Parteitag der Grünen - Die Weichen stehen auf grün-rot-rot

Mit 98,5 Prozent haben die Grünen Annalena Baerbock beim Parteitag zur Kanzlerkandidatin gekürt. In den Wahlkampf ziehen sie thematisch mit Klimapolitik und dem Ausbau des Sozialstaats auf Kosten der Vermögenden. Mit wem sie das realisieren wollen, ließen sie offen. Aber die Weichen sind gestellt.

Eindeutiges Ergebnis nach Holperstart: Annalena Baerbock wurde mit 98,5 Prozent der Stimmen zur Kanzlerkandidatin gewählt/ dpa
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

So erreichen Sie Hugo Müller-Vogg:

Anzeige

Sollte Annalena Baerbock im Herbst tatsächlich ins Kanzleramt einziehen und dann gefragt werden, wann sie auf die Siegesstraße eingebogen sei, steht eine Antwort schon fest: Ihr Auftritt beim digitalen Parteitag der Grünen an diesem Wochenende war sicher nicht der Wendepunkt. Die Kanzlerkandidatin hielt eine solide Rede, in der sie wichtige Teile des Wahlprogramms herausstellte. Aber eines gelang ihr nicht: Zweifel zu zerstreuen, ob sie als „Völkerrechtlerin“ ohne jede Regierungserfahrung das Zeug hat, Deutschlands Wirtschaft klimaneutral umzubauen und seinen 82 Millionen Einwohnern den versprochenen „klimagerechten Wohlstand“ zu bescheren. Wer das bisher skeptisch sah, dem lieferte Baerbock keine Gegenargumente.

Eines hat sie freilich erreicht: Die Partei tut alles, um vergessen zu machen, dass die erste grüne Kandidatin fürs Kanzleramt zunächst von Panne zu Panne gestolpert ist, nachdem sie ihrem Co-Vorsitzenden Robert Habeck die Spitzenkandidatur weggeschnappt hatte. Der zeigte sich auf dem Parteitag als guter Verlierer, sprach ganz uneitel von den Fehlern, „die wir gemacht“ haben, und schwor die Partei auf „Kameradschaft und Solidarität“ ein.

Habeck, der loyale Verlierer 

Habeck tat sich anfangs schwer damit, dass Baerbock beim Kampf um Platz eins die „Frauenkarte“ gezogen hat. Jetzt zeigte er sich als guter, loyaler Verlierer. Zugleich nutzte er die Chance, zu demonstrieren, wie sich eine staatsmännische Rede von einer parteipolitischen unterscheidet. Seine zentrale Aussage: Der Sinn von Politik sei Freiheit. Und wer das Klima schütze, der schütze auch die Freiheit. Darüber lässt sich sicherlich streiten. Aber dahinter steckte mehr Substanz als in Baerbock‘schen Formulierungen nach dem Muster, „wir müssen Probleme lösen, Menschen schützen, es besser machen.“ Wer könnte das nicht unterschreiben?

Eigentlich war der Parteitag als Krönungsmesse für Baerbock gedacht. Die Delegierten sollten begeistert absegnen, was das Führungsduo untereinander ausgemacht hatte. Doch auf einen Test, ob die Partei Baerbock den Holperstart verziehen hat, wollten es die Wahlkampfstrategen nicht ankommen lassen. Also gab es nur einen einzigen Wahlgang, um sowohl das Spitzenduo Baerbock/Habeck als auch die Kanzlerkandidatur Baerbocks zu bestätigen. Das taten die Vertreter der Basis wunschgemäß mit 98,5 Prozent. Allerdings: Das Ergebnis kam durch das Ja von 678 von 688 Abstimmenden zustande. Mehr als 100 der 800 Delegierten hatten sich erst gar nicht beteiligt. Das war wohl nicht ganz das erhoffte Zeichen von „Kameradschaft und Solidarität“.

Die Sorge der Mittelständler 

Ansonsten lief auf dem Parteitag alles ganz im Sinne der Regie. Es lagen zahlreiche Anträge vor, um das Wahlprogramm „linker“ zu machen. Doch die innerparteiliche Opposition, darunter „Fridays for Future“-Aktivisten und die Grüne Jugend, scheiterten mit ihren wichtigsten Vorstößen: Es blieb bei der Erhöhung des CO2-Preises auf 60 Euro je Tonne statt auf 120. Für Tempolimits von 70 km/h auf Landstraße und 100 km/h auf Autobahnen fand sich ebenfalls keine Mehrheit. Das Aus für den Diesel soll erst 2030 kommen und nicht, wie von der innerparteilichen Opposition gefordert, bereits 2025.

Die zentrale Botschaft des Parteitags: Die Grünen setzen vor allem auf Klimapolitik, wollen aber den Bürgern nicht zu viel zumuten – jedenfalls aus ihrer Sicht. Die Sorgen von Wirtschaftsverbänden und vor allem von Mittelständlern, eine deutliche grüne Handschrift im Programm der nächsten Regierung könne Wachstum und Arbeitsplätze gefährden, dürften dadurch jedoch nicht kleiner geworden sein.

Ausbau des Sozialstaats auf Kosten der Reichen 

Die Parteispitze konnte Forderungen nach einer Erhöhung des Hartz-IV-Satzes um 200 Euro im Monat ebenso abwehren wie nach einem Mindestlohn von 13 Euro, ebenfalls den Ruf nach der Enteignung von Wohnungsbauunternehmen oder einer staatlichen Job-Garantie für Jedermann. Dennoch enthält das grüne Programm vieles, was sich in einer Regierung mit SPD und Linkspartei viel leichter verwirklichen ließe als mit CDU/CSU oder FDP. Dazu zählen ein höherer Spitzensteuersatz bei der Einkommensteuer, die Besteuerung von Vermögen, die Umwandlung von Hartz IV in ein bedingungsloses Grundeinkommen ohne Vermögensprüfung und ohne Sanktionen.

Nach diesem Parteitag wissen die Wähler, was sie von starken Grünen zu erwarten haben: Vorrang für die Klimapolitik bei gleichzeitigem Ausbau des Sozialstaats auf Kosten der „Reichen“. Offen blieb, mit wem die Partei dies durchsetzen will: ob mit der CDU/CSU, mit SPD und FDP oder mit SPD und Linkspartei. Der Titel des Wahlprogramms „Deutschland. Alles ist drin,“ ist nicht nur inhaltlich zu verstehen, sondern auch koalitionspolitisch. Nur dass nicht „drin“ steht, was der Wähler erhoffen kann oder befürchten muss. „Wahlen sind ein Moment von Freiheit“ hatte Habeck zur Eröffnung des Parteitags philosophiert. Die Grünen nehmen sich jedenfalls die Freiheit, Annalena Baerbock gegebenenfalls von der Linken zur Kanzlerin wählen zu lassen. 

Anzeige