Grenzöffnung für Flüchtlinge - Die Kanzlerin und das Recht

War die Grenzöffnung von 2015 verfassungswidrig? Die Kanzlerin steht weiterhin zu ihrem Schritt. Probleme könnten ihr jetzt ausgerechnet die Hausjuristen des Bundestages bereiten. Denn diese können keine Rechtsgrundlage für die Entscheidung erkennen

Angela Merkel sagt nicht auf welcher Rechtsgrundlage sie die Entscheidung zur Grenzöffnung getroffen hat / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Klaus-Rüdiger Mai, geboren 1963, Schriftsteller und Historiker, verfasste historische Sachbücher, Biographien und Essays, sowie historische Romane. Sein Spezialgebiet ist die europäische Geschichte.

Foto: Herder

So erreichen Sie Klaus-Rüdiger Mai:

Anzeige

Seit Angela Merkel im Jahr 2015 die Grenzen geöffnet hat und hunderttausende Flüchtlinge in kürzester Zeit nach Deutschland kamen und immer noch viele kommen und kommen werden, reißt die Debatte darüber nicht ab, ob die Bundeskanzlerin das Recht gebogen oder gar gebrochen hat. Die Debatte bekommt eine zusätzliche Relevanz, weil Mitglieder der Bundesregierung wie Aydan Özoguz der Meinung sind, dass wir unser Zusammenleben ständig neu auszuhandeln haben. Recht und Gesetz existieren aber gerade, damit wir unser Zusammenleben eben nicht ständig neu „aushandeln“ müssen. 

In seinem Rechtsgutachten kam der angesehene Verfassungsrechtler Udio di Fabio bereits im Jahr 2016 zu dem Schluss, dass der Bund „aus verfassungsrechtlichen Gründen“ verpflichtet ist, „wirksame Kontrollen der Bundesgrenzen wieder aufzunehmen, wenn das gemeinsame europäische Grenzsicherungs- und Einwanderungssystem vorübergehend oder dauerhaft gestört ist“. Er stellte klar, dass zwar das Grundgesetz jedem Menschen, der sich auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland befindet, eine menschenwürdige Behandlung zusichert, aber das Grundgesetz garantiere nicht den Schutz aller Menschen weltweit durch faktische oder rechtliche Einreiseerlaubnis. „Eine solche unbegrenzte Rechtspflicht besteht auch weder europarechtlich noch völkerrechtlich“, sagt di Fabio.

Keine erkennbare Rechtsgrundlage

Nun bekommt di Fabio Unterstützung durch ein aktuelles Rechtsgutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestages. In ihrer Antwort auf eine Anfrage der Linken zu den rechtlichen Grundlagen der Einreiseverweigerung und Einreisegestattung stellen die Hausjuristen des Deutschen Bundestages die Rechtsgrundlagen dar, auf denen die im Herbst 2015 getroffenen Entscheidungen hätten beruhen müssen. Sie resümieren, dass es nach wie vor „unklar“ ist, ob die Ausnahmetatbestände des Asylgesetzes § 18 Absatz 4 Nr. 2 AsylG „als Grundlage für die Einreisegestattungen ab Ende August/Anfang September 2015 herangezogen wurde(n).“ Die Juristen kommen zu der bemerkenswerten Ansicht, dass die Rechtsgrundlage, nach der die Bundesregierung weitreichende Entscheidungen getroffen hat, nicht erkennbar ist. 

Selbst auf eine parlamentarische Anfrage antwortet die Bundesregierung schwammig und benennt die Rechtsgrundlage „gerade nicht“, wie es in der Ausarbeitung heißt. Obwohl es in der teilweise lückenhaften Gesetzgebung Festlegungen gibt, auf die sich die Bundesregierung durchaus hätte berufen können, vermeidet sie die Festlegung, denn dann müsste sie in die rechtliche Diskussion eintreten. So könnte sie sich auf das sogenannte Selbsteintrittsermessen im Kontext der Flüchtlingskrise berufen, wodurch die Mitgliedsländer die Zuständigkeit für die Durchführung von Asylverfahren an sich ziehen können. Allerdings stößt das Selbsteintrittsermessen der Bundesregierung dort an Grenzen, „wo sie Migrationsbewegungen in einem Ausmaß kanalisierte bzw. potenzierte, das für andere Mitgliederstaaten nicht mehr oder nur unter unverhältnismäßigen Aufwand zu bewältigen wäre“. Danach wäre eine kurzzeitige Grenzöffnung zur Entlastung Ungarns womöglich noch rechtlich vertretbar gewesen, aber nicht die Tatsache, dass die Bundesregierung die Grenzen weiterhin offen ließ und lässt. 

Das Parlament hätte befragt werden müssen

Deshalb kommt – und darin liegt die Brisanz der Studie – der Wissenschaftliche Dienst zu der Auffassung, dass „die pauschale und massenhafte Einreisegestattung nicht mehr vom  § 18 Abs. 4 Nr. 2 AsylG gedeckt sein könnte“. Die Juristen schlussfolgern, dass eine so weitgehende Anordnung „einer gesetzlichen Regelung oder einer parlamentarischen Zustimmung bedarf“. Der Gesetzgeber sei durch die „Wesentlichkeitslehre“, durch das „Demokratie- und Rechtstaatsprinzip“ „in grundlegenden normativen Bereichen“ verpflichtet, „alle wesentlichen Entscheidungen selbst zu treffen“.

Im Klartext: Die Regierung hätte bei der Gestaltung der Einreisegestattung oder Verweigerung, die Entscheidung darüber dem Gesetzgeber, dem Parlament, vorlegen müssen, denn „die pauschale und massenhafte Einreisegestattung gegenüber Asylsuchenden mit so erheblichen Folgen für das Gemeinwesen“ überschreitet die „Wesentlichkeitsschwelle“. Weil der massenhafte Gebrauch der Einreisegestattung die Gesellschaft verändern und zu Integrationsproblemen führen kann, kommt eben dem Parlament die Entscheidung über die Begrenzung des Zuzugs von Ausländer zu. 

Argument der humanitären Verpflichtung

Die Bundesregierung äußert sich nicht konkret dazu, auf welcher Rechtsgrundlage sie die Entscheidungen getroffen hat. Eine Entscheidung, die Deutschland drastisch verändern wird, wie es die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring Eckhart formulierte. Die Regierung hat nicht den Bundestag befragt und auf unklarer Rechtslage eigenmächtig entschieden. Und das in einer Angelegenheit, die gravierende soziale, wirtschaftliche, kulturelle Auswirkungen und einen signifikanten Verlust an innerer Sicherheit zur Folge hat. Sie hat es mit dem Argument der humanitären Verpflichtung begründet, das höchst zweifelhaft ist. Denn sie tat es unter Missachtung der „Grundrechtswesentlichkeit“, der „Langzeitwirkung“, der „gravierenden finanziellen Auswirkungen“ und „Auswirkungen auf das Gemeinwesen“. All die genannten Kriterien machen eine Beteiligung des Parlaments erforderlich. Dass diese Kriterien betroffen sind, belegt eine Äußerung des Bundesfinanzministers Wolfgang Schäubles in einem Interview mit der Mainzer Allgemeinen Zeitung: „Das Flüchtlingsthema wird in den kommenden Jahren noch viel Geld kosten.“ 

Zu all dem hätte das Parlament also auf jeden Fall befragt werden müssen. Vielleicht sogar der Souverän, weil es sich um eine drastische, also grundlegende Veränderung dieses Landes handelt. 

Anzeige