Flutkatastrophe - Renaissance-Fürsten deutscher Politik

Die Anzahl der auch durch Versäumnisse des Staates zu Tode gekommenen Flutopfer ist erschreckend. Die Reaktionen der Politik wirken empathisch, kämpferisch und zu oft verlogen. Greift die Politik auf jahrhundertealte Instrumente zurück?

NRW-Ministerpräsident Laschet schwor, seine „ganze Kraft dem Wohle des Landes“ zu widmen Foto: Oliver Berg/dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Seit rund 2.000 Jahren werden viele zivilisatorische Errungenschaften Roms bewundert. Die Römer bauten beispielsweise Frischwasserleitungen mit sauberem Wasser aus entfernten Gegenden, als in anderen Städten Wasser aus Flüssen getrunken wurde – aus Flüssen, die auch der Abwasserentsorgung dienten. Diese aber hatten die Römer in unterirdischen Kanalsystemen organisiert, deren Dimensionen heute noch ebenso beeindrucken wie ihre ausgeklügelte Technik. Nach dem Zerfall des römischen Imperiums regierten verschiedenste andere Herrscher über die zahlreichen mit moderner Wasserwirtschaft ausgestatteten vormals römischen Städte. Diese investierten die Einnahmen des Gemeinwohls weniger in den Erhalt des diese Städte verbindenden Fernstraßennetzes. Sie verfielen bald, wie auch die Abwasser-Infrastruktur.

Ohne modernes Abwassermanagement brachen in den vergleichsweise dicht besiedelten Städten des Mittelalters und der Renaissance regelmäßig Seuchen aus. Nun ist es nicht so, dass das Wissen der Antike gänzlich verloren war, dass niemand mehr wusste, wozu die gewaltigen Aquädukte und Kanalisationen dienen könnten. Viele Ursachen, darunter technische Überforderung und Investitionen in prestigeträchtigere Projekte als hygienische Fäkalienentsorgung es je sein kann, führten zum Verfall und damit der Begünstigung von Epidemien. Diese erklärten die Fürsten und die Priester den Betroffenen – teils aus Ignoranz, teils aus wissenschaftlicher Unkenntnis, teils aus unerschütterlichem Glauben – allzu gern und allzu leichtfertig als Strafe Gottes.

Hochmoderne Kanalisation

Oft übten sich die Herrscher in Bußritualen, oft stifteten sie prestigeträchtige Kirchen, Klöster oder Pestsäulen, um Gott für das Ende der Seuche zu danken. Und gern forderten sie die Bevölkerung auf, freigiebig für diese Projekte und Gebete für das Seelenheil zu spenden. Die Idee, dass Investitionen in Infrastruktur die Bevölkerung schützen könnte, schien weniger populär. Dies änderte sich im Zuge des 19. Jahrhunderts. Das Bürgertum gewann nicht nur immer neues – auch wissenschaftliches – Wissen, sondern auch zunehmend Macht, dieses zum Nutzen der Allgemeinheit anzuwenden. Ein Beispiel bietet das damals wohlhabende Leipzig.

Ende des 19. Jahrhunderts hatten Handel und unzählige Produktionsbetriebe Leipzig zu einer der wohlhabendsten Städte Deutschlands gemacht. Trotz aller Kriegszerstörungen zeigen nicht nur die Villenviertel diesen Wohlstand bis heute. Er ermöglichte es vor fast 150 Jahren, die immer zahlreicheren Industriebetriebe und Wohnviertel an eine hochmoderne Kanalisation anzuschließen. Diese Abwasseranlagen wurden immer mal wieder modernisiert. Aber die Dimension der Abwasserhauptsammler – der größten, meterhohen Kanäle unter der Stadt – haben sich seither nicht verändert, trotz einer steigenden Zahl angeschlossener Haushalte.

Viel Chuzpe

Experten lassen keine Zweifel, dass die Starkregen in den vergangenen Jahrzehnten im Herbst, Winter und Frühjahr sowohl in der Anzahl als auch in den Niederschlagsmengen stetig zunahmen. Es liegt nahe, dass der Klimawandel diese Entwicklung verstärkt. Zahlreiche Experten weisen aber auch darauf hin, dass dies jedoch nicht für die Sommermonate gilt. Insofern sei die gegenwärtige Flutkatastrophe in Deutschland nicht oder nicht monokausal mit dem Klimawandel erklärbar.

Nun zum Schauspiel auf der politischen Ebene: Entgegen allen Hinweisen und auch Evidenzen reiht man das aktuelle Stück in die Reihe „Aktivisten gegen den Klimawandel“ ein. Man könnte diese Aufführung belächeln – wenn nicht so offenbar würde, wie die Bürger mit viel Chuzpe für dumm verkauft werden. Und wie wenig elegant diese Argumentation von den politischen Versäumnissen der Vergangenheit ablenkt. NRW-Ministerpräsident und CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet beispielsweise betonte, dass solche Extremereignisse in Zukunft öfter auftreten werden. „Dieses Problem müssen wir von zwei Seiten angehen: NRW klimafest machen und den Weg Deutschlands in Richtung Klimaneutralität noch schneller gehen.“

Zynisch bis wurschtig

Zunächst einmal ist es gut und richtig, dass die Politik alle verfügbaren und angemessenen Maßnahmen ergreift, um dem menschengemachten Teil des Klimawandels etwas entgegenzusetzen. Es ist ebenso gut und richtig zu erkennen, welchen Einfluss die deutschen Maßnahmen auf das Klima haben. Zwei Prozent – dies ist der Wert, der vielen Fachleuten als der Anteil Deutschlands am weltweiten CO2-Ausstoß gilt. Selbst wenn unter größten Lasten für Bürger und Industrie dieser Ausstoß um 50 Prozent gesenkt würde, wäre der CO2-Ausstoß auf dem Planeten um ein Prozent gesunken. Dass dies zukünftig Starkregenereignisse verhindert, darf bezweifelt werden. Dies ist kein Grund, sich nicht gegen den Klimawandel zu engagieren und mehr noch: die Außenpolitik zu einer Überzeugung anderer Staaten zum Klimaschutz zu nutzen.

Solange dies nicht effektiv umsetzbar ist, wirken die geplanten Maßnahmen Laschets zum zukünftigen Schutz vor Flutkatastrophen und auf die mehr als 170 tödlich verunglückten Flutopfer dieser Tage wahlweise zynisch oder wurschtig. Sie ist der billige Versuch, vom steigenden Populismus in der Politik der vergangenen Jahrzehnte abzulenken. Dazu gehören symbolträchtige Investitionen, Steuermittel für „das Gute“ und Umsteuern in die „richtige Richtung“ – denn sie bringen mehr Wählerstimmen als Investitionen in eine Modernisierung fäkalienstinkender Infrastruktur.

Abwasserwirtschaft schlägt lange schon Alarm

Doch Politiker werden nicht in Amt und Macht gewählt, um dort Bonuspunkte für die Wiederwahl zu sammeln. In seinem Amtseid hatte Armin Laschet geschworen: „Ich schwöre, dass ich meine ganze Kraft dem Wohle des Landes Nordrhein-Westfalen widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das mir übertragene Amt nach bestem Wissen und Können unparteiisch verwalten (…) werde.“ Über das Thema der unparteiischen Minister und Ministerpräsidenten könnte man ganze Bücher schreiben. Worauf es aber mit Blick auf die Flutkatastrophe ankommt, ist vor allem: Die Bundesregierung, die Landesregierungen und die Kommunen wissen seit Jahrzehnten, dass die veralteten und vor allem unterdimensionierten Abwassersysteme bei Regen an ihre Kapazitätsgrenzen kommen. Die Abwasserwirtschaft schlägt seit Langem Alarm – die wenig prestigeträchtigen Investitionen jedoch erfolgen mehr als zögerlich. Das Abwenden von Schaden sieht anders aus. Ebenso schlagen Umweltverbände, Bürgerinitiativen seit Jahrzehnten jedes Mal Alarm, wenn jene Gebiete als Baugebiete ausgewiesen werden, die jahrhundertelang als Überflutungsgebiete dienten, wie Auenlandschaften.

Nun ist der Schaden eingetreten. Nicht nur an Liegenschaften, öffentlicher Infrastruktur und sogar an Gesundheit und Leben Unzähliger, sondern auch der Demokratie. Denn die Menschen wollen darauf vertrauen, dass die demokratischen Institutionen Schaden abwenden.

Gewaltige Steuermittel

Es gibt nur einen einzigen Weg, die Folgen solcher Katastrophen zukünftig zu reduzieren. Dieser liegt nicht darin, einfach mal zu glauben, dass China, die USA oder Saudi-Arabien auf den Wunsch von Armin Laschet hin ihre Industrie drosseln und CO2 reduzieren. Er liegt darin, die öffentliche Infrastruktur den Naturereignissen anzupassen – den natürlichen ebenso wie jenen, die der Klimawandel verursacht. Die Kanalisation muss vergrößert und erneuert, Kläranlagen ausgebaut und die Straßenentwässerung verbessert werden. Keine Frage, diese Maßnahmen werden gewaltige Steuermittel erfordern, keinem Politiker sofort Prestige bringen und zudem unpopulär sein – weil Straßensperrungen und Baustellen selten Freude auslösen. Aber sie sind notwendig, um Schaden abzuwenden. Ebenso ist es unpopulär, Neubaugebiete in natürlichen Überflutungsgebieten zu untersagen oder gar deren Umwandlung in Bauland in der Vergangenheit als Fehlentscheidung – mit allen Rechtsfolgen – zuzugeben.

Wenn in 50 bis 100 Jahren die Ziele vieler Klimaschützer erreicht wären, den Klimawandel umzukehren, wird die Investition in eine moderne Infrastruktur nicht vergebens gewesen sein. Sie wird nicht nur jahrzehntelang Menschen besser vor Schaden an Gut, Leib und Leben geschützt haben. Sie wird dann die fast 200 Jahre und immer baufällige Infrastruktur ersetzt haben. Die Ministerpräsidenten gehen dabei seit Jahren mit gutem Beispiel voran: Keine ihrer Staatskanzleien entspricht noch dem Stand von vor mehr als 100 Jahren. Weder für das Gebäude der von 1909 an erbauten Staatskanzlei Nordrhein-Westfalen noch für das von 1900 an erbaute Gebäude der Staatskanzlei in Dresden, von wo aus die Bürger Leipzigs regiert werden. Ihr Stand entspricht weder in den Dimensionen noch in der Bauqualität noch in der technischen Ausstattung einem antiquierten Stand wie dem der Abwassersysteme in ihren Bundesländern. Was für Ministerpräsidenten recht ist, muss für ihre Bürger billig sein.

Ablenken von der eigenen Verantwortung

Was die Renaissance-Fürsten von gewählten Amtsträgern in Deutschland unterscheidet, ist das in ihren Behörden verfügbare Wissen. Man weiß seit Jahrzehnten um die Gefahren der Reduzierung von seit Jahrhunderten bestehenden Überflutungsgebieten und Auenlandschaften. Man weiß um die Gefahren vom Bauen in gefährdeten Gebieten, ebenso ist der Zustand der Abwasserinfrastruktur den Behörden gut bekannt. Aber auch die Möglichkeiten der Bevölkerungswarnung per SMS in bestimmten Gebieten sind bekannt – ja, es gibt sogar ein Bundesamt für den Zivilschutz, das theoretisch über funktionierende Warnsirenen verfügt.

Es wäre nicht richtig, schon heute Spekulationen zu verbreiten, welche Behörden in welcher Weise versagt und so letztlich den Tod von zu vielen Menschen verschuldet haben könnten. Aber es ist richtig, sich daran zu erinnern, dass Amtsträger die politische Verantwortung für die ihnen unterstellten Behörden tragen – in Bund, Ländern und Kommunen. Wer aber statt über eigene politische Verantwortung, darüber schwadroniert, dass ja „höhere Mächte“ für die Katastrophe verantwortlich seien, handelt wie die Herrscher der Renaissance. Wenn dann noch Bußfertigkeit gegenüber dem Klimawandel gefordert wird, um von der eigenen Verantwortung abzulenken, ist es Zeit, zu überlegen, ob diese Reaktionen mit den Regeln der Demokratie vereinbar sind.

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