Kritik an Jens Spahn - Er speist die Armen ab

Jens Spahn wollte mutmaßlich minderwertige Masken an Arbeitslose und Menschen mit Behinderung verteilen. Der Gesundheitsminister weist die Vorwürfe zurück, die Masken seien angemessen geprüft worden. Doch die Tests sind nicht aussagekräftig. Spahn hat in Kauf genommen, potenziell schlechte Ware an Schutzbedürftige abzudrücken.

„Zusammen gegen Corona“? Damit soll Jens Spahn nicht alle Menschen meinen, lautet der Vorwurf / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Uta Weisse war Online-Redakteurin bei Cicero. Von Schweden aus berichtete sie zuvor als freie Autorin über politische und gesellschaftliche Themen Skandinaviens.

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Es ist ein harter Vorwurf: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) soll vorgehabt haben, minderwertige Schutzmasken an vulnerable Gruppen zu verteilen. Das behauptet das SPD-geführte Arbeitsministerium. Sofort hagelte es Rücktrittsforderungen. „Sollten sich die Vorwürfe gegenüber Jens Spahn und dem Bundesgesundheitsministerium bewahrheiten, ist er in seinem Amt nicht mehr haltbar“, sagte etwa SPD-Chefin Saskia Esken den Zeitungen der Funke-Mediengruppe vom Montag. Grünen-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sei erschüttert gewesen. Gegenüber der Bild am Sonntag sagte sie: „Die Bundesregierung darf keinen Zweifel daran lassen, dass Leben und Gesundheit jedes Menschen gleich viel zählt und nicht aufs Spiel gesetzt wird, um eigene Fehler unter den Teppich zu kehren.“

Sie erwarte umgehend eine Reaktion des Ministers selbst. FDP-Bundestagsfraktionsvize Michael Theurer wiederum sagte gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, es müsse umgehend ein Sonderermittler eingesetzt werden: „Wir haben den Eindruck, bei den jetzt bekannt gewordenen Vorgängen um die Bestellung der Masken handelt es sich nur um die Spitze des Eisbergs.“

Kosten in Milliardenhöhe

Doch ob die Masken wirklich nutzlos oder minderwertig waren, weiß man bis heute nicht genau. Fest steht: Hunderte Millionen Masken hatte das Gesundheitsministerium im Frühjahr 2020 aus China besorgt. Im April vergangenen Jahres warnte die EU vor dem Gebrauch von Masken des Herstellers Yi Cheng, die nach chinesischem Standard geprüft worden waren. Das Produkt sei gefährlich und wurde aus dem Verkehr gezogen. Normalerweise wäre das für Verbraucher in Deutschland kein Problem, denn solche Masken müssen hier CE-zertifiziert sein, was bedeutet, dass die Masken ausreichend auf ihre Filterleistung geprüft sind. Doch weil die Schutzmasken damals dringend gebraucht wurden, verzichtete das Bundesgesundheitsministerium auf die Zertifizierung, und deutsche Behörden ließen ein Schnellverfahren zur Testung zu.

Aber auch das ging dem Gesundheitsministerium offenbar nicht schnell genug. Wie der Spiegel berichtete, wurden die Masken im Wert von einer Milliarde Euro stattdessen beim TÜV Nord geprüft. Dort hätte die Ware schließlich den Test bestanden, allerdings unter Auslassung wesentlicher Prüfschritte: Ein Gebrauchstest, der das Tragen einer Maske für 20 Minuten simuliert. Und ein Hitzetest, bei dem die Masken 24 Stunden lang 70 Grad Celsius ausgesetzt sind. Ohne ausreichende Tests aber war nicht geklärt, ob die Masken ihre Träger vor der Übertragung von Corona-Viren hätten schützen können.

So saß man also auf den Millionen Masken, die nicht in den Verkehr gebracht werden konnten. Deshalb soll das Gesundheitsministerium schließlich versucht haben, diese in Richtung Hartz-IV-Empfänger, Behinderte oder Obdachlose loszuwerden. Das Arbeitsministerium wiederum, das für die Zulassung verantwortlich gewesen ist, gibt nun an, dieses Vorhaben verhindert zu haben. Laut Spiegel soll es Streit zwischen den Staatssekretären von Jens Spahn auf der einen und Hubertus Heil auf der anderen Seite gegeben haben.

Spahn weist die Vorwürfe zurück

Jens Spahn indes weist die Kritik zurück und setzt zum Gegenangriff an. Die SPD habe seiner Meinung nach den Ansatz, gleichzeitig Regierung und Opposition sein zu wollen. Das wirke wie beim Fußball: „Wenn man beim Auswärtsspiel schon nicht gewinnen kann, dann tritt man der heimischen Mannschaft auch noch den Platz zumindest kaputt.“ Egal, wie an den Haaren herbeigezogen die Vorwürfe seien, die SPD nehme in Kauf, die Menschen zu verunsichern. „Das alles sagt mehr über den Zustand der SPD aus, als über die Qualität von Masken.“

 

 

Dass die beim TÜV Nord in Auftrag gegebenen Tests unzureichend waren, weist das Ministerium ebenfalls zurück. Der Hitzetest bei 70 Grad Celsius sei zwar notwendig für den Arbeitsschutz, nicht aber für den Infektionsschutz. Im Pandemiealltag seien solche Temperaturen – außer möglicherweise in einzelnen Bereichen des Arbeitsschutzes – nicht gängig. Der 20-minütige Gebrauchstest, der beim Prüfverfahren auch weggelassen wurde, bleibt unerwähnt.

Ungenaue Prüfung

Sind die Masken also nun wirklich „Schrottmasken“, wie es der Spiegel behauptet und inzwischen wieder zurückgenommen hat? Anruf bei einem, der Klarheit in die unübersichtliche Lage bringen kann: Maximilian Weiß ist Chemieingenieur und Geschäftsführer der Palas GmbH in Karlsruhe, die Geräte zur Messung kleinster Partikel herstellt. Seit Jahren misst sein Unternehmen auch die Durchlässigkeit von Schutzmasken. Über die Masken, die Spahn verteilen wollte, sagt Weiß: „Es liegt in der Natur der Sache, dass eine verkürzte Prüfung nicht die gleiche Qualität hat wie eine umfangreiche. Deswegen ist die Aussagekraft über die Sicherheit dieser Masken geringer.“

Das Verfahren deckt nicht alle Kriterien der bislang geltenden Norm ab, die erfüllt sein müssen, um in Europa eine zertifizierte FFP2-Maske auf den Markt zu bringen. Hinzu kommt, dass es sich im Spahn-Fall um aus China importierte KN95-Masken handelt. Dort gilt eine andere Prüfnorm als in Europa. Das heiße nicht, dass die chinesische Norm schlechter sei als die europäische, sagt Weiß, aber sie sei eben anders. Deswegen sind Masken aus China eigentlich nicht für den europäischen Markt zugelassen. In der Notsituation hat sich die Regierung für eine Ausnahme entschieden, damit überhaupt Masken vorhanden sind.

 „Es gibt ganz hervorragende Masken mit einer Durchlässigkeit von weniger als einem Prozent“, sagt Weiß. „Es gibt aber auch Masken mit 60 bis 70 Prozent Durchlässigkeit. Genau das ist das Problem: dass es diese Bandbreite gibt.“ Es gebe gute und weniger gute Produzenten, welche mit Qualitätskontrolle und welche ohne. Auch kann es bei einem Produzenten Schwankungen in der Produktion geben, weshalb er gute und schlechte Ware haben kann. Deswegen müssen die importierten Masken in Europa überprüft werden.

Die Norm ist das Problem

Maximilian Weiß vor dem Palas Atem-Masken-Prüfstand
PMFT 1000 / Palas GmbH

Noch schwerwiegender: Die europäische Schutzmaske EN149 ist selbst ein Problem, sagt Weiß. Sie wurde für Halbmasken mit einem Gummiband eingeführt, die beispielsweise als Staubschutz von Bauarbeitern genutzt werden. Für sie gilt eine andere Norm als jene, die für professionelle Atemschutzmasken mit Vollschutz gilt, die zum Beispiel Feuerwehrleute nutzen. Als die EN149-Norm eingeführt wurde, habe wohl niemand damit gerechnet, dass die Halbmasken mal zum Schutz im Zuge einer Pandemie genutzt werden, vermutet Weiß. Die Masken halten zwar Tröpfchen zurück, wodurch andere Menschen geschützt werden. Aber ob oder inwiefern der Maskenträger selbst vor Viren geschützt wird, sei unklar. Denn die Norm deckt nur einen groben Wert zur Rückhaltefähigkeit ab, eben weil sie ursächlich vor allem zum Schutz vor Großstaub konzipiert wurde. Ausgeatmete Aerosolpartikel mit Corona-Viren etwa sind aber um ein Vielfaches kleiner (um die 150 Nanometer) und somit wesentlich kleiner als Bakterien. Im Gegensatz zu großen Partikeln bleiben diese bei nicht ausreichender Qualität nicht im Vlies hängen, sondern können durchdringen.

Bereits im Mai 2020 schickte Weiß deswegen einen Brief über „die mangelnde Aussagekraft der EN149-Zertifizierung von Schutzmasken bei Covid-19“ an Minister aus allen 16 Bundesländern. „Mit der Gesundheit der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Kliniken wird fahrlässig umgegangen. Dass das Klinikpersonal immer noch regelmäßig an Covid-19 erkrankt, obwohl Schutzausrüstung zur Verfügung gestellt wird, verwundert mich leider ganz und gar nicht“, schreibt er darin, denn: „Der Standard ist für den aktuellen Fall schlicht nicht repräsentativ und für Grobstaub ausgelegt.“ Seiner Bitte um eine Kontaktaufnahme und darum, sich die Prüfgeräte seines Unternehmens vorstellen zu lassen, damit sichergestellt werden könne, dass die qualitativ hochwertigsten Masken beim Klinikpersonal eingesetzt werden, kam niemand nach. Er habe nur vier Antworten bekommen, und die seien allgemein und unverbindlich formuliert gewesen, sagt Weiß. „Das wurde offenbar nicht ernstgenommen.“

Spahns Zynismus

Das bedeutet: Selbst die FFP2-Masken, die im Umlauf sind, sind generell nicht aussagekräftig bezüglich des Schutzes vor Viren geprüft worden. In der damaligen Situation sei die verkürzte Prüfung richtig gewesen, betont Maximilian Weiß. Aber jetzt sollte eine ordentliche Prüfung durchgeführt und die guten von den schlechten Masken getrennt werden. Er plädiert dafür, die Prüfung nun in der Notreserve des Bundes durchzuführen. Genug Zeit sei dafür da, anders als noch vor einem Jahr.

Für den Fall um Jens Spahns Plan, KN95-Masken an vulnerable Gruppen zu verteilen, bedeutet das folglich, dass die Masken nicht zwangsläufig „Schrottmasken“ sein müssen. Aber auch nicht zwangsläufig von ausreichender Qualität, eben weil diese nicht angemessen geprüft wurden. Kritik an Spahn ist berechtigt. Dem Gesundheitsminister ist vorzuwerfen, dies nicht transparent gemacht zu haben. Und selbst wenn aus einer Prüfung hervorginge, dass alle Masken von guter Qualität sind, bleibt sein Vorhaben, potenziell schlechte Ware ohne CE-Zertifizierung an Schutzbedürftige zu verteilen, sozial fragwürdig. Das Argument „besser als nichts“ oder „besser als weggeschmissen“ greift nicht, weil in einer Gesellschaft, die auf universeller Gleichwertigkeit beharrt, nicht ohne Zynismus erklärbar ist, warum dieses Motto ausgerechnet und nur für vulnerable Gruppen gelten soll.

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