Groko - Gemeinschaft zweier Ertrinkender

Was treibt SPD und CDU eigentlich ständig wieder in die Große Koalition? Es sind die progressiven Flügel beider Lager, die CDU und SPD aneinander ketten. Von ihren eigentlichen Wurzeln entfremden sie sich derweil. Von Alexander Grau

Lust auf noch eine Groko? / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Ertrinkende sind gefährlich. Das weiß jeder Rettungsschwimmer. Denn in ihrer Todesangst klammern sie sich panisch an alles, was ihnen in die Nähe kommt und drohen, es mit in die Tiefe zu ziehen. Das erste, was jeder Rettungsschwimmer lernt, sind daher ein paar Befreiungsgriffe, um gegebenenfalls sein eigenes Leben retten zu können.

Wer bei den beiden Großkoalitionären nun Retter und wer zu Rettender ist oder ob sich hier ganz einfach zwei Ertrinkende panisch aneinanderklammern, ist auf den ersten Blick schwer zu sagen. Klar scheint allenfalls zu sein, dass wir es mit zwei Parteien zu tun haben, die nicht voneinander loskommen und akut Gefahr laufen, gemeinsam unterzugehen. Den rettenden Befreiungsgriff aus der gefährlichen Umklammerung wagt keiner der beiden. Entweder weil sie ihn schlicht verlernt haben oder weil sie sich nicht zutrauen, alleine zu schwimmen.

Das ist eine bemerkenswerte Entwicklung. Denn immerhin galt noch die erste große Koalition 1966 als eine Art demokratiegefährdende Notlösung. Doch schon 2005 sah die Sache ganz anders aus. Rückblickend war es das Jahr, in dem die Weichen für das Dilemma gestellt wurden, in dem sich die um ihr Überlebenden ringenden ehemaligen Volksparteien nun befinden.

Auftritt der Progressiven

Erinnern wir uns: Im Mai 2005 veranlasste der damalige SPD-Vorsitzende Franz Müntefering zusammen mit Bundeskanzler Gerhard Schröder nach der verheerenden Wahlniederlage in Nordrhein-Westfalen Neuwahlen für den Herbst desselben Jahres. Merkel – damals noch mit deutlich wirtschaftsliberaler Rhetorik – gelang es jedoch nicht, den erwarteten deutlichen Wahlsieg einzufahren. Der Weg zu der angestrebten schwarz-gelben Koalition war verbaut. Für die SPD ihrerseits kam ein Bündnis mit der neu formierten Partei Die Linke.PDS unter führender Mitwirkung Oskar Lafontaine nicht infrage.

Fixiert auf das für beide Parteien unerfreuliche Wahlergebnis und intellektuell gefangen in der politischen Geographie des 19. und 20. Jahrhunderts übersah man im Willy-Brandt- und im Adenauer-Haus, dass die Welt des 21. Jahrhunderts nicht länger nach einem eindimensionalen Links-Rechts-Schema funktioniert. Ein neuer Akteur war auf der politischen Bühne erschienen: der Progressive. Das erstaunliche an diesem neuen Typus war, dass er sich in beiden politischen Lager fand und diese entsprechend in eine konservative und eine modernistische Fraktion teilte.

Die Ideologien fransen aus

Besonders auffallend war dieses Phänomen zunächst bei der Linken. Diese verstand sich schon immer als progressiv. Doch ab den siebziger Jahren formierte sich allmählich eine akademisch geprägte neue Linke, die vollständig andere Ziele verfolgte als die traditionelle Linke, deren Hauptanliegen in der Verstätigung sozialstaatlicher Errungenschaften für Lohnabhängige im nationalen Rahmen lag. Doch auch die Rechte spaltete sich in eine progressive Fraktion, die die gesellschaftlichen Entwicklungen der Nachkriegszeit grundsätzlich begrüßte, und ein konservatives Lager, das diesen Entwicklungen und ihren Protagonisten in guter alter Tradition kritisch gegenüberstand und ebenfalls auf althergebrachte Solidargemeinschaften setzte.

Diese Ausdifferenzierung der beiden ideologischen Großmilieus führte zu nachhaltigen ideologischen Verwirrungen. Mancher Progressive in der CDU fühlt sich daher seinem Gegenüber in der SPD oder bei den Grünen näher, als dem Traditionskonservativen in der eigenen Partei. Und nicht wenige Neulinke können etwa mit dem Geist traditioneller Sozialdemokratie und der dortigen Mentalität sehr wenig anfangen.

CDU und SPD werden ihren Wurzeln fremd

Kurz: Beide politischen Lager haben aufgrund der sozialen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ein Milieu hervorgebracht, das ihren jeweiligen Wurzeln fremd und mit innerer Distanz gegenübersteht und dessen blockübergreifende Zusammenarbeit den jeweiligen Markenkern bis zur Unkenntlichkeit ausgehöhlt hat. Es ist letztlich dieses hier „progressiv“ genannte ideologische Milieu, das die beiden politischen Blöcke, insbesondere CDU und SPD, aneinander kettet und ihrer weltanschaulichen Grundkoordinaten beraubt. Dass dabei der politische Pluralismus in diesem Land auf der Strecke bleibt, verschärft das Problem noch.
 
Zwei Ertrinkende können sich nicht gegenseitig retten, sondern werden zusammen untergehen. Einer muss den entscheidenden Befreiungsgriff wagen. Doch der wird nicht nur einfach darin bestehen, sich von dem anderen machtpolitisch loszusagen. Vor allem wird es darauf ankommen, die ideologische Kette zu zerschlagen, die beide seit Jahrzehnten enger und enger aneinanderfesselt. Denn nur wer frei schwimmt, wird über Wasser bleiben.
 

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