Comeback von Gregor Gysi - „Die Zeit ist reif für Rot-Rot-Grün“

Vor zwei Jahren erklärte ihn das ARD-Politmagazin „Kontraste“ noch zu Deutschlands faulstem Bundestagsabgeordneten. Jetzt kehrt Gregor Gysi als neuer außenpolitischer Sprecher der Linken zurück auf die Bühne der Politik. Aber was hat er eigentlich vor?

Er ist wieder da – dabei war er nie weg: Gregor Gysi / picture alliance
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ein Bundestagsbüro an der Spree. Journalisten geben sich die Klinke in die Hand. Gregor Gysi hat sein Comeback in die Politik angekündigt. Die Meldung ließ aufhorchen, denn Gysi war ja eigentlich nie weg. Er sitzt mit Unterbrechungen seit 1990 für die Linke bzw. ihre Vorgängerpartei PDS im Bundestag, er ist einer ihrer Urväter. Der geborene Oppositionsführer, streitbar, eloquent, ausgebufft. Aber seit er den Fraktionsvorsitz 2015 an Sahra Wagenknecht abgegeben hat, macht er sich rar im Parlament. Jetzt ist er wieder da. Braungebrannt, erholt und gutgelaunt. Interviewer begrüßt mit dem Wuhan-Gruß – Schuhsohle an Schuhsohle. 

Herr Gysi, diese Woche kursierte die Meldung, Sie feierten in der Linken ein Comeback als neuer außenpolitischer Sprecher der Linken. Das war ein Witz, oder?
Na ja, es ist kein Comeback. Ich werde auch nicht wieder Partei- oder Fraktionsvorsitzender werden. 

War es Ihnen als Hinterbänkler zu langweilig geworden?
Mir fehlte eine Aufgabe. Ich habe in dieser Legislaturperiode bisher dreimal im Bundestag gesprochen, jedes Jahr einmal. Es gibt keinen Abgeordneten in meiner Fraktion, der so wenig gesprochen hat. 

Lag das vielleicht daran, dass Sie fast nie da waren? Nach einem Bericht des ARD-Magazins „Kontraste“ von 2018 hatten Sie an 36 von 40 namentlichen Abstimmungen nicht teilgenommen. Das entspricht einer Fehlquote von 90 Prozent.
Ich war fast immer da, fand aber die Abstimmungen nicht so wichtig, bei denen das Ergebnis ohnehin feststand. Ich bin Rechtsanwalt, Autor und Moderator. Ich führe Gespräche im Deutschen Theater und in der Distel und in einem Katholischen Kloster. Aber im Bundestag hatte ich keine Aufgabe. Und als das Angebot kam, Stefan Liebich nachzufolgen, habe ich eben ja gesagt.

Das Magazin hatte Sie zu Deutschlands faulstem Abgeordneten erklärt, noch vor Sigmar Gabriel (SPD). War Ihnen das gar nicht peinlich?
Ich bin nicht faul, im Gegenteil. Wenn ich einen Job habe, mache ich den auch. Aber ich hatte keinen im Bundestag. Ich war trotzdem viel häufiger anwesend als Sigmar Gabriel. Ein Jahr später hat das Magazin noch eine zweite Sendung zu dem Thema gemacht und festgestellt, dass ich an 60 Prozent der Namentlichen Abstimmungen teilgenommen hatte

Die Linke ist die Partei, die am häufigsten im Bundestag fehlt – vor der AfD. Hat es die Partei schwer, sich im Bundestag Gehör zu verschaffen, oder sind den Abgeordneten die Interessen ihrer Wähler egal? 
Falsch, 2019 hat „Kontraste“ festgestellt, dass inzwischen die AfD am meisten fehlt, dann kommt die FDP und dann erst meine Fraktion. Ohnehin sind es nur wenige, die fehlen. Meine Parteifreunde glauben, dass andere Dinge als diese Abstimmungen wichtiger sind. Sie sprechen lieber vor Gewerkschaften, als im Bundestag rumzusitzen. Sie sagen sich: Da erreichen sie mehr. Darüber ärgert sich auch unsere Fraktionsführung. 

Sie meinen die Nachfolgerin von Sahra Wagenknecht. Wie heißt sie nochmal?
Amira Mohamed Ali. Den Namen kann ich mir so gut merken, schon wegen des Boxers. 

Von ihr hat man schon immer wenig gehört – und jetzt in der Coronakrise gar nichts mehr. Man weiß gar nicht mehr, wofür die Linke noch steht. Wissen Sie es noch?
Ja, doch. Die Linke steht für eine ganz andere Friedenspolitik als die, die gegenwärtig betrieben wird. Frau Kramp-Karrenbauer versucht, uns zum Weltpolizisten zu machen. Ich wünschte mir, wir wären mehr Vermittler in Friedensfragen, als unsere Soldaten überall hinzuschicken. Wir sind die Partei für soziale Gerechtigkeit und ökologische Nachhaltigkeit – aber in sozialer Verantwortung. Wir stehen genauso für ein hohes Maß an Freiheitsrechten und Demokratie. 

Das würden die anderen Parteien auch sagen. Was ist Ihr Alleinstellungsmerkmal?
Alle anderen Parteien haben die Auslandseinsätze der Bundeswehr beschlossen, sie waren für die Abtrennung des Kosovo. Wir waren das nie. Auch die Gleichstellung von Ost und West war immer fast nur unser Thema …  

… bis es sich die AfD geschnappt hat – samt Ihrer Wähler. Was hat die Linke falsch gemacht? 
Es gibt im Osten eine Angst vor Flüchtlingen, und die bedienen wir nicht. Die AfD aber besonders. Sie will zurück zur alten Nation. Das ist der eine Punkt. Der andere ist, dass viele Menschen im Osten durch die Wiedervereinigung zu Bürgern zweiter Klasse wurden. Und manche suchen sich dann Bürger dritter Klasse. Sie wollen nicht ganz unten sein. 

Warum versuchen Sie nicht, die zurückzugewinnen?
Nach einer Umfrage können sich nur ein Prozent der AfD-Wähler vorstellen, die Linke zu wählen. Bei der SPD sind es bis zu 20 Prozent und bei den Grünen bis zu 15 Prozent. Das zeigt doch, wo wir aktiv werden müssen. 

Sie träumen von einer rot-rot-grünen Koalition nach der nächsten Bundestagswahl?
Mein Gefühl sagt mir: Im nächsten Jahr ist es Zeit für einen Regierungswechsel. Nur Traum kann man es nicht nennen.

Wenn man sich anschaut, was der rot-rot-grüne Senat in Berlin verzapft, ist das wirklich erstrebenswert?
Die erste Regierungsperiode ab 2001 mit uns in Berlin ist eher schiefgegangen. Wir haben an Stimmen verloren. Aber die heutigen linken Senatoren sind eigenständiger. Sie setzen Themen – ganz egal, ob Ihnen das gefällt oder nicht. Durch die Arbeit von Katrin Lompscher, Elke Breitenbach und Klaus Lederer hat die Linke in der Koalition mehr Gewicht bekommen. Ich denke, bei der nächsten Wahl könnte die Linke in Berlin zulegen. 

Nach den massiven Verlusten bei den Landtagswahlen im Osten kann die Linke froh sein, wenn sie den Wiedereinzug in den Bundestag 2021 überhaupt noch schafft. Deutschland steckt in der schlimmsten Wirtschaftskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Warum sollten die Bürger ausgerechnet jetzt eine Partei wählen, die im Parlament durch Abwesenheit glänzt?
Das stimmt ja so nicht. Die Abgeordneten machen ihren Job schon leidenschaftlich – wenn auch nicht immer einheitlich. In der Krise gewinnen immer die Macher. Aber bis zur Bundestagswahl ist die Krise vorbei. Und dann gibt es nicht nur in Deutschland zwei Alternativen. Entweder, wir werden autoritär – oder es geht nach links und wir werden demokratischer. 

Was macht Sie so zuversichtlich, dass die Bundesregierung an Zustimmung verlieren wird?
Der Zeitgeist ist schnelllebig. Als die Coronakrise losging, waren 95 Prozent der Deutschen für den Lockdown. Jetzt kommen die ersten Lockerungen, jedes Bundesland macht etwas anders. Und die Bürger empfinden das als ungerecht. Sie glauben gar nicht, wie viele Briefe ich kriege. Warum dürfen Friseure öffnen, aber nicht Kosmetiker? Warum nur Läden mit einer Fläche von bis zu 800 Quadratmetern? Solche Regeln verstoßen gegen das Grundgesetz. 

Die Außenpolitik ist kein Feld, auf dem die Opposition punkten kann. Was reizt Sie an ihrem neuen Job?
Ich fand Außenpolitik schon immer spannend. Unser Verhältnis zu Russland ist falsch. Sicherheit und Frieden in Europa gibt es niemals ohne Russland. Wir müssen begreifen, dass wir andere Interessen haben als die USA. Emmanuel Macron will ein besseres Verhältnis zu Russland. Als erstes würde ich gern ein Gespräch im französischen Außenministerium führen, wie sie das erreichen wollen. Frau Merkel traut sich das wohl noch nicht. 

Die Welt sortiert sich gerade neu. Die USA fällt als Schutzmacht aus, China steckt seine Claims ab. Wie sollte sich Deutschland da positionieren?
Deutschland müsste zum Friedensvermittler werden. Wenn wir eine europäische Sicherheitsstruktur anstreben, geht das nur mit Russland …  

... und gegen die USA? Ihr Vorgänger Stefan Liebich sollte aus der Partei ausgeschlossen werden, weil er dem Verein „Atlantikbrücke“ beigetreten ist, der eine Brücke zu den USA schlagen will. 
Das änderte sich aber, als ich als Fraktionsvorsitzender sagte, dass ich ihn darum gebeten hatte. 

Wenn Papa Gysi auf den Tisch haut, sind alle still?
Ich muss doch nicht derselben Meinung wie Friedrich Merz sein, nur weil ich Mitglied in diesem Verein bin. Zuhören und eigene Gedanken zu äußern, ist immer wichtig. Lernen, zu differenzieren, das fällt einigen Linken schwer – aber einigen Konservativen auch. Ich bin da etwas anders gestrickt. 

Sie sind zutiefst harmoniesüchtig, Ihre Partei ist aber innerlich gespalten. Wie wollen Sie die zerstrittenen Flügel miteinander versöhnen?
Ich versuche immer Kompromisse hinzukriegen. Aber wenn das nicht klappt, kann ich auch ganz anders sein. Wenn Sie an meine so genannte Hass-Rede 2012 auf dem Parteitag in Göttingen denken. Auf die bin ich noch heute etwas stolz. Da hatten mich viele überreizt.  

Herr Gysi, Sie haben am Anfang dieses Interviews gesagt, Sie wollten sich nicht als neuer Fraktionschef in Stellung bringen. Nach diesem Gespräch fällt es mir schwer, Ihnen das zu glauben.
Nein, nein, nein. Hören Sie mal, ich bin 72. Ich hatte drei Herzinfarkte, einen Gehirnschlag und eine Operation am Gehirn. 

Und das alles für Ihre Partei?
Eher gegen mich, aber es war auch ein Tribut an die deutsche Einheit. Um mehr Verantwortung für die Linke zu übernehmen, muss ich nicht Fraktionschef sein. Welche Rolle ich dann übernehmen könnte, darüber muss ich noch nachdenken. Ich weiß ja nicht, ob es dazu kommt. Aber wenn es dazu käme, muss auch darauf geachtet werden, dass die Renten und die Ost-West-Angleichung nicht vergessen werden. 

Sie klingen wie ein Papa, der sagt, ich hab mir das letzt lange genug angeguckt. Wenn die Kinder es nicht hinkriegen, mach ich’s eben selbst.
Hören Sie mal. Gerade als Papa habe ich ein Recht auf Ruhestand – und auch als Opa. Mein Leben ist aber so eng mit dieser Partei verbunden, dass ich nicht völlig danebenstehen könnte, wenn sich die Chance einer Regierungsbeteiligung böte. 

Könnte Sahra Wagenknecht die Linke nicht in eine Regierung führen?
Sahra ist wichtig. Sie kann durch ihre Medienauftritte wirken. Das ist ihre Stärke. Und unterschätzen Sie bitte die anderen nicht. 

Der Regisseur Frank Castorf hat mal über Sie gesagt, Sie könnten gar nicht anders als Ihre Partei zu retten.
Na ja, aber jetzt hat mich die Coronakrise zum Rentnerleben gezwungen, und ich habe festgestellt: So schlecht ist es gar nicht. Ich frühstücke jetzt immer draußen, höre Musik und habe mich an die „Göttliche Komödie“ von Dante gewagt und sogar mal wieder ferngesehen. 

Müssen Sie die Partei retten, oder muss die Partei Sie retten?
Zweifellos Letzteres (lacht).

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt

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