Flüchtlinge und Migration - Plädoyer für eine Politik mit Plan

Horst Seehofers Mission in Luxemburg, andere EU-Staaten zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewegen, scheint zu scheitern. Ist das überraschend? Die Migration geschieht und verändert Länder in hohem Tempo. Warum feiert die politische Linke das als Erfolg?

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Reste des Überlebens auf der grichischen Insel Lesbos / picture alliance
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Dieter Rulff ist freier Autor in Berlin.

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Lange Zeit erweckte Deutschland den Eindruck, dass bereits mit der Selbstakzeptanz als Einwanderungsland alle sich daraus ergebenden Probleme geregelt seien. Mit dem Bekenntnis dazu schienen gleichsam auch Antworten auf die Fragen nach dessen Wesen und Gestaltung gefunden zu sein. Entsprechend heftig wurde um dieses Bekenntnis jahrzehntelang gerungen.

Während die politische Linke schon frühzeitig Einwanderung als „Bereicherung“, „Multikulturalismus“ und „Diversität“ begrüßte und darin ein probates Palliativ gegen die deutsche Volkskrankheit des Nationalismus sah, hat sich vor allem die Union jahrelang schwergetan mit der Begrifflichkeit und bis zuletzt verschämt von Zuwanderung gesprochen – als gäbe es zwischen einem Ein- und einem Zugewanderten einen Wesensunterschied, der Letzteren irgendwie akzeptabler mache.

Doch als der damalige christdemokratische Innenminister Thomas de Maizière am 9. September 2014 im Bundestag verkündete: „Deutschland ist ein Einwanderungsland geworden“, stieß dieser Satz fraktionsübergreifend auf eine Zustimmung, die auch noch anhielt, als genau ein Jahr später knapp eine Million Flüchtlinge ihn mit mehr Leben erfüllten, als manchem Beteiligten insgeheim lieb war.

Einwanderung ist kein singuläres Phänomen

Das Jahr 2015 ist eine Zäsur für das Einwanderungsland Deutschland, denn die Hunderttausenden Flüchtlinge prägen nicht nur das Bild, das man sich landläufig von einem Migranten macht, sie verdeutlichen nicht nur, welche Belastungen für Staat, Gemeinwesen und Bürger damit verbunden sein können. Sie signalisieren vor allem, dass Einwanderung seitdem kein Phänomen mehr ist, das auch wieder verschwinden kann, sondern fester, unausweichlicher Teil der Zukunft des Landes in einer globalisierten Welt sein wird. Jedem ist seither klar, es geht nicht mehr um das Ob, sondern nur noch um das Wie.

Inzwischen ist man so weit, dem Einwanderungsland auch ein Einwanderungsgesetz zu verpassen. Höchste Zeit, könnte man meinen, wo doch die wissenschaftliche Avantgarde bereits von Deutschland als einer postmigrantischen Gesellschaft spricht – was immer das bedeuten mag. Die bestehende Gesellschaft zumindest ist einstweilen noch damit befasst, sich einen Reim auf sich selbst als migrantische zu machen. Bei ihr reift die für so manchen ihrer Bewohner dunkle Ahnung, dass die Selbstanerkennung als Einwanderungsland weit gravierendere Folgen für dessen inneres Gefüge hat, als die oberflächlichen Debatten über Leitkultur, Obergrenzen und Verteilungsquoten erahnen lassen.

Die Antworten spalten das Parteiensystem

Nichts hat sie in den zurückliegenden Jahren stärker zerrissen als die Frage, wer aus welchen Gründen zu „uns“ gehören und wie das neue Miteinander geregelt werden soll. Die Antworten spalten das Parteiensystem, der Aufstieg der AfD findet hier einen seiner Gründe, wie auch der Zerfall der SPD, das nur mühsam gekittete Zerwürfnis in der Union und die Ausgrenzung Sahra Wagenknechts aus der Linken. Das macht eine Verständigung darüber, wie Migration gesteuert und Integration gestaltet werden soll, schwierig. Vielfach wird sie gar nicht mehr angestrebt, es dominiert der gereizte Ton längst vergangen geglaubter Lagerkämpfe, Selbstverständliches findet kein Verständnis mehr, Unsägliches wird sagbar. Die Suche nach einem politischen Konsens zur Befriedung der Gesellschaft gilt als anrüchig, entsprechend schwer ist er zu finden. Dabei wäre ein solcher Fund mehr als wünschenswert.

Denn eine Einwanderungsgesellschaft kann nicht mit einfachen Mehrheiten, gar als politisches Projekt, durchgesetzt werden, sie kann nur auf einem möglichst weitgehenden Konsens ihrer Mitglieder basieren. Dessen normativen Kern hat der liberale kanadische Philosoph Michael Walzer auf die klassische Formel gebracht: „Wir, die wir bereits Mitglieder sind, nehmen die Auswahl vor, und zwar gemäß unserem Verständnis davon, was Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft bedeutet und welche Art von Gemeinschaft wir zu haben wünschen. Mitgliedschaft als soziales Gut wird begründet durch unser Verständnis von Zugehörigkeit, ihr Wert bemisst sich an unserer Arbeit und unserer Kommunikation; und so sind wir es (wer sollte es sonst sein?), denen die Verantwortung für die Vergabe und Verteilung zufällt.“

Ist es unmoralisch Grenzen zu schließen?

Das Beispiel Kanadas zeigt, dass diese Formel keinesfalls nur ein einmal erlassener Grundsatz ist, sondern ein jederzeit neu mit Leben zu füllendes Regelwerk für das Zusammenleben – von der Vorbereitung der Gemeinden auf die von ihnen Aufzunehmenden bis zu den national festzulegenden Quoten.

In Deutschland dürfte schon die Formulierung, dass die Einheimischen über die Auswahl der Einwandernden entscheiden, für Irritationen, wenn nicht gar heftigen Widerspruch sorgen, denn Deutschlands Selbstwahrnehmung als Einwanderungsland ist weniger durch Einwanderung als vielmehr durch Flucht und Asyl und die entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Folgegesetzgebungen geprägt. Für viele Linke ist zudem generell moralisch inakzeptabel, die Grenzen vor jemandem zu schließen, der Aufnahme begehrt.

So unstrittig der individuelle Schutz durch die Genfer Flüchtlingskonvention und das Asylrecht ist, so heftig tobt seit 2015 wieder der Streit um deren politische Rahmung und Ausgestaltung, bisweilen auch Umgehung. Die Regelwerke sind vielfältig und kompliziert, schon die Frage, wer asylberechtigt ist, wird von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich entschieden, zwischen den europäischen Staaten ist die Variation noch breiter.

Eine große Zahl Chancenloser strebt oft unter Lebensgefahr nach Europa und ins Land, weil die Rechtsverfahren einen zumindest zeitweisen Aufenthalt versprechen, den sie auf verschiedene legale und auch illegale Weise möglichst weit zu strecken hoffen. Diese Hoffnung teilen sie mit den vielen, die nur subsidiär geschützt sind und bei einer Besserung der Lage in ihrer Heimat zurückkehren müssen. Wer ausreisepflichtig ist, aber nicht will, dem bleibt nur die allerdings häufig begründete Hoffnung auf eine Nichtkooperation der Herkunftsländer oder das Abtauchen in die Illegalität.

87 Prozent der Syrer und Iraker wollen bleiben

Der politischen Gestaltung der Migration sind somit durch die diversen Abkommen, Rechts- und Verfahrensbestimmungen enge Grenzen gesetzt. Das bleibt nicht ohne Rückwirkung auf die zugrunde liegende Asylnorm. Verfahren schaffen nicht nur Legitimität, sie können sie auch entziehen, und der Asylgrundsatz, dass unbedingten Schutz genießt, wer seiner bedarf, leidet, wenn seine Kehrseite, dass wer keinen genießt, auch wieder gehen muss, sich als nicht durchsetzbar erweist. Dieses Akzeptanzproblem zeigt sich bereits bei Flüchtlingen aus den afrikanischen Staaten mit geringer Anerkennungsquote, es wird spätestens dann wieder virulenter werden, wenn die Einstufung der Hauptherkunftsländer Syrien und Irak als sichere Rückkehrstaaten ansteht, denn laut einer OECD-Umfrage wollen 87 Prozent der Flüchtlinge aus diesen Ländern in Deutschland bleiben.

Die Bereitschaft zur Aufnahme Asylsuchender ist in der Bevölkerung unvermindert hoch, allerdings sprechen sich zugleich drei Viertel von ihr für eine konsequente Rückführung abgelehnter Asylbewerber aus. 58 Prozent wollen, dass weniger oder gar keine Einwanderer mehr ins Land ziehen sollen, nur 10 Prozent, dass deren Zahl steigt. Auch wenn solche Voten Schwankungen unterliegen, so deuten sie doch darauf hin, dass die verbreitete Hilfsbereitschaft gegenüber den Bedürftigen gepaart ist mit einer generellen Reserve gegenüber einem Mehr an Zuwanderung. Das muss eine Politik in Rechnung stellen, die das „Einwanderungsland Deutschland“ gestalten will. Der ohnmächtige Verweis auf die Komplexität der Materie erzeugt auf Dauer Verdruss. Und der Ausblick auf den Bedarf einer alternden Gesellschaft an zusätzlichen Arbeitskräften zielt an der Sache vorbei.

Nur ein begrenzter Wohlstandsgewinn

Zum einen wird ein solches ökonomisches Kalkül den Flüchtlingen nicht gerecht, denn sie befinden sich im Land, weil sie der Verfolgung in ihrer Heimat entkommen wollten. Eine nachträgliche „Umwidmung“ der humanitären Hilfe in eine Maßnahme der Arbeitsmarktstabilisierung würde deren Akzeptanz unterminieren. Nicht von ungefähr hat der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration vor einer solchen Verwischung eindringlich gewarnt: „Das Asylverfahren für Flüchtlinge und die Verfahren zur Steuerung der Arbeitsmigration müssen klar getrennt bleiben, sonst würde früher oder später das ganze vorhandene Steuerungsverfahren für die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte aus Nicht-EU-Staaten wert- und wirkungslos.“ Auch die von vielen Einwanderungsbefürwortern gehegte Erwartung, dass sich die irreguläre Migration mindern ließe, wenn Wege legaler Einwanderung eröffnet würden, enttäuscht der Rat. Die Annahme eines solchen Wirkzusammenhangs sei empirisch nicht belegt.

Zum anderen wird die häufig vorgebrachte Orientierung des Einwanderungsbedarfs am Altersquotienten oder gar an der sinkenden Zahl der Gesamtbevölkerung der Komplexität des Problems nicht gerecht. In dessen Betrachtung müssen zudem eine Reihe von nur bedingt vorhersehbaren Variablen einbezogen werden, wie etwa die Entwicklung der Pro-Kopf-Produktivität, neue Technologien, der Wandel der Produktionsweisen und die entsprechenden Veränderungen in der Arbeitskraftnachfrage sowie die Sozialkosten der Migranten. Für den Wirtschaftswissenschaftler Thomas Straubhaar stellt sich die generelle Frage, „warum Deutschland im Zeitalter der Digitalisierung die Zukunft in der Zuwanderung von Fachkräften“ sieht, denn „von einem Wachstum der Wirtschaft, das durch ein Wachstum der Bevölkerung – also durch Zuwanderung – erkauft wird, hat die Gesellschaft insgesamt vorerst nur einen begrenzten Wohlstandszugewinn“.

Diese Frage stellt sich umso mehr, wenn nicht Fachkräfte, sondern niedrig Qualifizierte das Gros der Einwandernden ausmachen. So stellt die Bertelsmann-Stiftung fest, dass die bisherige Zusammensetzung den künftigen Anforderungen nicht entspreche. Von den Menschen, die 2017 aus Nicht-EU-Ländern nach Deutschland kamen, um hier Arbeit zu finden, verfüge mehr als ein Drittel über keinen Berufsnachweis.

60 Prozent der Geflüchteten beziehen Hartz IV

Für die Selbstakzeptanz als Einwanderungsland dürften ohnehin weniger langfristige demografische Kalkulationen als vielmehr solche aktuellen Wahrnehmungen ausschlaggebend sein. Die Erwerbslosenquote der migrantischen Männer und Frauen übertrifft die der Einheimischen um das Doppelte, vor allem die Frauen stehen in einem signifikant geringeren Maße dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Von den zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland Geflüchteten haben drei Viertel keine abgeschlossene berufliche oder akademische Ausbildung, etwa 65 Prozent arbeiten in Helferberufen.

Bei dem Bevölkerungsteil mit Migrationshintergrund ist die Hälfte in diesem Grade unqualifiziert, bei dem ohne einen solchen Hintergrund ist es jeder Zehnte. Entsprechend beziehen über 60 Prozent der Geflüchteten Hartz IV, bei allen Ausländern zusammen liegt diese Quote bei 20 Prozent, bei Deutschen ohne Migrationshintergrund sind es 6 Prozent. 40 Prozent der niedrig qualifizierten Arbeitsplätze sind mit einem Migranten besetzt, EU-weit liegt diese Quote bei 25 Prozent.

Auch wenn auf der anderen Seite eine hohe Zahl von Einwanderern mit Hochschulabschluss zu verzeichnen ist, prägen diejenigen, die nicht oder nur niedrig qualifiziert sind, die Wahrnehmung und Realität der Einwanderung: „Zunächst wird die billige Zuarbeit von Migranten von der aufnehmenden Gesellschaft dankbar angenommen“, schreibt die wissenschaftliche Direktorin der Hans-Böckler-Stiftung Anke Hassel. „Über die Zeit hinweg entwickelt sich jedoch eine langsam erodierende Wirkung der Billigkonkurrenz auf den ersten ‚regulären‘ Arbeitsmarkt, gegen die sich wiederum die einheimischen Belegschaften mit der Forderung nach Schließung des Arbeitsmarkts wehren.“ Mit dieser Forderung kommen sie jedoch selten durch, was auch erhebliche Rückwirkungen auf die Interessensvertretung der Arbeiterschaft hat. Hassel geht davon aus, dass Arbeitsmigration eine Erosion von Tarifverträgen und Gewerkschaften befördert.

Durch Zuwanderung entsteht Druck auf Löhne

Entsprechend reserviert stehen denn auch viele Gewerkschafter der Einwanderung und deren gesetzlicher Förderung entgegen. Bei ihnen sind rechte Einstellungen zunehmend verbreitet. Auch Straubhaar sieht, dass durch ein „extensives Wachstum dank Zuwanderung“ Druck nach unten auf die Löhne entsteht, Löhne also vergleichsweise tiefer bleiben als bei einem „intensiven Wachstum dank Digitalisierung“. Sein Fazit: Von einem „Wachstum dank Zuwanderung profitieren deutsche Fachkräfte eher weniger, jedoch alle anderen, insbesondere die Arbeitgeber“.

Alltag im Ankerzentrum:
Regeln sind das A und O

Das sozialstaatliche Gefüge der Arbeitsgesellschaft bekommt mit der Einwanderung Schlagseite. Die Symmetrie zwischen ihrer Leistungsbereitschaft, deren Gemeinnützigkeit sich in Steuern und Abgaben ausdrückt, und dem Empfang von sozialstaatlichen Leistungen verschiebt sich durch die neu Hinzukommenden zulasten der Leistungsträger. Sie treten in eine solidarische Vorleistung, von der sie hoffen, dass die Bilanz dereinst wieder ausgeglichen sein wird.

Neu Eingewanderte brauchen derzeit im Schnitt etwa fünf Jahre, bis sie zum Beschäftigungsniveau der Einheimischen aufgeschlossen haben. Doch auch wenn sie dieses erreicht haben, dürfte aufgrund ihrer im Schnitt schlechteren Qualifikation ihr Beitrag zum Solidarsystem geringer ausfallen.

Noch unausgewogener ist diese Bilanz bei Asylbewerbern. Diese schließen erst nach 13 Jahren zum einheimischen Arbeitsmarktniveau auf, und ihr Beitrag zum Sozialsystem wird ihren noch niedrigeren Qualifikationsniveaus entsprechend geringer sein. Das sozialstaatliche Kooperationsverhältnis wird dadurch auf die Probe gestellt. Als 2015 Hunderttausende Flüchtlinge nach Deutschland drängten, wurde diese Entwicklung von den bereits hier lebenden Migranten nicht etwa wegen der kulturellen und religiösen Nähe zu den Betroffenen begrüßt, sondern eher mit Sorge betrachtet.

Diese Sorge galt – nicht nur bei ihnen – dem drohenden verschärften Wettbewerb auf dem gemeinsamen Arbeitsmarktsegment und der Konkurrenz bei der gerechten Verteilung sozialer Lasten und Leistungen sowie der Befürchtung, dass diese Leistungen schrumpfen könnten.

Keine Gestaltungsideen bei der Linken

Deshalb verwundert es, wenn vor allem die Parteien der Linken der verstärkten Einwanderung und dem entsprechenden Gesetz so fraglos das Wort reden, ohne ein Programm zu ihrer Gestaltung formulieren zu können. Keines der Bundesländer, in denen sie die Regierung stellen, besticht durch erfolgreiche Antworten auf die Herausforderungen der Integration – auch sie zeigen meist ein Bild der Überforderung. Die Migration führt zu einem Druck vor allem auf die unteren Beschäftigungssegmente, zu einer verstärkten Konkurrenz auf dem vor allem in Ballungsgebieten knappen Markt preiswerter Wohnungen und zur Entwicklung entsprechender Einwanderermilieus in den Quartieren großer Städte.

Eine gesellschaftliche Se­gregation ist die Folge, die noch dadurch verstärkt wird, dass Schulen mit einem hohen Anteil an migrantischen Kindern ihre Integrationskraft verlieren, weil sie materiell und personell dieser Aufgabe nicht gewachsen sind und diejenigen, die es sich leisten können, ihre Kinder auf andere Schulen schicken. Spätestens wenn der Arbeitsmarkt als Integrationsmotor ins Stocken gerät oder für manche Gruppen ganz ausfällt, verfestigen sich Parallelgesellschaften.

Wechselseitige Vertrautheit

Die größere Heterogenität einer migrantischen Gesellschaft geht einher mit einem geringeren Maß an sozialem Vertrauen, und diese Ressource schwindet umso mehr, je segregierter die Milieus sind. Der britische Migrationsforscher David Miller sieht daher einen „Zielkonflikt zwischen mehr Einwanderung und der Schaffung oder Bewahrung eines starken Wohlfahrtsstaats“. Denn die Bereitschaft zum solidarischen Handeln hänge auch von der wechselseitigen Vertrautheit und einem historisch gewachsenen Zusammengehörigkeitsgefühl ab.

Schaut man sich gewachsene Einwanderungsgesellschaften wie etwa die britische an, so muss man feststellen, dass die multikulturelle Kultur eher eine der Gruppenbezogenheit und -abgrenzung ist. Die Identität des eigenen ethnischen, religiösen Kollektivs ist ein größerer Quell der Anerkennung als die wechselseitige diskursive Begegnung als Bürgerinnen und Bürger einer Republik. Weniger Solidarität wird geübt, es werden vielmehr rechtliche Ansprüche artikuliert, die sich aus der Diskriminierung des eigenen Kollektivs herleiten, und ein Anspruch auf entsprechende Präsenz und Repräsentanz in öffentlichen Institutionen und Diensten wird erhoben. Dem entspricht ein liberales Demokratieverständnis, das den Staat vornehmlich an den Freiräumen, die er ermöglicht, misst und weniger Wert auf republikanische Teilhabe legt.

Wohlfahrtsstaat mit rigider Migrationspolitik

Alle klassischen Einwanderungsländer sind marktliberale, mit einer nur rudimentär ausgebildeten wohlfahrtsstaatlichen Architektur. Reiht sich Deutschland in diese Gruppe ein, wird der Druck steigen, sein sozialstaatliches Gefüge entsprechend umzugestalten. Eine international vergleichende Studie des Institute of Labor Economics zeigt, dass die Bereitschaft zu einer Politik der Umverteilung umso stärker zurückgeht, je mehr der Anteil der Eingewanderten in einer Region zunimmt.

Am deutlichsten lässt sich das dort beobachten, wo der Sozialstaat besonders stark ausgebaut ist: in Regionen skandinavischer Länder und in Frankreich. Vor allem der Blick auf die skandinavische Entwicklung dürfte für die deutsche Einwanderungspolitik lehrreich sein. Die dortigen Länder waren einst das Leitbild gelingender Wohlfahrtsstaatlichkeit und jahrelang bekannt für eine großzügige humanitäre Migrationspolitik. Der wachsende Unmut über die sozialen Konsequenzen dieser Politik trug wesentlich zu einem Rechtsruck der Gesellschaften und einem Erstarken rechtspopulistischer Gruppierungen und Parteien bei.

Dänische Weltoffenheit und Toleranz

Den sozialdemokratischen Parteien in Schweden und zuletzt in Dänemark gelang es erst, diesen Trend umzukehren, als sie ihre klassische wohlfahrtsstaatliche Politik mit einem rigideren Kurs in der Migrationspolitik verbanden. In einer vergleichenden Studie der Wählererwartungen und der sozialdemokratischen Politik in Dänemark und Deutschland ist die Friedrich-Ebert-Stiftung zu einem erhellenden Befund gekommen: „Ein klarer Kontrast zwischen den Wahlgewinnern aus Dänemark und der SPD zeigt sich in der Frage der Bürgernähe ihrer Angebote in den Bereichen Kriminalitätsbekämpfung und Migrationspolitik.

In diesen Bereichen sind die Unterschiede in der Bürgernähe der beiden Parteien am deutlichsten.“ Diese Unterschiede beruhten nicht etwa auf unterschiedlichen Erwartungshaltungen der deutschen und dänischen Gesellschaften in diesen Fragen. Den Werten der Weltoffenheit und Toleranz messen die dänischen Bürger sogar einen höheren Stellenwert bei als die Deutschen. Gleichzeitig befürworte aber eine knappe Mehrheit der Dänen von 52 Prozent eine Begrenzung der Zuwanderung und wisse sich darin mit der Socialdemokratiet einig.

Linker Zerissenheitskampf

Fazit der Studie: „In Deutschland fällt die Forderung nach stärkerer Zuwanderungskontrolle mit 60 Prozent sogar noch etwas stärker aus als im Nachbarland. Selbst 55 Prozent der (verbliebenen) SPD-Wähler votieren dafür – aber diese Bürger sehen sich darin nicht von der SPD unterstützt. Von der SPD nicht repräsentiert fühlen sich insbesondere wiederum die unteren sozialen Schichten, die sich schon bei der Agendapolitik zu kurz gekommen sahen. Ihre Forderung nach stärkerer Zuwanderungskontrolle als Ausweis von Fremdenfeindlichkeit zu interpretieren, wie dies in manchen SPD-Kreisen üblich ist, übersieht die ungleiche Lastenverteilung der Migrationspolitik.“

Der Preis, den die Socialdemokratiet für ihre Kurs­änderung zahlte, war der Verlust eines Teiles ihrer liberal gesinnten Anhängerschaft. Die deutschen Parteien der Linken, voran die SPD, kämpfen seit Jahren mit der gleichen Zerrissenheit, ohne ein Konzept für das Einwanderungsland Deutschland formulieren zu können, das bei der Mehrheit der Bevölkerung und in der eigenen Anhängerschaft in den unteren sozialen Schichten eine Unterstützung findet. Erst mit einem solchen Konzept, das nicht nur die Migranten und deren Integration, sondern gleichermaßen den Zusammenhalt der Gesellschaft und dessen Sicherung in den Blick nimmt, kann aus dem „Einwanderungsland Deutschland“ ein positives Selbstbild seiner Gesellschaft werden.

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

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