Freie Demokraten - In der Zwickmühle

Mit erwartbar gutem Ergebnis im Herbst könnte für die FDP ein Dilemma zurückkehren. Soll sie zugreifen, wenn eine Ampel unter Baerbock die einzige Alternative zu Schwarz-Grün ist? Oder könnte sie es sich leisten, dem Land eine Kenia-Koalition aufzuzwingen? Noch legt sich die Partei nicht fest.

Christian Lindner, Spitzenkandidat, Fraktionsvorsitzender und Parteivorsitzender der FDP Foto: Felix Schröder/dpa
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Glaubwürdigkeit gilt zu Recht als hohes Gut im politischen Geschäft. Und da inzwischen Wahlentscheidungen immer kurzfristiger und spontaner getroffen werden, das Stammwählertum im Aussterben begriffen ist und Persönlichkeiten das Label Partei überstrahlen, hat diese Art von Authentizität noch mehr Gewicht als früher.

Die Erfolge und Fehlschläge des bisherigen Wahlkampfes kreisen nicht zufällig um die Frage der Glaubwürdigkeit: Armin Laschet dürfte auch deshalb über Markus Söder triumphiert haben, weil er sich nicht eigens für die Bundestagswahl neu erfinden und teilweise um 180 Grad drehen musste. Laschet mag nicht immer begeistern, aber man weiß, um wen es sich handelt. Auch der demoskopische Ikarusflug der Grünen-Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock hängt mit eher banalen Übertreibungen im Lebenslauf zusammen – die aber den Glauben an die Geschichte von der Politikerin, die so ganz anders ist, nachhaltig erschüttert haben.

Das Läuten des Totenglöckchens

Den Freien Demokraten, die nun ihrerseits Umfragehöhenflüge erleben, ist es gelungen, mit einer vor vier Jahren getätigten Risikoinvestition in ihre Glaubwürdigkeit jetzt reichen Zins einzufahren. Als Christian Lindner für seine Partei am 19. November 2017 für die allermeisten Beobachter völlig überraschend verkündete, es sei „besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, und damit dem Eintritt in eine schwarz-grün-gelbe Koalition eine Absage erteilte, war das Echo verheerend. Das Jamaika-Aus, welches zum Wort des Jahres 2017 avancierte, wurde hart kritisiert, der gerade in das Parlament zurückgekehrten FDP endgültig das Totenglöckchen geläutet.

Eine regelrechte Wut über das Scheitern der Koalition brach sich Bahn, auch Jahre später wird den Liberalen die Entscheidung noch tagtäglich grollend vorgehalten. Christian Lindner selbst gab sich zwischenzeitlich zerknirscht, obgleich er die Entscheidung niemals als falsch bezeichnet hat. Nun aber zeigt sich: Zornig waren wohl eher die Anhänger von Schwarz-Grün als potenzielle Parteigänger der FDP. Denn die Liberalen sind nicht in der prophezeiten Versenkung verschwunden, sondern können auf ein beachtliches Ergebnis hoffen – Stand heute sogar auf einen Rekord, nämlich erstmalig ein zweistelliges Ergebnis bei zwei Bundestagwahlen hintereinander.

Streit, Wahlgeschenke, Postenschacher

Damit aber ist das Kalkül von 2017 bestätigt: Die FDP wird nicht als Stützrad irgendeines Kanzlers oder irgendeiner Koalition gewählt, sondern nur, wenn sie glaubwürdig versprechen kann, liberale Politik umzusetzen. Wegen des Fehlens dieser Glaubwürdigkeit ist die Partei schließlich 2013 aus dem Parlament gefallen: Obwohl zuvor mit einem Rekordergebnis ausgestattet, ist es ihr nicht gelungen, CDU und CSU und deren Kanzlerin Angela Merkel ordoliberale Regierungsergebnisse abzutrotzen. In Erinnerung blieben stattdessen Streit, Wahlgeschenke und Postenschacher. Diese Konstellation nicht in einer Jamaika-Koalition zu wiederholen, die für Grüne und Union zu jener Zeit einen Aufbruch, für die Liberalen aber den Katzentisch bedeutet hätte, hat sich im Nachhinein als klug erwiesen.

Aber nicht nur die aufgebaute Glaubwürdigkeit, sondern auch die immer stärkere Rolle des Staates in der bundesrepublikanischen Gesellschaft spielen der FDP derzeit in die Hände. Die Staatsgläubigkeit nimmt inzwischen beträchtliche Ausmaße an. Die Tendenz ist seit Jahren da, in der Coronakrise aber ist der Staat ein absolut dominanter Akteur geworden. Im Zuge der auf alle anderen Politikfelder ausstrahlenden Klimapolitik wird sich das verstetigen. Aufgrund des großen Staatsvertrauens in Deutschland ist dieser Kurs durchaus mehrheitsfähig. Liberale und libertäre Traditionen gibt es zwar, aber verglichen mit der angelsächsischen Welt nur sehr schwach ausgeprägt.

Grünes Establishment

Allerdings hat jene Minderheit, die die Präsenz und die Interventionen des Staates in fast allen Lebensbereichen mit Unbehagen sieht, in den anderen Parteien fast gar keine Vertretung mehr. Egal, mit welcher Schärfe Diskurse zwischen den Bundestagsparteien geführt werden: Einig sind sie sich alle, dass überall der Staat als Akteur eingreifen muss. Für die linken und die Mitte-Links-Parteien gilt das sowieso.

Auch die Grünen haben sich von den einst prägenden Ideen der Graswurzelbewegung und der Selbsthilfe mit dem Aufrücken ins bundesrepublikanische Establishment immer weiter entfernt. Konnte Winfried Kretschmann „Mitglieder und Wählerschaft“ der Partei 1995 noch als „weltanschaulich, von ihrem Status und ihren politischen Grundauffassungen wie von ihrem moralischen Impetus her“ als „Adressaten eines liberalen Kommunitarismus“ beschreiben, ist heute politisch eher der Dreiklang von Subvention, Verbot und Ausstieg das Mittel der Wahl.

Neuauflage der Konstellation von 2009

Dass Kretschmann mittlerweile öffentlich von der Befugnis zu Maßnahmen träumt, „die nicht verhältnismäßig gegenüber den Bürgern sind“, passt da perfekt ins Bild. Das klingt dann weniger nach der von ihm verehrten großen Liberalen Hannah Arendt, sondern eher autoritär. Und auch in der Union geben sich Laschet und Söder zwar gesellschaftsliberaler, als es vor zehn Jahren jemals jemand von einem Spitzenpolitiker der Union erwartet hätte, setzen ansonsten aber ganz auf Interventionismus und Dirigismus.

In diesem Umfeld hat die FDP beste Aussichten, bei der Entscheidung, wer das Kanzleramt übernimmt, das entscheidende Wort mitzureden. Denn in gewisser Weise gibt es eine Neuauflage der Konstellation von 2009: Damals erzielte die FDP ein Rekordergebnis, weil sich die beiden großen Parteien ganz dem Etatismus verschrieben hatten. Die Weltfinanzkrise ließ seinerzeit alle liberalen Schwüre der Volksparteien Makulatur werden. Diesmal heißt der Treibsatz Corona, dazu kommt das Ziel einer ökologischen Transformation und der globale Trend zur staatlichen Intervention in die Geld- und Wirtschaftspolitik.

Die großen Parteien setzen auf den Staat

Auch die beiden großen Parteien setzen heute wieder auf eine außerordentlich weitreichende Rolle des Staates und präsentieren sich eher als potenzielle Koalitionäre denn als Gegenpole. Dass die SPD in diesem Duo durch die Grünen ersetzt worden ist, ändert an dem Befund nichts. Beste Voraussetzungen also für die Freidemokraten, jene Wählerschichten zu erreichen, die die Sorge um eine Überdehnung staatlicher Ressourcen, die Gefahr einer Überregulierung des Alltags und eine Beschneidung bürgerlicher Freiheiten umtreibt, die aber zugleich von radikalen Tönen abgeschreckt sind.

Mit dem erwartbar guten Ergebnis könnte aber für die Partei ein altes Dilemma zurückkehren. Soll sie zugreifen, wenn eine Ampel unter einer Kanzlerin Baerbock die einzige Alternative zu Schwarz-Grün ist? Oder könnte sie es sich leisten, sich erneut einer Jamaika-Koalition zu verweigern, wenn es für Schwarz-Grün nicht reichen sollte und stattdessen dem Land eine ungeliebte Kenia-Koalition aufzuzwingen? Die Partei tut gut daran, sich auf nichts festzulegen, weder zuzusagen noch auszuschließen.

Durch Schaden klug geworden

Denn für sie muss es darum gehen, nicht ihre eigenen Fehler von 2009 zu wiederholen: Damals hat die Partei aus ihrem Wahlergebnis wenig gemacht – außer der Regierungsbeteiligung selbst. Das Außenministerium war der wesentlich sichtbare Erfolg, die großspurigen Reformankündigen wurden alle in den Koalitionsverhandlungen oder im Regierungsalltag beerdigt. Was in den Achtzigern noch hinreichend war, führte 2013 zum Fall aus dem Parlament. Durch Schaden klug geworden, verweigerte sich die Partei 2017, nach dem Wiedereinzug, der geargwöhnten Rolle als Hilfsmotor von Schwarz-Grün. Das hat sich auf lange Sicht nicht als Fehler erwiesen. Allerdings ist das auch nicht beliebig wiederholbar, da die Partei nicht für Fundamental-Opposition, sondern als Korrektiv gewählt wird.

Sie wird in diesem Herbst also die Wahl zwischen Skylla und Charybdis haben. Für ihr politisches Überleben wird sie ein Maximum an inhaltlichen Zugeständnissen heraushandeln müssen, egal in welcher Konstellation. Diesbezügliche Offenheit erhöht nur ihre Verhandlungsmacht. Sie darf nicht parieren um des Koalierens willen. Derzeit gelingt es der Partei, sich geschickt im Spiel zu halten, ohne als Anhängsel zu erscheinen. Mal wird das CDU-Programm gelobt, mal heißt es listig, eine Garantie, Annalena Baerbock zur Kanzlerin zu wählen, könne nicht abgegeben werden. Entsteht aber erneut der Eindruck, die Partei werde um der Regierungsposten willen handzahm, kette sich an einen größeren Partner oder aber sie verweigere sich grundsätzlich, könnte es bei der elektorale Achterbahnfahrt bald auch wieder steil bergab gehen. Indes dürfte das niemand besser wissen als die FDP.

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