Die Freiheits-Dealerin - Merkelland, glückliches Land

Die Bundeskanzlerin spricht von Freiheit, als wäre es etwas, was sie den Bürgern gewähren dürfte. Ist Angela Merkel nach all den Jahren doch nur eine Kopfdemokratin?

Ein bisschen Freiheit hier; ein bisschen Lockdown da. Merkel betrachtet Freiheiten als verteilbares Gut / dpa
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Angela Merkel sprach: „Es wird keine neuen Freiheiten geben.“ War das bemerkenswert? Den Journalisten fiel dazu kaum etwas ein. Also fiel auch den Bürgern dazu nichts ein. Als wäre dieser Satz nie gesagt worden. 
Wo ist das Problem? 

Eine Bundeskanzlerin, eine mächtige Frau, nach Meinung internationaler Medien gar die mächtigste Frau Europas, wenn nicht der Welt, gewährt Freiheiten – weniger oder mehr, „neue“ oder eben „keine neuen“. 
Angela Merkel meinte Lockerungen des Lockdowns. Weshalb wählte sie dafür das Wort „Freiheiten“? 

Regierung eigentlich nur Treuhänder der Freiheit

In der Tat beschränkt der Lockdown die Freiheit der Menschen: der Bürgerinnen und Bürger, denen diese Freiheit gehört, die ebendiese Freiheit ihren Volksvertretern überantworten, welche wiederum im Besitz dieser Freiheit treuhänderisch die Regierung wählen, die schließlich in dem Bewusstsein regiert, dass sie all ihr Tun und Lassen vor den Wählerinnen und Wählern – den Eigentümern der Freiheit – zu rechtfertigen hat. 

Sieht die Kanzlerin diese Hierarchie der demokratisch gefassten und verfassten Freiheiten genau so? Ihre Sprache klingt nicht danach. Jedenfalls nicht in den Ohren sensibler Demokraten. 

Was bedeutet beispielsweise das Pronomen „es“ in Merkels Satz? Es bedeutet: Ich lasse keine neuen Freiheiten zu. Was bedeutet „neue“ Freiheiten? Es bedeutet: Ich bestimme, welche Freiheiten allenfalls zulässig sind und welche nicht. Was bedeutet „Freiheiten“? Es bedeutet: Ich verstehe Freiheit als eine Sache, die in Portionen gewährt werden kann. 

Merkels Selbstverständnis

Der Satz ist fürchterlich – und furchterregend. Denn er ist kein Versprecher. Er manifestiert das Selbstverständnis der Bundeskanzlerin. Er ist ihr herausgerutscht – weil er in ihr steckte. Es gibt dazu einen Vorläufersatz aus dem Jahr 2015, nachdem sie die Grenzen für mehr als eine Million Migranten geöffnet hatte. Damals waren es nur drei Wörter: „Wir schaffen das.“ Auch die warfen Fragen auf: Wer ist „wir“? Was genau bedeutet „das“? Was ist da zu „schaffen“? 

Angela Merkel fand an diesem Satz nichts zu erklären. Es war ihr abschließendes Diktum zum folgenschweren Kontrollverlust über die Migration: „Angela locuta, causa finita“ – die Kanzlerin hat gesprochen, die Sache ist erledigt. 
Ganz so ist auch der Satz zu verstehen: „Es wird keine neuen Freiheiten geben.“ Der Satz einer Mater familias, einer mütterlichen Kanzlerin – einer Matriarchin.

Bedenklich?

Ist das bedenklich in einer Gesellschaft, der fast überall noch das Patriarchat in den Knochen steckt: in der Wirtschaft, in der Kultur, in der Wissenschaft, in der Verwaltung, im Sport? 
Bedenklich ist nicht Angela Merkels autoritäre Grundierung. Die hat sie in ihren jungen Jahren mitbekommen: den Moralismus im Pfarrhaus der Familie und die Machttechnik in der Diktatur. Die Kopfdemokratin von heute ist das Produkt ihres in der Bundesrepublik nachgeholten Studienfachs Freiheit. 

Bedenklich ist die öffentliche Hinnahme dieser demokratischen Defizite, vorab die Hinnahme von Angela Merkels Unlust am politischen Streit, jener Ursubstanz der Demokratie – die sie mit verächtlicher Geste als „Diskussionsorgie“ bezeichnete. 
So ist es nun mal um die Gemütslage der Regierungschefin bestellt: Wahlen sind die Pflicht der Demokratie, alles Weitere lediglich Kür. Wer zwischen den Urnengängen auf Kritik und Debatte besteht, wer widerspricht, wer den Widerspruch gar mit Leidenschaft pflegt: der ist nichts als ein Quengler – ein Störer. 

Eine brillante Frau

Das hat nichts mit intellektuellem Unvermögen einer Physikerin zu tun, die sich vor allem mit den exakten Wissenschaften vertraut fühlt. Die Kanzlerin ist eine brillante, oft witzige, gern auch polemische Rhetorikerin – wenn es um ihre Macht geht. 
Geht es jedoch um das Erklären ihrer Politik, fallen ihr meist nur noch drei oder sechs Wörter ein. Geht es gar ums Erklären ihrer Person, genügt ihr das Sätzchen: „Sie kennen mich“ – darin erschöpfte sich ihre Selbstempfehlung für die vorletzten Wahlen. 

Ist es Bescheidenheit, was da so karg zum Ausdruck kommt? Es wird gern behauptet, die Frau im Kanzleramt kontrastiere überaus angenehm mit dem großspurigen Gehabe so mancher alter weißer Männer und sei deshalb ein Segen für die seit je testosterongesteuerte Politik, man denke nur an Helmut Schmidt oder Helmut Kohl oder Gerhard Schröder! 
Angela Merkel neben Donald Trump – vier Jahre lang war das ein Werbespot für die bescheidene Machtfrau aus Deutschland.
Merkel-Land, glückliches Land!

So huldigt man ihr noch immer. Im Spiegel war dieser Tage zu lesen: „Jede Kritik an ihr wird vom gesättigten Teil der Gesellschaft als unschicklich empfunden.“ Fein bemerkt – und das von einem Blatt, das seit Jahren zu den Sattesten der Gesättigten gehört. 
Wer ist es, der Merkel huldigt? Allen voran die Medien. Die gebührenfinanzierten und damit staatsnahen besonders eilfertig, das öffentlich-rechtliche Deutschlandradio geradezu als Erziehungsanstalt für unwillige Bürger, die der Sender – beispielsweise in einem Bericht zu Corona-Maßnahmen – in strengem Ton zurechtwies: Lösungen seien jetzt angebrachter als Schuldzuweisungen. 

Merkels Pressesprecher im Jounalismus

Da hat eine Claque aus Journalisten, Politikern und Experten zusammengefunden, die dem Gestus der Herrschaftswissenden frönt – nichts sagen, um zu sagen: Wir wissen alles. Matriarchin Merkel trägt den Meistergürtel in dieser Disziplin. 
Vor allem Journalisten, historisch doch Handwerker der Aufklärung, gefallen sich in der Rolle der „Adabeis“. Wer dieser Gefahr ausweichen will, muss Bild lesen, Welt, oder die Neue Zürcher Zeitung. Da wird beim Schreiben noch frei geatmet.
Die Spätfolgen des Meinungsmiefs beschreibt WeltN24-Chef Ulf Poschardt so: „Die Politik regiert durch, und das Bild des unmündigen Bürgers, dessen Kontur deutlicher zu erkennen ist, wirft einen Schatten auf das politische Fundament unserer Demokratie.“

Wo streitbare Rede und Gegenrede fehlen, da wirken Worte und Wörtchen als Stoppschilder. Zum Beispiel der Begriff „rechts“: Wer als rechts verdächtigt wird, wer auch nur Applaus von rechts erhält, wird von der Meinungskongregation gerügt, wenn nicht mit dem Bann belegt

Die sachlich zutreffende Qualifizierung wäre allerdings nicht „rechts“, sondern „rechtsextrem“. Doch auch der Begriff „extrem“ ist nicht genehm. Gebräuchlich ist „rechtsradikal“. 

Saubere Sprache

Der Hintersinn wird zum sprachlichen Reflex: Mit Wörtern wird diffamiert und gesäubert, und zwar die Meinungslandschaft von rechts bis radikal – beides demokratisch ehrenhafte Orientierungen, die eine für konservativ-bürgerliche Zeitgenossen, die andere für klassisch-liberale.
In der Schweiz steht der Freisinn, die Staatsgründungspartei, traditionell rechts und nennt sich im französischen Landesteil „Les Liberaux-Radicaux“, im italienischsprachigen Tessin „Liberali e Radicali“. 
Ja, es ist der deutschen Meinungskirche gelungen, die demokratische Sprache zu dogmatisieren: Links geht immer, rechts ist des Teufels. 

Sind diese Mühen mit der freien Rede typisch deutsch? WeltN24-Chef Poschardt, der Libertär-­Freisinnige des Berliner Journalismus, beantwortet die Frage so: „Die Deutschen gehören zu den großen Denkern der Freiheit (Kant, Hegel, Nietzsche, Eucken), Praktiker oder Pragmatiker der Freiheit wurden sie erst im zweiten Bildungsweg durch die Reeducation der Alliierten. Die ‚Versuchungen der Unfreiheit‘ (Dahrendorf) bleiben groß.“ 

Könnte es sein, dass dieser zweite Bildungsweg für Angela Merkel noch nicht abgeschlossen ist?
 

Dieser Text stammt aus der März-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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