Flüchtlingskrise in Griechenland - „87 Prozent der Kinder wollen gar nicht nach Europa“

Weil sich die Flüchtlingskrise in der Ägäis zuspitzt, will die Bundesregierung mit anderen EU-Ländern bis zu 1.500 Kinder aufnehmen – wenn möglich unbegleitete Mädchen. Das Flüchtlingswerk UNHCR begrüßt den Schritt zwar, findet aber: Kind ist Kind.

„Es reicht nirgendwo richtig”: Für Kinder ist der Alltag im Flüchtlingslager besonders bedrückend / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Chris Melzer ist Pressesprecher des Flüchtlingshilfswerks UNHCR Deutschland. 

Herr Melzer, auf den griechischen Inseln leben derzeit 5.500 unbegleitete Kinder in Flüchtlingslagern. Warum sind die allein gereist? 
Es sind Kinder, die sehr oft entwurzelt sind durch den Krieg. Es sind viele syrische Kinder und Jugendliche dabei, aber zum Beispiel auch welche aus Afghanistan. Entweder wurden die durch von ihren Eltern getrennt oder sie haben keine Verwandten mehr.  

Wer kümmert sich um diese Kinder?
Unter anderem die Mitarbeiter des UNHCR, aber auch viele andere versuchen, sich um diese Kinder zu kümmern. Sie versuchen sogar, ihnen ein bisschen Bildung zu vermitteln. Aber die Möglichkeiten der Helfer sind begrenzt. 

1.000 bis 1.500 sollen jetzt von Deutschland und einer Koalition der Willigen aufgenommen werden. Was haben Sie gedacht, als Sie von diesem Beschluss des Koalitionsausschusses erfahren haben?
Es ist ein wichtiger Schritt. Und es ist ein Signal. Aber es kann die Situation nur kurzfristig entspannen. Auf diesen Inseln leben 42.000 Menschen in Einrichtungen, die nur für 6.000 Menschen ausgerichtet sind. Erwachsene leiden ja auch unter dieser Situation. Deswegen sagen wir nach wie vor: Europa sollte diese Menschen verteilen und dann einem strengen Asylverfahren unterziehen 

Reichen denn 1.000 bis 1.500 aus?
Nein, die reichen bei weitem nicht aus. Aber es ist ein wichtiger erster Schritt. 

Bevorzugt werden sollen unbegleitete, minderjährige Mädchen und kranke Kinder. Kind ist Kind. Sollte das Geschlecht da nicht zweitrangig sein?
Das sehen wir so ähnlich. Wenn wir im Rahmen unserer Resettlement-Programme entscheiden, welche Kinder kommen sollen, geht es um Verletzlichkeit, nicht um das Geschlecht. 

Die Bundesregierung hat sich fokussiert auf minderjährige Mädchen, die allein reisen. Wenn man Ihre Zahlen aus Griechenland sieht, dann gibt es davon gar nicht so viele. Ihr Anteil an den unbegleiteteten Kindern beträgt gerade mal 7,5 Prozent. In absoluten Zahlen gerechnet wären das 412,5. Warum, glauben Sie, legt die Bundesregierung den Fokus auf Mädchen?
Es gibt auf den Inseln insgesamt etwa 14.200 Kinder und Jugendliche, davon 8.300 Jungen und 5.900 Mädchen. Möglicherweise liegt bei den Mädchen eine höhere Verletzbarkeit vor. Die Koalitionsvereinbarung sieht ja auch ein ODER vor. Die Kinder müssen also nicht die Bedingungen erfüllen: Mädchen, alleinreisend und unter 14 Jahren. Es muss mindestens eines dieser Kriterien erfüllt werden. Dem sechsjährigen Mädchen mit Asthma kann also geholfen werden, auch wenn seine Mutter noch dabei ist. 

Kann es sein, dass die Bundesregierung damit dem Umstand Rechnung trägt, dass die Willkommensfreude nach den Erfahrungen mit 2015 bei vielen einem gesunden Misstrauen gewichen ist, gerade gegenüber jungen Männern? 
Das müssen Sie die Bundesregierung fragen. Wir merken in unserer täglichen Arbeit, dass die Willkommensbereitschaft der Deutschen nach wie vor sehr groß ist. 

Aber geht ihre Solidarität so weit, dass sie die Menschen auch bei sich zu Hause aufnehmen würden?
Das müssen sie nicht. Asyl ist eine staatliche Aufgabe. Wir haben aber seit 2019 das so genannte NesTprogramm der Bundesregierung für besonders schutzbedürftige Flüchtlinge, die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ausgewählt und dann überprüft werden. Das sieht vor, dass Flüchtlinge in einem Haus oder einer Wohnung leben, die von Deutschen bezahlt wird. Und wenn man die Menschen fragt, warum sie das machen, sagen sie: Na ja, man muss doch helfen. 

Chris Melzer / privat  

Nach der letzten Umfrage der Bertelsmannstiftung ist die Skepsis gegenüber 2015 zwar leicht gesunken. 52 Prozent der Deutschen finden aber, es gäbe zu viel Einwanderung. Würden Sie sagen, die Flüchtlingsfrage hat die Gesellschaft gespalten?  
Ich glaube nicht, dass wir von einer Spaltung sprechen können, obwohl sich die Gesellschaft ohne Frage in den vergangenen Jahren gewandelt hat. Die Flüchtlingspolitik hat dabei sicher auch eine Rolle gespielt. Leider kann man sich auf dem Rücken von Flüchtlingen schön empören. Es ist erstaunlich, wie viel Raum dieses Thema einnimmt, obwohl die Integration im Großen und Ganzen gut funktioniert. 

Mehr als die Hälfte der Flüchtlinge ist schwer traumatisiert, Kinder noch mehr als Erwachsene. Jeder vierte braucht eine therapeutische Behandlung. Ist Deutschland auf diese Anforderungen vorbereitet?
Natürlich gibt es Grenzen. Das erleben wir in unserer täglichen Arbeit auch. In anderen Ländern haben wir kaum genug Möglichkeiten, um den Menschen ein Dach über dem Kopf oder genug zu essen zu geben. Wir müssen mit 50 Dollar pro Flüchtling auskommen – pro Jahr. Es reicht nirgendwo richtig. Und das mag auch auf diese Therapieplätze zutreffen.   

Ausgewählt werden die Kinder in Griechenland jetzt von den örtlichen Behörden nach Absprache mit der Bundesregierung. Wie bringt man Kindern bei, dass die einen kommen dürfen, die anderen aber nicht? 
Es wollen bei weitem nicht alle Kinder nach Europa. Etwa 87 Prozent bleiben im Nachbarland – in der Hoffnung, schnell wieder nach Hause zurückkehren zu können. Die Auswahl ist in der Tat sehr schwierig und kompliziert. Aber damit wollen wir sicherstellen, dass nur die Härtefälle davon profitieren. 

Und wie reagieren die Kinder, die abgelehnt werden? 
Das kann ich aus eigener Erfahrung nicht sagen. Von Kollegen höre ich, dass die natürlich sehr enttäuscht sind. Das ist eine Frage der Abwägung und nicht das Leichteste an einem Job bei UNHCR. 

Kinder haben ein Recht darauf, mit ihren Eltern aufzuwachsen. Müssen die Europäer dann nicht auch die Väter und Mütter nachholen?
Es gibt ein Recht auf Familienzusammenführung der Kernfamlie bei Menschen, die nach einem Asylverfahren als Flüchtlinge anerkannt wurden. Bei subsidär Schutzberechtigten war dieses Recht vorübergehend ausgesetzt, ist jetzt aber beschränkt auf 1.000 im Monat. 

Europa ist für Kinder aus Syrien oder Afghanistan ein völlig neuer Kulturkreis. Wie schwierig ist es für sie, sich hier einzuleben?
Natürlich ist das nicht einfach. Aber es gibt Hilfe, nicht nur vom Staat, sondern auch von engagierten Bürgern. Eigentlich klappt das mit der Integration in Deutschland recht gut. 

Die Kanzlerin hatte Recht, als sie 2015 sagte: „Wir schaffen das!“
Natürlich gibt es auch Probleme. Aber im Ausland gilt Deutschland als Musterbeispiel dafür, wie es gut funktionieren kann. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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