfreiheit.

Camus’ Denken kann der programmatisch-philosophische Kern für ein grünes Freiheitsdenken sein, das darauf verzichtet, politische Weltanschauungen zu errichten, sondern dicht bei den Problemen der Gegenwart bleiben soll, Camus hätte wohl gesagt, der Erde.

Verwirklichung in Solidarität

Grüne Freiheit, das wäre nicht nur eine formale oder in die Zukunft versprochene, sondern eine, die sich an der realen und reellen Freiheit für möglichst viele Menschen misst. Sie schließt die Abwehr von sozialer Not und Bedrängnis ein – Freiheit und Gerechtigkeit sind für Camus nur zusammen zu erreichen –, geht aber darüber hinaus. Freiheit heißt, sich in Solidarität verwirklichen zu können. Sie ist eine Offenheit, eine Möglichkeit. „Weiß man, zu was der Mensch alles fähig ist, im Guten wie im Schlechten, weiß man auch, dass es nicht allein der Mensch ist, der beschützt werden muss, sondern die Möglichkeiten, die ihm innewohnen – seine Freiheit.“

Kern grüner Freiheit wäre das Offenhalten eines existenziellen Raumes, durch den der Zugang zur Selbstverwirklichung gewahrt bleibt. Ein neuer grüner Liberalismus heißt, möglichst vielen Menschen in Gegenwart und Zukunft die Ressourcen und Voraussetzungen zu garantieren, sich so zu entfalten, wie es ein selbstbestimmtes, weltoffenes, gerechtes Leben erfordert. In letzter Konsequenz kann dies bedeuten, dass nicht unsere Freiheit als Leitbild das Leben der anderen definiert, sondern das Leben der anderen auf unsere Freiheit wirkt.

Groß denken

Dieser Ansatz ist für die Positionierung einer um ihre Eigenständigkeit ringenden Partei eine gute Nachricht: Sind wir links? Oder bewahrend konservativ? Oder liberal? Aus einer eigenständigen Freiheitsperspektive gesprochen, lautet die Antwort: Wir wollen uns gar nicht in eine politische Weltenlehre einpassen.

Wenn die CDU Wohlstand und Sicherheit für die bewahren will, die beides haben, und die SPD dafür eintritt, dass Wohlstand und Sicherheit für die erreichbar sein sollen, die beides noch nicht haben, dann sollten die Grünen für das eintreten, was über Wohlstand und Sicherheit hinausweist. Das Recht auf eigene Zeit gehört genauso dazu wie die Möglichkeit, über Zeit autonom zu bestimmen. Oder die Aussicht, Zeiten für Fürsorge und Arbeit miteinander vereinbaren zu können. Zeit ist Freiheit. Zu diesem Ansatz passt ein freies Denken, das über kurzfristige Bedürfnisse hinausgeht. Die Höhe der EEG-Umlage kann nicht zur Richtschnur dafür werden, ob Atomkraftwerke länger laufen oder nicht. Der Preis für Rindfleisch an der Discountertheke kann nicht darüber entscheiden, zu welchen Bedingungen wir Tiere halten und töten.

Die grüne Partei steht für das Versprechen, dass das Leben anders sein kann. Wir leben aber eine Politik, die sich nicht mehr traut, große Veränderungen zu adressieren. Statt uns im Kleinen zu verlieren, müssten wir uns auf die großen Themen konzentrieren. Dafür sollten wir keineswegs auf die Mittel des Ordnungsrechts verzichten. Man kann die Welt nicht nur mit Flyern oder Aufklebern verändern. Aber wir sollten uns weniger in Debatten um Heizpilze, Werbeverbote, Helmpflichten auf Fahrrädern oder Radfahren im Wald einlassen, auf Limonaden- oder Motorroller-Verbote. Wir sollten lieber die nächste ökologische Steuerreform vorbereiten, eine Energiewende nach dem EEG entwerfen, eine Landwirtschaft ohne Subventionen aufzeigen, eine Wirtschaftspolitik ohne den Export von Unfreiheit entwickeln, Arbeits-, Steuer- und Sozialrecht so verändern, dass das Recht auf Zeit garantiert wird, und eine Außenpolitik, die das Primat der Freiheit anderen Ländern zugesteht.

Weg mit den Verboten!

Ein grünes Verbotskleinklein darf nicht zur Ersatzhandlung für tatsächliche Veränderung werden. Mit Waffen spielen die meisten Kinder, seit es Pfeil und Bogen gibt. Heute sind es Paintball oder Internet-Shooterspiele. Kulturelles Erschaudern über technischen Fortschritt muss nicht in Verboten enden. Direkte militärische Forschung sollte nicht Aufgabe unserer Universitäten sein, aber etwa die Erforschung besserer Sprach­erkennungstechnik schon, auch auf die Gefahr hin, dass sie militärisch genutzt werden kann. Bubble Tea wegen zu hohen Zuckeranteils zu verbieten, Haschisch aber zu erlauben, kriegt Otto Normalbürger zu Recht nicht logisch übereinander.

Die Grünen könnten auch mal ein paar Verbote abschaffen: Im schleswig-holsteinischen Naturschutzgesetz gibt es ein Betretungsverbot für alle landwirtschaftlichen Flächen. Aber warum soll man Land nicht betreten dürfen, wenn es keinen wirtschaftlichen Schaden auslöst oder Tiere verschreckt? Und Übernachten in Naturschutzgebieten, am Strand, im Wald: Solange man nichts zerstört, was zu schützen ist, spricht nichts dagegen. Natur soll erlebbar sein. Nicht nur um ihrer selbst willen schützen wir Natur, sondern auch um unserer selbst willen.

Aber Freiheit bedeutet eben auch die Verpflichtung, Rücksicht zu nehmen, sich – mit Camus gesagt – „im Zaum zu halten“, im Jargon der Landwirtschaftspolitik: sich auch an „gute fachliche Praxis“ zu halten, oder als Banker: sich vom gierigen Schielen auf die letzte Zinskommastelle zu befreien. Die Frage stellt sich stets: Haben wir Zutrauen in die Gesellschaft, dass sie das hinkriegt? Jede Regel ist ein Beweis unseres Misstrauens.

Von Albert Camus kann man lernen, wo die Scheidelinie verläuft: Es ist noch immer richtig, ja notwendig, die Welt besser zu machen, aber dazu muss man nicht der bessere Mensch sein oder bessere Menschen benötigen. Mit Camus sollten die Grünen wieder gegen die „Stehkragen-Jakobiner“ aufbegehren und alles dafür tun, selbst keine zu werden. Sie sollten mit einer politischen Haltung agieren, die „weder Belehrung noch die bittere Wahrheit der Größe sucht. Stattdessen Sonne, Küsse und erregende Düfte.“

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe 2014 des Cicero.

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