Flüchtlingskrise - Fünf verschenkte Jahre

Das politische Klima in Deutschland hat sich in den letzten fünf Jahren deutlich gewandelt, eine Wiederholung von 2015 will niemand mehr. Aber was haben die politischen Akteure dafür getan, dass sich das Chaos von 2015 nicht wiederholt?

Griechische Polizisten am Grenzübergang Pazarkule / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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"Humanität und Ordnung müssen zusammengehen … Deutschland muss sich unverzüglich vorbereiten, die Griechen an der Grenzsituation zu unterstützen, damit sich die Zustände von 2015 nicht wiederholen." Von wem stammen diese Worte? Weder von der CDU noch von der CSU, und auch nicht von der AfD. Nein, gesagt wurden sie gestern Abend bei ZDF direkt von Annalena Baerbock, Vorsitzende von Bündnis90/Die Grünen.

2020 ist nicht 2015. Das kollektive “Refugees Welcome” von damals ist dem “2015 darf sich nicht wiederholen” gewichen. Denn Angela Merkels Entscheidung von 2015, die Grenzen nicht zu schließen, hat das Land in eine Identitätskrise gestürzt und tiefe Furchen in der politischen Landschaft hinterlassen: Der politische Aufstieg der AfD zur systemdestabilisierenden Kraft ist die sichtbarste.

"2015 darf sich nicht wiederholen" hat "Refugees Welcome" ersetzt

Angela Merkel selbst hatte schon auf dem CDU-Parteitag 2016 den Richtungswechsel eingeläutet. Aus “Wir schaffen das” wurde der Satz: “Eine Situation wie die des Spätsommers 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen.” Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Belastungen ihres Alleingangs für die deutsche Gesellschaft, aber auch für die EU waren zu groß gewesen - das musste Merkel erkennen.

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Und die Erkenntnis ist innerhalb der letzten fünf Jahre bis in die Mitte und weiter nach links durchgesickert. Der CDU-Innenexperte Armin Schuster schrieb gestern auf Twitter: “Die EU wird es erst kapieren, wenn die Bundesregierung definitiv erklärt, dass wir Flüchtlingen nicht wieder im Alleingang helfen, Zurückweisungen an deutschen Grenzen dieses Mal also möglich sind. Eine politische Mehrheit für diese Haltung sehe ich heute.” Diese politische Mehrheit war 2015 nicht da. Eine überwältigende Mehrheit des politischen Personals und der Medien ließ sich damals bereitwillig von der “Refugees Welcome”-Welle mitreißen.

Gleichwohl gibt es es angesichts der drohenden Wiederholung von 2015 auch 2020 noch immer deutliche politische Unterschiede: Grünen-Chefin Baerbock sagte im ZDF-Interview auch, die Flüchtlinge müssten an der griechischen Grenze registriert werden und von “den Ländern, die dazu bereit sind”, darunter Deutschland, aufgenommen werden. Von einem allgemeinen “Lasst sie kommen - wir schaffen das” wie 2015 ist das dennoch weit entfernt.

Merkel und die EU haben Zeit gekauft

Aber was wurde eigentlich politisch getan, um eine Wiederholung der chaotischen Einwanderungswelle von 2015 zu verhindern? Die Antwort lautet: zu wenig. In erster Linie erkauften sich Bundesregierung und EU Zeit. Und verschlossen die Augen vor unausweichlichen Entwicklungen.

Angetrieben von Berlin erkaufte sich die EU Zeit mit dem EU-Türkei-Flüchtlingspakt, der Millionen Menschen aus Syrien, aber auch aus Afrika, Afghanistan oder dem Iran in türkischen Lagern “parkte” - mit Milliarden Euro finanziert von den EU-Ländern. Eben diese Menschen sind es, die jetzt von Erdogan mit Bussen an die Grenze gekarrt werden. Dies übrigens ein Missverständnis, das derzeit in den Medien zu oft kolportiert wird: Der Großteil derer, die jetzt versuchen, über die griechische Grenze in die EU zu kommen, sind keineswegs “Idlib-Flüchtlinge.”

Die EU verschloss in großer Passivität die Augen vor dem unausweichlichen letzten Akt im syrischen Bürgerkrieg: Seit die Russen mit großer militärischer Brutalität das Blatt zugunsten von Präsident Assad wendeten, läuft alles auf eine Endschlacht um die Provinz Idlib zu, in die sich über die letzten Jahr die sehr radikalen und die weniger radikalen Gegner von Assad zusammen mit ihren Familien zurückgezogen hatten. Der türkische Einmarsch in die Region hat diese Entwicklung etwas gebremst, aber es ist klar, dass Assad mit russischer Unterstützung das Gebiet um jeden Preis zurückerobern will.

Kein Ersatz für Dublin in Sicht

Über all die Jahre ist es den EU-Mitgliedsländern auch nicht gelungen, eine tragfähige Neuregelung der Migrationspolitik zu finden, die das de facto tote Dublin-Abkommen ersetzen könnte. Insbesondere die osteuropäischen EU-Mitglieder verschlossen und verschließen sich jeglichen obligatorischen Schlüsseln für die Verteilung von Flüchtlingen. Auch diese Blockade-Politik ist eine Folge der Verwerfungen von 2015, als die Vorstellungen von einem vernünftigen Umgang mit Migrantenströmen insbesondere zwischen Deutschland und einem guten Teil der EU-Länder auseinanderdrifteten.

Dies alles mag ein Grund dafür sein, dass Angela Merkel in den letzten Tagen, während sich die Situation auf den griechischen Ägäis-Inseln und an der türkisch-griechischen Grenze  zuspitzt, die Antwort darauf schuldig bleibt, wie Deutschland nun agieren soll. Das Chaos von 2015 soll sich nicht wiederholen. Das ist aber keine Antwort auf die Frage, was nun zu tun ist.

 

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