Flüchtlingskrise - „Bei den Menschen ist es ein Thema“

Martin Schulz hat das informelle Schweigekartell der Parteien rund um die Flüchtlingskrise durchbrochen. Doch auch er verschiebt nur das Problem, das sich wie jeden Sommer verschärfen könnte. Dass das Thema wahlentscheidend ist, haben auch zwei andere erkannt

Seine Kritik an Angela Merkel ist berechtigt, doch auch Schulz bleibt eine Lösung des Problems schuldig / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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In der Beschäftigung mit den Bemerkungen des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz zur Rückkehr der Flüchtlingskrise und Angela Merkels Fehler von 2015 ist ein weiteres bemerkenswertes Interview vom Wochenende etwas beiläufig behandelt worden. In der Welt am Sonntag machte CSU-Chef Horst Seehofer seinerseits darauf aufmerksam, dass in seinen Augen die Union in diesen Wochen um die absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl am 24. September kämpfen würde, hätte die Kanzlerin am 4. September nicht die Grenzen geöffnet. 

Jetzt sieht Seehofer die Lage so: „Im Moment schaut es gut aus für uns. Aber wir haben noch genügend Zeit, die Wahl auch zu verlieren.“ So ein Satz hat einerseits die Aufgabe, Schlaftrunkene und Selbstgewisse in den eigen Reihen (und jener der Wähler) wachzurütteln. Man darf ihn aber auch so verstehen, dass Seehofer weiß: Den Umfragewerten von bis zu 40 Prozent für die Union stehen weiter 40 Prozent Unentschiedene gegenüber. Es ist also sehr viel Flugsand unterwegs da draußen, und man sollte sich nicht jetzt schon zu sicher sein, wo und wie sich die politische Wanderdüne Deutschland am 24. September um 18 Uhr wölbt. 

Schulz ohne Lösungsansatz

Seehofer hat seine Einschätzung zu einem Zeitpunkt abgegeben, zu dem Martin Schulz das informelle Schweigekartell der im Bundestag vertretenen Parteien durchbrochen hat. Zu offensichtlich ist, dass die Migrationskrise dabei ist, sich wie jeden Sommer zu wiederholen. Manchmal haben Themen eben die störrische Eigenschaft, sich nicht an Wahlplanungen von Wahlkämpfern zu halten. Außerdem hat Schulz zu Recht erkannt, dass er weniger Vorteile davon hat als die Amtsinhaberin, wenn er das Anschwellen der Flüchtlingsstroms nicht benennt. 

Es ist auch das gute Recht eines Wahlkämpfers, die Meinung zu äußern, dass Merkel seinerzeit mit ihrem Alleingang (aus von ihm unterstellten guten Motiven) falsch lag und europäischen Schaden angerichtet hat. Das sieht Horst Seehofer keinen Deut anders, auch wenn er mehr die Folgen hierzulande im Blick hat. Es ist aber von Schulz halbherzig, dann eine Position einzunehmen, die man in einem Knittelvers so zusammenfassen kann: Deutschland hat genug getan. Jetzt sind mal die andern dran. 

Damit verschiebt er nur das Problem, anstatt eine Lösung anzubieten. Er schreckt davor zurück, eine Antwort auf die Frage zu geben: Wie soll an den Küsten des Mittelmeeres verfahren werden? So wie es die Spanier machen? Aufbringen, retten und zurückführen. Oder so, wie es zwischen Libyen und Italien derzeit läuft? Aufbringen, retten und auf europäischen Boden bringen. 

Steinmeier überrascht mit Merkel-Kritik

Mit einer dritten Wortmeldung zum Thema wartete Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Wochenende auf. Er macht sich das Wort seines Vorgängers Joachim Gauck zu eigen, der in dosierter Abgrenzung zu Merkels Position seinerzeit davon sprach, dass unser Herz weit, aber unsere Möglichkeiten „endlich“ seien. Das ist an sich schon bemerkenswert, weil Steinmeier seinerzeit als Außenminister, als Gauck diese Worte sprach, treu an der Seite Merkels stand. Und es ist bemerkenswert, weil der Bundespräsident die Debatte um die Migration von der Frage löste, ob es 2017 wieder so viele Migranten werden könnten wie im Sommer 2015. „Ich kann nur sagen: Bei den Menschen ist es ein Thema.“

Dem trägt nun auch der Wahlkampf Rechnung. Und das ist bei aller Kritik im Detail auch richtig so, wenn die nun wahlkämpfenden Parteien dem Eindruck entgegenwirken möchten, das sie vor allem die Macht interessiert und weniger die brennenden Fragen der Bevölkerung.

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