Flüchtlingsdebatte und Terror - Jetzt fallen die letzten Tabus

Hier die gefährliche Pauschalisierung, dort der Shitstorm: Die Reaktionen vieler Politiker auf die jüngsten blutigen Gewalttaten zeigen, dass die Zuwanderungsdebatte endgültig aus dem Ruder gelaufen ist

Bei dem mutmaßlich islamistisch motivierten Anschlag in Ansbach wurden 15 Menschen verletzt / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Von wem stammt der folgende Satz über die von Flüchtlingen verübten Attentate in Würzburg, Reutlingen und Ansbach? „Niemand darf sich etwas vormachen, wir haben offenbar einige völlig verrohte Personen importiert, die zu barbarischen Verbrechen fähig sind, die in unserem Land bislang kein Alltag waren. Das muss man klar und tabulos benennen. Zu dieser Klarheit zählt auch, dass wir uns offensiv mit dem Thema Islamismus auseinandersetzen. Ansonsten riskiert die Politik, dass sie als realitätsfremd wahrgenommen wird.“

Nein, es ist kein AfD-Hinterbänkler aus irgendeinem Landesparlament, der das gesagt hat. Sondern Berlins CDU-Innensenator und Kandidat für das Amt des Regierenden Bürgermeisters, Frank Henkel, übrigens auch Landesvorsitzender seiner Partei. Für Henkel, der gern den starken Mann markiert, sind Flüchtlinge demnach eine Art Importware, die „wir“ (ob er damit die CDU, die Bundesregierung oder ganz Deutschland meint, lässt er offen) offenbar irgendwo bestellt haben und von denen sich jetzt einige als gefährlich erweisen.

Entgrenzte Debatte über Zuwanderung

Es ist wohl eher die Tabulosigkeit seiner den miserablen Umfragewerten geschuldeten Wortwahl, die dazu führt, dass Politik „als realitätsfremd wahrgenommen wird“. Denn wer als für die Polizei zuständiger Minister insinuiert, dass Axtattentate und Machetenattacken inzwischen zum deutschen Alltag gehörten und daraus folgert, „wir“ müssten uns jetzt „offensiv mit dem Thema Islamismus auseinandersetzen“, dem sollten seine Parteifreunde am besten mal ein paar Tage Auszeit gönnen, bevor er nach der Wahl im September dann endgültig in Politrente geht. Die Gelegenheit, sich offensiv mit dem Thema Islamismus auseinanderzusetzen, hat Frank Henkel dann als Innensenator fünf Jahre lang gehabt. War zeitlich wohl zu knapp.

Die Unkonditioniertheit in der Zuwanderungspolitik spiegelt sich längst in einer entgrenzten Debatte, in der wahlweise Einzelfälle zu allgemeinen Phänomenen überhöht oder umgekehrt verbreitete Verhaltensmuster zu Individualdefekten verniedlicht werden. Erstaunlicherweise sind es aber ausgerechnet Politiker, die das Spiel der Wirklichkeitsverdrehung betreiben. Die meisten Bürger dieses Landes aber haben ein sehr gutes Sensorium für notorische Schönredner auf der einen genauso wie für Demagogen oder Opportunisten vom Schlage Henkels auf der anderen Seite. Genau deswegen nehmen übrigens viele Menschen in diesem Land die Politik als „realitätsfremd“ wahr. Da kann dem Berliner Innensenator im Wahlkampf noch so lange auffallen, dass „wir“ dieses oder jenes aber endlich mal „tabulos benennen“ müssen.

Linke fallen über Wagenknecht her

Ein anderes Beispiel ist Sahra Wagenknecht. Die Fraktionsvorsitzende der Linkspartei hat aus den Attacken von Würzburg, Reutlingen und Ansbach den Schluss gezogen, „dass die Aufnahme und Integration einer großen Zahl von Flüchtlingen und Zuwanderern mit erheblichen Problemen verbunden und schwieriger ist, als Merkels leichtfertiges ‚Wir schaffen das‘ uns im letzten Herbst einreden wollte“. Eine nüchterne Feststellung, die schon vor den jüngsten Gewaltakten schwerlich widerlegt werden konnte – aber im Wirklichkeitsverweigerungskosmos der deutschen Politik sogleich den üblichen Shitstorm nach sich zog.

Eine Thüringische Landtagsabgeordnete der Linken etwa schäumte über vor Wut ob des vermeintlich „puren, widerwärtigen Rechtspopulismus“ Wagenknechts; auch Bundestagsabgeordnete der Grünen verbreiteten unverzüglich ihre Abscheu auf dem intellektuellen Schnellschussmedium Twitter: Wagenknecht könne „doch auch die Partei wechseln, wenn sie AfD-Position so toll findet“ (Hashtag: #Pfuideibel), so der Berliner Grünen-MdB Özcan Mutlu.

Wenn Idealismus aber zur Ideologie und aus Denunziantentum eine politische Tugend wird, riskiert die Politik nicht nur, als „realitätsfremd“ wahrgenommen zu werden. Sie ist dann vielmehr eine gefährliche Täuschung. Auf Dauer kann das nicht gutgehen.

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