Gefährlicher Trend zur Briefwahl - Kein Gewinn für die Demokratie

Gerade in Zeiten von Corona wird immer häufiger per Briefwahl abgestimmt. Doch dieser Trend ist verfassungsrechtlich hoch problematisch. Und das liegt nicht an der Anfälligkeit für Manipulationen. Sondern am Kenntnisstand der Wähler zu einem bestimmten Termin.

Tausende Formulare für die Briefwahl in den USA liegen in Umschlägen in einem Kasten / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Nur mal gesetzt den Fall, die Vorwürfe der New York Post gegen Joe Biden würden sich bewahrheiten und der demokratische Präsidentschaftskandidat wäre tatsächlich in irgendwelche unsauberen Geschäfte mit der Ukraine involviert: Hätte das wohl Auswirkungen auf den Wahlausgang am 3. November? Ein anderes Beispiel: Sollten sich innerhalb der nächsten zwei Wochen Hinweise verdichten, dass Donald Trump versteckte Wahlkampfhilfe aus Russland oder vielleicht auch von Saudi-Arabien erhalten hat: Könnte ihn das seine Wiederwahl kosten? Wie gesagt, diese zwei Szenarien müssen gar nicht der Realität entsprechen, um eines deutlich zu machen: Unvorhergesehene Ereignisse können die Ergebnisse von Wahlen entscheidend beeinflussen. So weit, so normal.

Zu früh gewählt

Die Frage ist nur: Was passiert dann eigentlich mit den Stimmen, die bereits vor einer „gamechanging news“ abgegeben wurden? Was wäre mit einem Brief-Wähler, der etwa im Vertrauen auf Bidens weiße Weste diesem seine Stimme gegeben hat, bevor neue Erkenntnisse vom Gegenteil zeugen? Die Antwort: Pech gehabt, gewählt ist gewählt – das per Briefwahl abgegebene Votum lässt sich eben nicht zurückholen. Selbst dann nicht, wenn man aus sehr guten Gründen sein Kreuzchen lieber an anderer Stelle machen würde. Aber kann da eigentlich noch von einer „Gleichheit der Wahl“ die Rede sein, wenn Teile der Wahlbevölkerung einen Wissens- und Erkenntnisvorsprung gegenüber jenen haben, die ihren Stimmzettel „zu früh“ ins Couvert gesteckt und abgeschickt haben?

Diese Problematik ist gerade in Corona-Zeiten weitaus größer, als man annehmen könnte, denn die Pandemie hat zur Folge, dass viele Bürger nicht mehr an einem bestimmten Wahltag ihr Wahllokal aufsuchen, sondern teilweise schon mehrere Wochen vorher ihre Stimme per Briefwahl abgeben (müssen). Zwar gibt es auch aus anderen Gründen Vorbehalte gegen die Briefwahl, etwa ihre Anfälligkeit für Manipulationen oder eine unzuverlässige Post. Aber die Stichtagsproblematik ist bei einer brieflichen Abstimmung eben systemimmanent. 

Keine Begründung mehr nötig

Und in Deutschland, wie fast überall, steigt der Anteil der Briefwähler auch ohne Corona kontinuierlich an: 1957, als das zum ersten Mal möglich war, stimmten 4,9 Prozent der Wähler per Brief ab, bei der vergangenen Bundeswahl 2017 lag dieser Anteil bei 28,6 Prozent. Seit dem Jahr 2008 ist auch keine Begründung mehr nötig, um in Deutschland an der Briefwahl teilzunehmen; zuvor musste noch ein Grund für die Verhinderung am eigentlichen Wahltag genannt werden (was aber faktisch nicht überprüft werden konnte). Das Bundesverfassungsgericht hat diese „Freigabe“ der Briefwahl in einer Entscheidung aus dem Jahr 2013 bestätigt: Es handele sich um eine nachvollziehbare Reaktion des Gesetzgebers „auf die zunehmende Mobilität in der heutigen Gesellschaft und eine verstärkte Hinwendung zu individueller Lebensgestaltung“, so die Karlsruher Richter. Die Grundsätze der freien und geheimen Wahl würden durch die Briefwahl nicht verletzt.

Das kann mit guten Gründen bezweifelt werden. So machte bereits kurz nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Staatsrechtler Alexander Thiele darauf aufmerksam, dass Karlsruhe ein „wesentliches Erfordernis für eine demokratische Mehrheitsentscheidung“ unerwähnt ließ. Und zwar die Gleichzeitigkeit der Abstimmung – laut Thiele „ein Gebot, das unmittelbar im Demokratieprinzip wurzelt“. Meinungen und Ansichten seien einem ständigen Wandel unterworfen und würden nicht zuletzt vom jeweiligen Kenntnis- und Diskussionsstand abhängen, so Thieles nachvollziehbare Argumentation. „Erstreckt sich die Mehrheitsentscheidung aber über einen längeren Zeitraum, wie dies bei der Briefwahl der Fall ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass sich einige Briefwähler am eigentlichen Tag der Wahl vielleicht anders entschieden hätten“, schreibt Thiele. Der Wahlausgang könne mithin verfälscht sein, weil er die wirklichen Mehrheitsverhältnisse nicht (mehr) zutreffend wiederspiegele.

Steinbrücks „Stinkefinger“

Das sind alles keine abstrakten Gedankenspielereien, sondern lässt sich mit konkreten Beispielen unterfüttern: 2013 etwa sorgte der damalige SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück mit seinem berühmten „Stinkefinger“ kurz vor dem Wahltag für einen kleinen Skandal; auch die Pädophilendebatte bei den Grünen nahm erst Fahrt auf, als viele Bürger ihre Stimme schon bei der Briefwahl vergeben hatten. Solche Ereignisse mögen noch belanglos erscheinen, „was aber, wenn sich ,Fukushima‘ nur wenige Tage vor dieser Wahl ereignet hätte?“, fragt Thiele. Die Briefwahl mag zwar bequem sein, verfassungsrechtlich ist sie zumindest hochproblematisch – und sollte deswegen eine begründungspflichtige Ausnahme bleiben, anstatt zu einem Gewinn für die Demokratie hochgejubelt zu werden.

Wozu TV-Duelle?

Gerade mit Blick auf den aktuellen Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten stellt sich ja auch die Frage: Wie sinnvoll ist es, womöglich wahlentscheidende TV-Duelle zwischen Donald Trump und Joe Biden ausfechten zu lassen, wenn doch ein erheblicher Teil der Amerikaner ohnehin schon per Briefwahl abgestimmt hat? Oder noch viel dringlicher: Wie viel ist eine bereits zugunsten Bidens abgegebene Stimme eigentlich noch wert, wenn sich die geistigen Aussetzer des Präsidentschaftskandidaten während der nächsten Wochen in erschreckender Weise häufen sollten? 

In den fünf Bundesstaaten Washington, Hawaii, Oregon, Utah und Colorado ist inzwischen übrigens nur noch die Briefwahl möglich, Wahllokale sind abgeschafft – teilweise mit dem Ergebnis höherer Wahlbeteiligung. Deutschland sollte sich trotzdem kein Beispiel daran nehmen.

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